Stefan Hein
Das Vorstellungsgespräch
Gerhard Piel versuchte, gelassen zu wirken, als er Naumann in dessen Büro folgte. Gemessen an Naumanns Position - Personalchef eines Unternehmens mit über 2.500 Mitarbeitern - wirkte sein Arbeitsplatz auffallend bescheiden: kahle weiße Wände, dunkelblauer Teppich, kleiner Schreibtisch mit Flachbildschirm, eine schlichte Regalwand und zwei geschlossene Schränke.
Keine Pflanzen.
Keine persönlichen Dinge.
Hinter dem Schreibtisch hing ein modernes Ölgemälde, dessen muntere Farbigkeit jedoch nicht ausreichte, um die sterile Atmosphäre merklich aufzulockern. Welch einen Kontrast bot dieses Büro zur protzigen, hypermodern gestalteten Eingangshalle des Firmengebäudes mit seinen Marmorfassaden und dem Springbrunnen in der Mitte.
Auf der Arbeitsfläche des Schreibtisches lag nur ein einziges Dokument: ein roter Aktenordner, sauber im Zentrum positioniert und streng parallel zur Tischkante ausgerichtet. Piel vermutete, dass sich hierin seine Bewerbungsunterlagen befanden. „Bitte nehmen Sie Platz.“
Naumann deutete auf den schwarzen Armlehnstuhl gegenüber seinem Schreibtisch, und Piel setzte sich artig. Auch der Personalchef ließ sich nieder und öffnete den Ordner. Auf Piel wirkte Naumann genauso unpersönlich wie dessen Büro: ein mittelgroßer, gepflegter Mann mit sauber gescheiteltem Haar, vielleicht Ende 40 oder Anfang 50, dunkelblauer Anzug, angegraute Schläfen. Keine auffälligen Merkmale. Kein Lächeln. Er hatte Piel persönlich am Empfang abgeholt und seitdem kein überflüssiges Wort gesprochen.
„Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Cola?“
„Kaffee bitte.“ Piel spürte, dass sein Mund ganz trocken war. Er brauchte Flüssigkeit, und zwar dringend. Naumann tippte auf einen Knopf seiner Gegensprechanlage. „Frau Torricelli, bitte zwei Tassen Kaffee. Danke.“
Für einige Sekunden herrschte ein unangenehmes Schweigen, das Piel nicht zu durchbrechen wagte. Stattdessen ließ er seinen Blick scheinbar unbekümmert über die wenigen Aktenordner gleiten, die ordentlich beschriftet in der offenen Regalwand standen.
„Hatten Sie eine problemlose Anreise?“ fragte Naumann schließlich.
„Ja. Ich bin mit meinem Wagen gekommen, musste etwa 120 Kilometer zurücklegen. Das Firmengebäude habe ich auf Anhieb gefunden. Ist ja auch nicht zu übersehen.“ Piel lächelte, doch der Personalchef zeigte keine Spuren von Erheiterung.
„Wir werden Ihnen die Fahrtkosten selbstverständlich erstatten. Hatten Sie sonst irgendwelche Auslagen?“
Ja, dieser beschissene Anzug hat mich fast vierhundert Euro gekostet.
„Nein.“
Die Tür wurde geöffnet, und eine kleine, südländisch aussehende Frau stellte ein Tablett mit Kaffeekanne, Tassen sowie Milch und Zucker auf den Schreibtisch. „Danke, Frau Torricelli.“
Sie nickte ihrem Chef zu und verschwand.
Naumann ließ einen flüchtigen Blick über den aufgeschlagenen Ordner gleiten. Piel erkannte darin das Anschreiben und den Lebenslauf, den er mittlerweile an 23 verschiedene Unternehmen geschickt hatte. Dies war sein drittes Bewerbungsgespräch. Das erste war einigermaßen katastrophal verlaufen, was nicht zuletzt an seiner Nervosität und mangelnden Erfahrung gelegen hatte. Beim zweiten Mal hatte er sich schon wesentlich souveräner gegeben, doch obwohl er noch keine schriftliche Benachrichtigung erhalten hatte, rechnete er nicht damit, angenommen worden zu sein.
Mit mechanischen Bewegungen schenkte Naumann sich und dem jungen Bewerber Kaffee ein. Nach einem vorsichtigen Schluck lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. „Herr Piel, Sie schreiben hier, dass Sie gerne für uns arbeiten möchten. Bitte schildern Sie mir Ihren bisherigen schulischen und beruflichen Werdegang.“
Piel räusperte sich.
