Isabelle Lenk

“California here we come“...oder mein neues Leben Part 1

„Möchten sie etwas trinken, Miss?“, fragte eine blonde Stewardess freundlich.
„Ich nehmen ein Mineralwasser und du, Grace?“, wollte ich von meiner Zwillingsschwester wissen, doch sie sah völlig starr aus dem Fenster und schwieg. „Ich glaube sie nimmt nichts.“, sagte ich und schickte die Stewardess weg.
„Grace, rede mit mir! Ich weis, dass es schwer ist, aber in knapp zwei Stunden sehen wir Dad zum ersten Mal. Ich meine, was willst du tun? Du musst was sagen!“
„Ich weis“, meldete sie sich zu Wort. „und ich versuche ja schon das alles irgendwie zu verarbeiten, aber es ist noch zu frisch: Moms Tod, der Umzug von London nach Kalifornien, was soll ich sagen? Megan, Mom ist tot und als wäre das nicht genug, ziehen wir auf einen anderen Kontinent. Das macht mich fertig! Ich kann nicht anders.“ Sie weinte und ich nahm sie in den Arm.
„Ist ja gut, Kleine. Ich weis wie unwirklich das ist. Glaub mir, ich weis es!“
Ich sah aus dem winzigen Fenster des Flugzeuges. Unter mir lag Amerika. Für die meisten bedeutete dieses Land Freiheit, Erfolg und Reichtum. Für mich war es nur das Land meines Vaters, den ich nicht kannte und der von der Existenz seiner Töchter auch erst seit ein paar Wochen wusste. Es war unwirklich, ja sogar verrückt, wenn man näher darüber nachdachte: Mom war tot, an inneren Verletzungen gestorben, als ihr ein Lastwagen in die Seite ihres Wagens gefahren war. Sie mussten sie aus dem Auto schneiden und jetzt sollten wir zu einem wildfremden Menschen ziehen. Wann war das alles passiert? Etwa letzten Monat, als ich noch glaubte in Mathe durchzufallen? Ich hatte mich bestimmt tausend Mal gefragt, was wohl passiert wäre, wenn Mom an diesem Dienstag fünf Minuten später zur Arbeit gefahren wäre. Wäre ich dann vielleicht in Mathe durchgefallen und Mom wäre noch bei uns? Das wäre eindeutig die bessere Variante gewesen.
Graces Weinen ging in ein Schluchzen über, bis sie schließlich einschlief. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte so weinen können wie sie, so trauern können. Aber das ging nicht. Ich hatte es versucht, doch ich war wie gelähmt, seit ich von Moms Tod in dem Büro meines Rektors erfahren hatte. Seitdem war ich irgendwie kleiner geworden. Ich hatte das Gefühl jeden Tag ein Stück mehr zu schrumpfen. Vielleicht war ich irgendwann ganz weg? Im Moment wäre das wahrscheinlich genauso verrückt gewesen, wie die Tatsache in einem anderen Land bei einem Fremden zu wohnen. Ich hatte immerhin mein ganzes bisheriges Leben in London, in einer Dachgeschosswohnung auf der Picadilly Road verbracht. Nicht weit entfernt vom Kensington Park und Harrods. Ich liebte diese Stadt, diesen Kontinent. Viele Besucher Londons halten es für chaotisch wegen der ganzen Busse und Taxen und dem ewigen Stop and Go. Ich empfinde es als beruhigend. London ist geordnet und hat eine Art verborgenen Stil, den man nur erkennt, wenn man genauer hinsieht. Ich fühlte mich dort immer sicher und geborgen. Um so mehr Angst hatte ich nun vor dem sogenannten Newport Beach. Ich hatte es zu Hause auf der Landkarte gesucht, nachdem ich erfahren hatte, dass wir dort die nächsten Jahre unseres Lebens verbringen sollten. Es war ein kleiner Vorort von Los Angeles, der zwischen Huntington und Laguna Beach lag. Doch mehr konnte ich mir unter diesem Ort auch nicht vorstellen. Das einzige, was ich über Kalifornien wusste, war, dass es dort fast nie schneite. Ein guter Grund misstrauisch zu sein.
Das Flugzeug setzte zur Landung an und Grace wachte wieder auf. Wir legten unsere Sicherheitsgurte an und ich packte ein paar CDs in meinen Rucksack, die ich auf dem Flug angehört hatte.
Als wir das Flugzeug verließen waren schon fast alle anderen Passagiere ausgestiegen, hinter uns liefen nur noch die Stewardessen und Piloten. Dieser langsame und vorsichtige Schritt von Grace und mir hatte sich automatisch eingestellt, seit nach der Landung durch die Lautsprecher verkündet wurde, dass wir in den Vereinigten Staaten von Amerika wären.
