Matthias Wenger

Anmut

Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll.
 
Du bist die Ruhe, die in mich einkehrt, die mich zum Bleiben veranlasst, wo immer ich auch sein mag. Das Bedürfnis, etwas sagen zu müssen, etwas tun zu müssen, verschwindet, so wie die Hektik des Alltags plötzlich für eine kurze Zeitspanne nachlässt und der tiefen inneren Gelassenheit weicht.
Ein Brunnen, dessen Tiefe niemand auch nur erahnen kann. Seine Stille ist die Meine, egal ob wir uns unterhalten oder zusammen schweigen. Nicht gegeneinander schweigen, wie es sonst so oft passiert bei Menschen.
 
Du bist die Hoffnung, die mich aus lichtlosen Tiefen wieder hinaufführt, wo immer ich auch sein mag. Wie ein Wanderer, der sich im Nächtlichen Forst verirrt und durch ein geheimnisvolles Licht wieder auf den Weg zurückgewiesen wird. Denn so dunkel kann nichts sein, dass es dein helles Leuchten, ob nah oder fern, überdeckt. Und wenn es leuchtet, so weist es in die Richtung, die meine Heimat ist. Und je länger der Weg ist, desto schöner ist die Heimkehr.
 
Du bist die Anmut, die ewige Anmut, die nicht von der Zeit des Menschen erschaffen ward.
Nicht die Hülle, für die Außenwelt gebildet und aufgebaut mit tausend Tränen. Denn dein inneres Drängen war stärker, hat die Schmutzmauern deiner Seele eingerissen und dir Schmerzen bereitet. Doch es hat dich auch befreit. Und verletzlich gemacht. Ich weiß, dass ich ein reines Herz niemals verletzen darf, denn ohne den Schutz der Gleichgültigkeit ist es der Welt ausgeliefert.
 
Ist es nicht der Mensch, der die Ruhe zerstört? Der nicht akzeptiert, was ist, auf Entwicklung setzt.
 
Ich will dir keinen Namen geben. Wenn ein Wald einen Namen bekommt, so werden am nächsten Tag Holzfäller kommen und ihn roden. Denn Namen werden von Menschen verteilt, die Namenloses und Ewiges zu Besitztum und Reichtum wandeln wollen.
 
Also nenne ich dich Anmut, oder die Stille.
Das Rauschen des Waldes hat keinen Namen, denn es war lange vor dem Menschen.
 
Anmut und Stille passen sich nicht an. Sie sind. Sie waren, und werden ewig sein, und ich bin in ihnen geboren worden und werde mit ihnen sterben.
 
Wo und wann haben wir sie verloren und vergessen, die Säule des Lebens? Auf der Suche nach etwas, das uns von ihr entfernt hat, sind wir nicht fündig geworden. Tausend Königreiche sind vergangen und haben keinen einzigen Schritt in die richtige Richtung getan. Denn es gibt nur die eine Säule.
 
Anmut und Stille, oder Hoffnung, so nenne ich dich. Ich bin Deiner teilhaftig und ich trauere mit Dir.
Denn die Sucher haben sich abgewandt, sie sind mit eisernen Waffen zurückgekehrt, um die Säule zu zerstören. Voller Hass waren sie auf das, was sie nicht verstanden, weil sie es nicht verstanden.
 
Ich verstehe nicht, ich fühle jetzt. Verstehen heisst Namen verteilen, aber die Säule hat keinen Namen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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