Steht das nicht alles in meinen Unterlagen?
Bevor er antwortete, nahm einen großen Schluck von dem ungewöhnlich heißen Kaffee und verbrannte sich die Zunge.
„Gerne. Vor sieben Jahren habe ich in meiner Geburtsstadt Bremen mein Abitur gemacht. Danach kam die Bundeswehr, anschließend habe ich elf Semester Wirtschaftsinformatik in Osnabrück studiert. Ein Semester habe ich im Ausland verbracht, genauer gesagt in Boston. Zudem habe ich in den Semesterferien zwei Praktika absolviert, eines bei IBM, das zweite bei einem kleineren Softwareanbieter in meiner Heimatstadt. Im Frühjahr dieses Jahres habe ich mein Examen abgelegt. Seitdem bin ich auf Stellensuche.“
Naumann nickte stumm. Offenbar verglich er Piels Aussagen mit seinen Unterlagen. „Warum haben Sie sich gerade bei uns beworben?“
Warum nicht? Ich habe mich schließlich auch bei 22 anderen größeren Unternehmen beworben.
„Weil ich die Unternehmensgeschichte von Vogasoft seit Jahren verfolge und fasziniert bin von der Konsequenz, mit der diese Firma sich in der IT-Branche positioniert hat. Ich glaube, dass in diesem Unternehmen Kreativität und Innovationsfähigkeit eine zentrale Bedeutung besitzen. Deshalb möchte ich gerne meine theoretischen Kenntnisse hier praktisch umsetzen, um zum Erfolg des Unternehmens beizutragen.“
Klingt wie auswendig gelernt, ärgerte sich Piel insgeheim. Natürlich hatte er sich die Antworten auf bestimmte Standardfragen vorher zurechtgelegt. Er musste unbedingt versuchen, seine Texte etwas lockerer und nicht so übertrieben pathetisch vorzutragen.
„Was wissen Sie denn über Vogasoft?“
„Siegfried Meissner hat dieses Unternehmen 1985 gegründet und im Laufe der Jahre zu einer weltweit erfolgreichen Adresse im IT-Markt gemacht. Vogasoft arbeitet eng mit verschiedenen Hardwareanbietern zusammen und ist heute unter anderem für seine innovativen Internetapplikationen bekannt. Das Unternehmen ist inhabergeführt und hat bisher bewusst auf einen Börsengang verzichtet.“
Wieder nickte Naumann.
„Wo sehen Sie Ihre persönlichen Stärken? Warum sollten wir uns für Sie entscheiden?“
„Nun, meine Stärken liegen sicherlich zum einen in meiner umfassenden, aufgabengerechten Ausbildung, meinen analytischen Fähigkeiten, meinem Engagement und meinem grundsätzlichen Interesse an allen Dingen, die direkt oder indirekt mit Computern zu tun haben. Andererseits darf ich mir in aller Bescheidenheit auch eine gewisse soziale Kompetenz zuschreiben. Ich würde gerne im Team mit Gleichgesinnten zusammenarbeiten und anspruchsvolle Aufgaben in Angriff nehmen.“
„Wie äußert sich Ihre soziale Kompetenz?“
„Ich bin gerne mit anderen Menschen zusammen und nehme dabei nicht selten eine Führungsrolle ein. So spiele ich seit langem im Verein Fußball und Volleyball, habe mich während des Studiums in verschiedenen Vereinen und Gruppierungen engagiert, bei AIESEC einige Projekte geleitet und auch an einer Marketinginitiative unserer Universität mitgearbeitet.“
„Haben Sie auch Schwächen?“
War doch klar, dass diese Frage kommen würde. Jetzt bloß nichts von „Ungeduld“ daherreden, dass wäre nun wirklich zu abgedroschen.