Auch wenn wir beide wussten, dass, egal wie langsam wir liefen, das Treffen mit unserem Erzeuger unausweichlich war, wollten wir es doch noch nicht wahrhaben. Langsam gehen war einfach ein Schutzmechanismus, ob er nun funktionierte oder nicht.
Wir erreichten die Eingangshalle und sahen uns um. Ich war gespannt, aufgeregt, aber hatte auch furchtbare Angst. Wir hielten nach einem Schild oder irgendeinem anderen Zeichen Ausschau, weil wir weder wussten wie er aussah, noch was er trug. Er fand uns schließlich zuerst, was ja nicht besonders schwer war, wenn man wusste, dass seine Töchter Zwillinge waren und Grace und ich sahen uns ähnlich, wenn auch nicht mehr so sehr wie früher.
„Megan? Grace?“, fragte er vorsichtig. Seine Stimme klang etwas heißer.
Wir drehten uns um und da stand er. Dad, unser Erzeuger. Er trug ein Poloshirt, was mich wunderte, aber ich hatte gehört, dass die Amerikaner es auch trugen, wenn sie kein Polo spielten oder besser gesagt, sie spielten überhaupt kein Polo. Dazu trug er ausgewaschene Jeans und Leinenschuhe. Er sah aus, wie jemand, der Ferien machte.
„Hi, ähm... Dad?“, sagte ich unsicher und wurde rot. Wie sollte ich ihn nennen. Das Wort „Dad“ erschien mir irgendwie unangebracht.
„Ähm... nenn mich einfach Sam, okay?“, sagte er und lächelte unsicher.
Ich nickte und er blickte zu Grace.
„Dann bist du wohl Grace?“
Sie nickte abwesend. Ich war erstaunt. Woher wusste er, wer wer von uns war? Er hatte weder ein Foto noch sonst irgendetwas gehabt. Er kannte nur unsere Namen. Ich weis bis heute nicht, wie er das damals wusste. Vielleicht war es so was wie väterliche Eingebung?
Wir holten unser Gepäck und gingen dann schweigend zum Auto. Ich hätte vielleicht ein Thema angeschnitten, wenn ich nicht zu müde gewesen wäre. Ich schlief noch im Auto ein, obwohl es hier in Kalifornien gerade mal drei Uhr nachmittags war. Ungefähr eine Stunde später kamen wir in Newport an. Wir fuhren am Meer entlang, in eine Villensiedlung und schließlich eine Auffahrt hinauf. Das Haus sah riesig aus. Sam lud unsere Sachen aus und trug sie hinein. Grace und ich gingen hinter ihm her, wieder in diesem langsamen Schritt.
„Kommt, ich zeige euch euer Zimmer!“, sagte er und wir wurden einen Schritt schneller. Wir stiegen zwei Treppen hinauf und befanden uns dann im Dachgeschoss, dass offenbar bisher als Abstellkammer gedient hatte. Überall auf dem Holzfußboden waren helle und dunkle Stellen, die die Spure der abgestellten Sache zeigten. Außerdem roch es noch ziemlich modrig. Ansonsten war es ein riesiger Raum, bestimmt 30 Quadratmeter. Die Wände waren weis und besonders viel stand auch nicht drin. Da waren zwei Betten, zwei Nachtschränkchen, zwei Schreibtische und zwei Schränke. Aber alles sah aus, wie neu gekauft. Wir sahen uns um.
„Also ihr wollt euch bestimmt erst mal ein bisschen ausruhen und auspacken. Ich lass euch dann mal alleine. Ihr könnt euch  später noch den Fernseher aus dem Keller hier hoch holen, wenn ihr wollt. Ich wusste nicht genau...deswegen steht erst mal nur das Nötigste drin.“, sagte Sam.
„Danke.“, erwiderte ich und er verschwand.
