Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel sagte ihr, dass
sie umwerfend aussah. Sie hatten dieses Date lange geplant und sie wollte heute
nichts dem Zufall überlassen, alles sollte perfekt sein. Schliesslich traf sie
auch Mister Perfekt. Sie hatte ihn vor etwa einem Jahr im Chat kennen gelernt.
Aus einer anfänglichen Symphatie wurde eine leidenschaftliche Chataffäire,
allerdings beschränkten sich ihre Kontakte auf den Chat, Emails und
gelegentlich eine SMS. Er war genau ihr Typ, leidenschaftlich, witzig, charmant,
gutaussehend und und und... Gab es überhaupt etwas an ihm auszusetzen? Ihr fiel
nichts ein.
Er sass mit seinem Kumpel an der Bar und bestellte noch
einen Wodka. Kein Problem, sein Kumpel würde ihn zu seinem Date fahren, die
letzten Meter würde er laufen. Er wusste, dass er heute besonders gut aussah.
Die Frau, die er treffen wollte war eine Traumfrau, da wollte er vorbereitet
sein und in nichts nachstehen. Na gut, er kannte sie nur aus dem Chat, aber so
wie er sie kannte gefiel sie ihm. Sie war genau sein Typ, leidenschaftlich,
witzig, charmant, gutaussehend und und und... Gab es überhaupt etwas an ihr
auszusetzen? Ihm fiel nichts ein.
Sie freute sich auf ihn. Seit fast einem Jahr bewunderte und
begehrte sie ihn. Jedes Mal, wenn er den Chat betritt schlägt ihr Herz im
Dreieck. Sie vergisst die Welt um sich herum und lebt nur noch in der
Cyberwelt, mit ihm! Und wenn sie dann im Bett liegt kann sie vor Glückseligkeit
lange nicht einschlafen. Er ist einfach umwerfend, das Date war lange
überfällig.
Er rief sich immer wieder ihr Bild ins Gedächtnis, die
strahlenden Augen das Lächeln. Nein, keine andere Frau hatte ihn je im Chat so
betört, so rasend vor Leidenschaft werden lassen. Er hatte eigentlich selten
Zeit zum chatten, aber wenn, dann suchte er nur nach ihr. Er verzehrte sich
nach ihr. Nach einer durchchatteten Nacht lag er oft stundenlang wach, an
Schlaf war nicht zu denken. Er steckte in Gedanken immer noch steinhart in ihr.
Warum ich? Sie stellte sich diese Frage immer häufiger in
letzter Zeit. Ein so toller, perfekter Typ der praktisch jede Frau haben kann,
kein Zweifel. Vielleicht meint er gar nicht mich sondern „Libelle“ mein Nick im
Chat, dachte sie. Ja, im Chat kann man sich hinter einem Nick verstecken und
seinem Gegenüber sonst etwas vorgaukeln, das ist einfach so. Und sie ertappte
mich immer öfter dabei ihm Dinge zu sagen, die sie sonst nie sagen würde. Sie
hatten nächtelangen Cybersex der weit an der Realität vorbeiging. Aber wenn sie
sich so gab, wie sie wirklich war, dann, so fürchtete sie, war sie für ihn
uninteressant. Was, wenn er heute genau diese Dinge einfordern würde, die sie
real nicht zu geben bereit war? Zweifel überkamen sie. Sie setzte sich vor
einen Kosmetikspiegel und legte letzte Korrekturen an ihrem Make up an.
Was habe ich was andere Männer nicht haben, warum ich? Zum
wiederholten male ging ihm diese Frage durch den Kopf. Warum hat so eine tolle,
perfekte Frau ausgerechnet auf ihn gewartet, und dazu noch virtuell. Meine
Güte, die kann doch Jeden haben. Was, wenn sie gar nicht auf ihn sondern auf
„Magier“ wartet, also auf einen Nick, den es so gar nicht gibt. Im Chat ist
alles so einfach, man kann lügen ohne rot zu werden. Die Buchstaben auf dem
Bildschirm sind geduldig, sie verraten nichts über die wahre Identität des
Absenders. Und er hatte wirklich das ein oder andere mal genau das
gesagt/geschrieben, was sie hören/lesen wollte. Die Wahrheit lag mitunter weit
davon entfernt. Verlegen schüttelte er den Kopf aber er fand keine Antwort.
Sie stand im Flur, fertig zur Abfahrt, den Autoschlüssel in
der Hand. Sie hatten sich auf halber Strecke verabredet, es lagen also gut 100
km vor ihr. Was, wenn er nicht kommt weil er es sich anders überlegt hat? Warum
sollte er sich ausgerechnet mit ihr treffen wollen? Bestimmt kommt er nicht
oder nur aus Höflichkeit um ihr zu sagen „sorry, du bist doch nicht mein Typ“.
Aber das wäre fatal, das würde sie zutiefst in ihrer Eitelkeit verletzen. Sie spielte mit dem Autoschlüssel in der
Hand und wippte unruhig in ihren viel zu hohen Stöckelschuhen.
Er sah in sein leeres Wodkaglas und orderte unverzüglich ein
neues. Nein, er würde sich nicht betrinken, nur seine Zweifel hinunterspülen.
Er war sich nämlich immer noch nicht sicher, ob er dieses Date wahrnehmen
sollte. Sie konnte es sich ja anders überlegt haben und ihn gar nicht wollen.
Unruhig sah er auf seine Uhr, wenn er pünktlich sein wollte, dann mussten sie
jetzt los.
"Wenn ich jetzt zu diesem Date fahre, dann weiss er wie
verrückt ich nach ihm bin. Und wenn er mich abweist, weil ich real dann doch
nicht seinen Vorstellungen entspreche, das wäre eine Katastrophe", ihre Gedanken
drehten sich im Kreise. Sollte sie dahin fahren 100 km nur um sich einen Korb
abzuholen?
Wenn er jetzt zu diesem Date fährt, dann bildet sie sich
vielleicht etwas drauf ein, dann weiss sie, wie sehr ich sie begehre. Aber
vielleicht will sie mich „live und in Farbe“ gar nicht. Soll ich mir eine
Niederlage abholen? Ein letzter Schluck aus dem Wodkaglas und ein
Kopfschütteln.
Sie dachte daran, das Date per SMS aus einem erfundenen
Grund abzusagen, aber das würde er durchschauen und er würde sich kaputtlachen
über ihre Ängste und Zweifel.
Sollte er ihr eine SMS schicken und etwas von Zahnschmerzen
schreiben? Nein, sie würde die Lüge sofort erkennen und sein Image bei ihr wäre
verloren.
Das Restaurant war brechend voll, nur ein Tisch mit einem
kleinen Schild „reserviert“ war frei. Der Kellner sah auf seine Uhr und
grummelte „45 Minuten drüber, da kommt wohl keiner mehr“. Dann nahm er das
Schild weg.