„Sicher. Allerdings habe ich mich frühzeitig bemüht, meine Defizite zu erkennen und daran zu arbeiten. Früher fiel es mir manchmal schwer, mich länger auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren. Ich ließ mich zu schnell ablenken. Aber als Student habe ich durch gezieltes Training meine Konzentrationsfähigkeit deutlich verbessert. Heute lasse ich erst von einer Aufgabe ab, wenn sie zu meiner Zufriedenheit gelöst ist.“
„Sind Sie belastbar?“
„Diese Frage kann ich auf Grund der Erfahrungen während des Studiums sicherlich bejahen.“
„Für welche Aufgaben halten Sie sich besonders geeignet?“
Piel nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Seine verbrühte Zunge schmerzte. Er zwang sich zu einem dankbaren Lächeln, als ob er auf diese Frage sehnsüchtig gewartet hätte. Seine anfängliche Nervosität war weitgehend verflogen, und er hatte den Eindruck, das Frage-und-Antwort-Spielchen bis jetzt recht überzeugend mitgespielt zu haben.
„Ich sehe mich als vielseitig einsetzbaren Generalisten, der sich nicht nur für eine spezielle Aufgabe oder für ein spezielles Themengebiet eignet. Allerdings gibt es schon gewisse Dinge, die mich mit besonderem Interesse erfüllen. Die Entwicklung von intelligenten IT-Lösungen fasziniert mich, ich könnte mir beispielsweise gut vorstellen, ein Team von Programmierern zu leiten und koordinierend tätig zu sein. Während meiner Praktika hatte ich bereits die Gelegenheit, mich erfolgreich mit den Anforderungen der beruflichen Praxis auseinander zu setzen und selbständig Lösungen zu erarbeiten.“
Diesmal nickte Naumann nicht bloß, sondern zeigte zum ersten Mal die Andeutung eines Lächelns.
Auf dem kleinen Bildschirm, an dessen unterem Rand sich ein Schild mit der Ziffer 3 befand, war dieses Lächeln deutlich zu erkennen. Von den 25 Monitoren, die sich in dem abgedunkelten Kontrollraum befanden, waren derzeit nur vier eingeschaltet. Schirm Nummer 1 zeigte eine Totale der Eingangshalle. Verschiedene Personen, zumeist Männer in dunklen Anzügen, huschten durch das Bild. Die Monitore 11 und 12 zeigten Aufnahmen aus dem Parkhaus. Die drei Männer in dem Kontrollraum richteten ihre volle Aufmerksamkeit auf das Vorstellungsgespräch. Der Ton war laut aufgedreht, jedes Räuspern und Hüsteln im Büro des Personalchefs war deutlich zu vernehmen. Da der Kontrollraum sich im Keller befand und absolut schallisoliert war, blieb jedes Geräusch in den Mauern des fensterlosen Raumes gefangen.
Preuß war neu im Sicherheitsteam. Die beiden anderen Männer erläuterten ihm am Beispiel des Bewerbungsgesprächs die Möglichkeiten des hausinternen Überwachungssystems. Carlsson, ein gebürtiger Schwede, und Lange, ein kahlköpfiger Mann, auf dessen Glatze sich ständig Schweißperlen bildeten, waren in hellblaue Overalls gekleidet. An den Brusttaschen hingen Plastikschildchen mit ihren Namen, und auf beiden Ärmeln prangte das markante Firmenlogo von Vogasoft. Offiziell existierte weder diese Abteilung noch dieser Raum, und Preuß hatte keine Ahnung, wozu die Einheitskleidung und die Namensschilder überhaupt nötig waren. Da er selbst heute seinen ersten Arbeitstag in der Sicherheitsabteilung hatte und sein Overall noch nicht verfügbar war, trug er Freizeitkleidung.
Carlsson drehte den Ton etwas leiser, damit eine Unterhaltung möglich war. Schließlich musste der Neue in alle Aspekte seiner zukünftigen Aufgaben eingewiesen werden.
„Bewerbungsgespräche machen uns eine Menge Arbeit. Zumindest, wenn es um neue Führungskräfte geht“, erklärte Carlsson und tippte mit dem Finger auf die Stelle des Bildschirms, wo sich Piels Hinterkopf befand.
„Inwiefern?“
„Weil wir zu allen Kandidaten, die in die engere Auswahl kommen, ausführliche Hintergrundinformationen einholen müssen. Ich meine Informationen, die nicht in den offiziellen Bewerbungsunterlagen stehen.“
Preuß hatte von Anfang an gewusst, dass intensive Schnüffelei zu seinen neuen Aufgaben gehören würde. Auch hatte man ihm vorsichtig zu verstehen gegeben, dass dabei gelegentlich die Grenzen der Legalität ein wenig überschritten werden mussten. „Sehen Sie den roten Ordner auf dem Schreibtisch?“ fragte Lange und wischte sich mit einem schmuddeligen Taschentuch über seine Glatze.