Grace setzte sich vorsichtig auf das Bett. Ich wusste was sie dachte, nämlich dasselbe wie ich. Die Tatsache, das wir gerade in einem Zimmer saßen, was für mehrere Jahre unser zu Hause sein sollte, in dem wir uns aber nicht annähernd wohl fühlten, war erschreckend. Die Möbel waren neu und sahen ordentlich aus, aber für meine Schwester und mich wirkte dieser Raum trotzdem verdammt dreckig und fremd. Ich blieb sogar stehen, weil ich mich einfach nicht auf das Bett setzen konnte. Es erschien mir zu schmuddelig. Ich lief von einer Seite des Zimmers zur nächsten und sah mich weiter um. Alle Möbel waren aus sehr dunklem Holz, vielleicht Mahagoni oder Kirsche. Der Fußboden war ein bisschen heller. Ich sah an die Decke. An der Stelle, wo die Dachbalken zusammen liefen, hatten sich schon mehrere Spinnennetze gebildet, die sich um die Säulen, die das Dach stützten windeten. Noch ein paar Jahre länger und sie hätten wahrscheinlich den Boden des Zimmers erreicht. Wie ich die Nacht hier verbringen sollte, war mir ein Rätsel. Spinnen kamen gleich nach Schlangen, auf meiner Liste der ekligsten Tiere.
„Na super! Fehlt nur noch, dass wir hier irgendwo Kakerlaken finden!“, sagte Grace und stand vom Bett auf, um ihren Koffer aufzumachen.
„Ich glaub ich kann hier nicht schlafen.“, sagte ich und kam zu ihr zurück.
„Da wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben.“
Ich war erstaunt. Meine Schwester schien weniger von diesem Zimmer schockiert zu sein, als ich. Widerwillig öffnete auch ich meinen Koffer, holte ein paar Sachen heraus und verstaute sie in dem Nachtschrank. Ich war noch nicht bereit irgendwelche Klamotten in den riesigen Kleiderschrank zu tun. Auf dem Bett lag sogar Bettwäsche für uns. Auch das war eine weitere Überwindung. In fremder Bettwäsche zu schlafen. Aber ich hatte auch keine eigene mit, also fing ich an das Kissen zu beziehen, auch wenn es noch ungewiss war, ob ich darin schlafen würde.

. . .

Als es langsam Abend war, getraute ich mich aus meinem Zimmer und wagte mich in die unterste Etage. Grace war auf dem Bett eingeschlafen, zu erschöpft von dem Flug. Sam fand ich im Wohnzimmer. Er sah gerade Fern. Die Abendnachrichten. Vom Wohnzimmer ging eine Tür auf die Terrasse und zum Pool. Dahinter konnte man in der Ferne das  Meer erkennen. Es war diesig am Horizont. Das hieß für gewöhnlich gutes Wetter für den nächsten Tag. Die Sonne stand noch relativ hoch. „Hey, Und? Konntet ihr euch ein bisschen einrichten?“, fragte Sam und schaltete den Fernseher aus. Ich nickte. Ich konnte ihm unmöglich sagen, dass ich mich in diesem Zimmer wahrscheinlich zu Tode ängstigen würde. Schon allein wegen der Spinnen.
Eine Weile standen wir schweigend da. Was hatten wir uns auch groß zu sagen? Er hätte mir sein Beileid aussprechen können, aber ich hätte es sowieso nicht ernst genommen. Für mich waren diese Bekundungen zu einer Formalität geworden, auch wenn ich dabei immer noch diesen Kloß im Hals verspürte. Statt dessen meinte er: „Wollt ihr vielleicht etwas essen?“
„Nein, danke. Ich bin müde. Ich wollte mich bloß mal im Haus umschauen.“, gab ich zurück. Er wirkte enttäuscht.
„Ich weis, es ist sehr groß. Aber ihr werdet euch bestimmt schnell zurecht finden. Ich denke alles weitere können wir dann in den nächsten Tagen besprechen. Ihr müsst euch sicher erst mal erholen.“
Ich nickte und ging wieder in Richtung Treppe. Alles weitere? Wahrscheinlich ging es um die neue Schule, Ausgehzeiten und so was.
Als ich wieder im Zimmer war, lag alles schon ein wenig im Dunkeln. Die Sonne schien jetzt genau auf die Seite des Daches, auf der kein Fenster vorhanden war. Ich zog mich nicht um, sondern legte mich einfach so in mein neues Bett. Ich versuchte zu schlafen, ohne dabei an die Spinnen zu denken, aber es klappte nicht. Wenn ich gerade nicht daran dachte, stieg mir der Geruch der Bettwäsche in die Nase. Sie war frisch gewaschen, keine Frage. Aber sie roch fremd. Sie roch nicht nach London, nicht nach meiner Heimat. Wie konnte sie auch? Sie roch einfach nach Newport, nach etwas Unbekanntem, Fremdem. Irgendwann, nach mehr als vier Stunden schlief ich schließlich ein, wenn auch nur, weil ich weinte und dann einfach zu erschöpft war, um weiter über die Spinnen und die Bettwäsche nachzudenken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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