Preuß nickte.
„Darin sind alle Informationen, die wir kurzfristig über den Burschen herausfinden konnten.“
Vor den drei Männern befand sich ein kleines Schaltpult, das mit seinen vielen Knöpfen, Hebeln und LED-Anzeigen wie ein Ausschnitt aus einem Flugzeugcockpit wirkte. Lange zog an einem der Hebel, und die Kamera zoomte auf den Ordner zu. Dann betätigte er einen Kippschalter, worauf die Kameraperspektive wechselte: nun saß Naumann mit dem Rücken zur Kamera, während Piel frontal erfasst wurde. Preuß war beeindruckt.
„Wie viele Kameras sind in dem Büro installiert?“
„Drei. In den meisten Büros befinden sich allerdings nur zwei.“ Carlsson grinste, als er weiter sprach. „Es gibt in dem ganzen Gebäude wahrscheinlich kaum einen Quadratzentimeter, der nicht von irgendeiner Kamera erfasst wird. Wir erhalten hier viel mehr Informationen, als wir überhaupt auswerten können. Deshalb wurde es auch Zeit, dass unsere Abteilung personell verstärkt wird.“
Preuß erinnerte sich sehr gut an das Gespräch, das er kürzlich mit Naumann über seine zukünftigen Aufgaben geführt hatte. Der Personalchef hatte davon gesprochen, dass die Sicherheitsabteilung bis zum Jahresende auf mindestens fünf Personen erweitert werden sollte. Auch von zusätzlichen Räumlichkeiten für diese Abteilung war die Rede gewesen. Und immer wieder hatte Naumann auf die absolute Geheimhaltungspflicht hingewiesen.
„Stört es Naumann eigentlich nicht, permanent beobachtet zu werden?“ wollte Preuß wissen.
„Wird er nicht. Er selbst schaltet die Kameras in seinem Büro ein, und zwar nur dann, wenn Bewerbungsgespräche stattfinden. Diese Gespräche werden aufgezeichnet und bei Bedarf akribisch ausgewertet. Da Naumann zur Geschäftsleitung gehört, bleibt er von einer Dauerüberwachung verschont.“
„Und alle anderen Mitarbeiter werden beobachtet?“
„Zumindest stichprobenweise. Wie gesagt, wir können zu zweit unmöglich alle Leute hier im Auge behalten. Aber wie kriegen dennoch allerhand mit.“
„Und niemand weiß davon?“
„Bis auf den harten Kern der Geschäftsleitung niemand. Von uns dreien einmal abgesehen.“
Lange drückte einige Tasten auf dem Schaltpult, und nacheinander wurden daraufhin fünf der bisher inaktiven Monitore eingeschaltet. Auf einem erkannte man einen jungen Mann, der an seinem Schreibtisch saß und über einem Berg von Akten brütete. Ein anderer Schirm zeigte zwei Frauen, die sich angeregt unterhielten und gelegentlich sichtbar auflachten. Da nur die Geräusche aus Naumanns Büro übertragen wurden, blieb das Thema ihres Gespräches offen. Es war allerdings zu vermuten, dass die beiden Frauen sich nicht über geschäftliche Dinge austauschten. Die restlichen Monitore zeigten ebenfalls Vogasoft-Angestellte in ihren Büros.
Preuß war gleichermaßen verblüfft wie erschrocken. Obwohl er selbst in seiner beruflichen Vergangenheit gewisse Überwachungstätigkeiten ausgeübt hatte, war ein derart lückenloses Kontrollsystem für ihn etwas völlig Neues. Er fragte sich, wie groß das Misstrauen der Geschäftsleitung gegenüber den eigenen Mitarbeitern sein musste, um eine derart aufwändige und sicherlich kostenintensive Überwachung für notwendig zu halten.
Lange schaltete die fünf Monitore wieder aus und stellte den Ton von Monitor 3 etwas lauter, damit sie sich besser auf das Vorstellungs-gespräch konzentrieren konnten.
„Um ehrlich zu sein, angesichts der vorliegenden Informationen habe ich keine Ahnung, warum Naumann diesen Kerl überhaupt eingeladen hat“, sagte Carlsson und tippte mit dem Finger auf die Stelle des Bildschirms, an der sich Piels unbekümmert lächelndes Gesicht befand.
Der Personalchef hatte eine Reihe weiterer Fragen gestellt, und seiner eigenen Einschätzung nach hatte Piel souverän und überzeugend geantwortet. Sicherlich würde er einen sehr guten Gesamteindruck hinterlassen, und inzwischen schien es ihm keineswegs unwahrscheinlich, dass man ihm bei Vogasoft eine Stelle anbieten würde.
Naumann blätterte in seinem Ordner einige Seiten weiter.
„Herr Piel, Sie haben während Ihres Studiums zwei Praktika absolviert. Mit welchen Aufgaben wurden Sie dort konfrontiert?“
„Nun, bei IBM habe ich in einem Team mitgewirkt, das für die Optimierung eines bestimmten Betriebssystems zuständig war.“
„Sie haben als Student also bereits selber programmiert?“
„Richtig.“
„Welche Aufgaben standen bei Ihrem zweiten Praktikum an?“
„Mein zweites Praktikum habe ich bei der Firma „TOBA Software“ in Bremen absolviert. Während dieser sechswöchigen Phase habe ich dabei geholfen, ein Programmpaket zum Thema Kostenrechnung zu konzipieren. Meine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse waren mir bei dieser Aufgabe sehr von Nutzen.“
„Ich kenne die Firma „TOBA Software“ nicht. Beschreiben Sie mir doch bitte dieses Unternehmen.“
„Es handelt sich um ein kleines Softwarehaus mit nur sieben Mitarbeitern. Es werden dort individuelle Programme für mittelständische Handelsunternehmen erstellt.“
„Wie heißt der Geschäftsführer?“
Piel zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete.
„Es gibt dort zwei geschäftsführende Gesellschafter. Heinrich Todenhöfer und Peter Banze.“
„Aha. Was können Sie mir über diesen Peter Banze berichten?“
Piels Selbstsicherheit geriet plötzlich ins Wanken. Ist dies ein verdammtes Verhör? Als er nicht sofort antwortete, hakte Naumann nach. „Banze ist der Geburtsname Ihrer Mutter, nicht wahr?“
„Stimmt. Peter Banze ist der Bruder meiner Mutter, also mein Onkel.“
Ruhig bleiben, er ist dein Onkel, warum auch nicht? Daran gibt es nichts auszusetzen.
„Aha, Ihr Onkel. Wann fand dieses Praktikum bei Ihrem Onkel denn statt?“
„In den Semesterferien.“
Naumanns Blick wurde strenger. „Natürlich in den Semesterferien. Aber wann genau?“
„Das exakte Datum weiß ich nicht mehr. Aber es muss vor drei Jahren im August oder September gewesen sein.“
„Sie haben also vor drei Jahren im August oder September bei Ihrem Onkel in Bremen ein Praktikum absolviert, richtig?“
„So ist es.“
„Das sich über sechs Wochen erstreckte?“
„Soweit ich mich erinnere, sechseinhalb, um genau zu sein.“
„Dann erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen eine Frage stelle: Wieso kann sich keiner der Mitarbeiter Ihres Onkels daran erinnern, Sie jemals in einem der Büros gesehen zu haben?“
Diese verdammten Arschlöcher haben mir nachspioniert!Piel war fassungslos. Für einen Moment war er zu keiner Antwort mehr fähig. Den Traum einer Stelle bei Vogasoft sah er wie eine große Seifenblase platzen.
„Herr Piel, ich habe Ihnen eine Frage gestellt.“
Es dauerte noch einmal einige Sekunden, bis sich der Angesprochene weit genug gefasst hatte, um antworten zu können.
„Ich bin nie in den Bremer Büros meines Onkels gewesen. Ich habe ihn zwei- oder dreimal zu einem Kunden begleitet. Aber programmiert habe ich nicht. Die Bescheinigung, die mir mein Onkel über mein Praktikum ausgestellt hat, ist reine Makulatur.“
„Sie haben also geschummelt?“
„So könnte man es nennen.“
Piel sah seine letzte Chance in bedingungsloser Ehrlichkeit. Eine unzulässige Bescheinigung war schließlich kein Verbrechen, und vielleicht würde Naumann diese kleinen Mogeleien gnädig übergehen. „Es tut mir leid, dass ich in diesem Punkt nicht ganz ehrlich war.“
Naumann nickte nachdenklich. „Entsprechen denn Ihre anderen Aussagen der Wahrheit?“
„Ja.“
Piel war selbst überrascht, mit welch einer geschickten Mischung aus tiefempfundener Reue und neu aufkeimender Entschlossenheit er dieses kleine Wörtchen aussprach. Er hatte vielleicht eine Schlacht verloren, aber noch nicht den Krieg. Schließlich schien Naumann daran interessiert zu sein, das Gespräch fortzusetzen. Und damit waren noch alle Chancen offen. Piel trank den Rest Kaffe, der nur noch lauwarm war, und setzte sich dann aufrecht hin, um dem Personalchef zuversichtlich und entschlossen in die Augen zu blicken. Auch Naumann brachte sich in eine betont aufrechte Sitzposition und erlaubte sich wieder ein zaghaftes Lächeln.
„Gut, Herr Piel. Ab jetzt erwarte ich absolute Aufrichtigkeit.“
„Selbstverständlich.“
„Erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen eine weitere Frage stelle“, sagte Naumann, und sein Lächeln wurde breiter.
„Der Junge hat keine Chance“, stellte Lange fest und wischte sich erneut mit dem Taschentuch über seine Glatze. „Eigentlich kann ich diese Schnösel nicht ausstehen, aber der hier tut mir fast schon Leid. Naumann ist einfach ein Kotzbrocken.“
Preuß hatte dem vorerst nichts hinzuzufügen.
„Erzählen Sie mir, was Sie während Ihres Praktikums bei IBM gemacht haben“, bat Naumann mit einer honigsüßen Stimme.
Piel spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und er sah seine Felle nun endgültig davonschwimmen. Irgendwie musste Naumann einen Riecher für heikle Themen besitzen. Wahrscheinlich waren weitere Lügen völlig sinnlos. Dennoch spielte Piel den Ahnungslosen.
„Das habe ich doch eben gesagt.“
Naumanns Blick verfinsterte sich. „Sie haben mir erzählt, dass Sie an der Optimierung eines bestimmten Betriebssystems gearbeitet hätten.“
„Natürlich nicht allein. Ich war Teil eines Teams.“
„Richtig. Und soweit ich weiß, war dieses Team wochenlang ausschließlich damit beschäftigt, Benutzerhandbücher für den Versand in Kartons zu packen. Sie haben während des ganzen Praktikums bei IBM nicht einen Computer aus der Nähe gesehen. Statt dessen haben Sie einfachste Hilfsarbeiten verrichtet.“
Piel blieb stumm. Jedes Dementi wäre überflüssig gewesen. Offenbar war Naumann hervorragend informiert. Der Personalchef hob seine Stimme und begleitete seine Worte nun durch markige Gesten.
„Sie haben mir jetzt bereits zweimal die Unwahrheit erzählt. Das liegt bei Ihnen offenbar in der Familie. Sonst hätte man Ihren Vater vor acht Jahren wohl kaum wegen Steuerhinterziehung verurteilt.“
Piel spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, überwiegend vor Wut und Empörung, weniger aus Scham. Doch Naumann war noch nicht fertig.
„Auch beim Examen haben Sie geschummelt. Hat nicht ein guter Freund für Sie zwei der schriftlichen Prüfungen abgelegt? Ein gefälschter Studentenausweis mit Ihrem Namen, Ihrer Matrikelnummer und dem Passfoto Ihres Freundes hat völlig ausgereicht, um die Kontrolleure zu täuschen.“
„Woher wissen Sie das alles? Wer hat Ihnen erlaubt, in meinen Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln?“
„Mein lieber Junge, Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir in diesem Unternehmen angehende Führungskräfte einstellen, die wir nicht vorher gründlich auf Herz und Nieren geprüft haben! Jede Personal-entscheidung bedeutet eine wichtige Investition in die Zukunft des Unternehmens. Für uns gibt es da keine Privatangelegenheiten. Wollen Sie mir nicht von Ihrem Magenleiden erzählen, das Ihnen soviel Kummer macht? Stimmt es nicht, dass Sie den Tag manchmal nur mit Schmerzmitteln überstehen? Wie würde sich das wohl auf Ihre Arbeitsleistung auswirken? Und wie sieht es mit der sozialen Kompetenz aus, mit der Sie eben noch so geprahlt haben? Meines Wissens galten sie bei Ihren Vereinskameraden, mit denen Sie Fußball gespielt haben, als verschlossener Sonderling. Ihr Stammplatz war auf der Reservebank. Sie sind kein Siegertyp, sondern, mit Verlaub, ein ziemlicher Versager. Und ich habe keine Lust, mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Bewerben Sie sich lieber bei Ihrem Onkel, vielleicht haben Sie da bessere Chancen. Auf Wiedersehen!“
Naumann erhob sich von seinem Stuhl und deutete zur Tür.
Piel fühlte sich so hilflos wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Seine Augen brannten, gefüllt mit Tränen der Wut. Dann drehte er sich um und stürzte auf die Tür zu.
Preuß schüttelte den Kopf. „Wozu sollte dieses Gespräch gut sein? Der Bursche kam doch von vornherein nicht für eine Stelle in Frage.“
„Keine Ahnung“, antwortete Carlsson wahrheitsgemäß, „vermutlich brauchte Naumann einfach nur ein bisschen Spaß.“
„Spaß? Ich finde diese Art von Machtmissbrauch furchtbar“, empörte sich Preuß und schüttelte erneut heftig den Kopf. Lange stellte den Bildschirm aus.
„Das darf man nicht so eng sehen. In Naumanns rotem Ordner waren übrigens noch weitere prekäre Informationen. Wir recherchieren immer so gründlich wie möglich“, erklärte Carlsson.
Der Kellerraum mit seinem künstlichen Licht kam Preuß mehr und mehr wie ein stickiger Kerker vor. Die Monitore heizten den Raum auf, und die Lüftungsanlage sorgte kaum für frischen Durchzug. Inzwischen graute ihm vor dem Gedanken, die nächsten Monate mehrheitlich hier unten zu verbringen und Leute auszuspionieren, in einem sauberen hellblauen Overall gekleidet, mit einem Namensschild auf der Brust, das nie jemand lesen würde.
Preuß verzog bei diesen Gedanken missmutig das Gesicht, worauf Carlsson ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. „Was denn, was denn, wer wird denn am ersten Arbeitstag schon so unmotiviert sein? Hier unten ist es gar nicht so übel. Wir haben hier schon viel Spaß gehabt, was, Uwe?“
Lange grinste über das ganze Gesicht und spielte wieder an einigen Knöpfen und Schaltern herum. Daraufhin wurde der Bildschirm Nummer 7 aktiv. Er zeigte ein von schräg oben aufgenommenes Panorama der weitläufigen, mit Marmor ausgestatteten Herrentoilette. Links erkannte man die geschlossenen Kabinen, rechts die eleganten Waschbecken, im Hintergrund die Urinale, durch kleine Trennwände voneinander abgegrenzt. Zur Zeit befand sich nur eine Person im Blickfeld der Kamera, ein älterer Herr, der sich die Hände wusch und sich anschließend mit den nassen Fingern durch die grauen Haare fuhr, um seine Frisur zu richten.
Als Lange einen Kippschalter umlegte, wechselte das Bild, und man sah von oben in das Innere einer der Kabinen. Sie war leer. Lange drückte mehrmals hintereinander einen grünen Knopf, und jedes Mal wechselte das Bild, sodass alle Kabinen der Reihe nach auf dem Schirm erschienen und wieder verschwanden, bis schließlich eine besetzte Toilette gezeigt wurde. Ein Mann mit Stirnglatze saß breitbeinig da, rauchte und las Zeitung.
Carlsson grinste zufrieden. „Sie glauben gar nicht, was die Leute dort so alles treiben. Wir haben zu dem Thema ganz interessante Aufzeichnungen. Sollten wir uns später mal ansehen. Ach, übrigens, ich schlage vor, dass wir uns duzen. Ich bin Jonas.“
Carlsson streckte Preuß seine Hand entgegen. Nach kurzem Zögern schlug Preuß ein, allerdings ohne jede Spur von Herzlichkeit. Seine Stimme klang leise und unfreundlich, als er seinen Vornamen nannte. „Torsten.“
„Ich bin Uwe“, brummelte Lange, der bisher keinen allzu gesprächigen Eindruck gemacht hatte, in dessen Blick aber Wachheit und Scharfsinn lagen.
Mit ungetrübt guter Laune fuhr Carlsson fort: „Die Geschäftsleitung hat uns kürzlich beauftragt, ein System zu entwickeln, mit dessen Hilfe wir Urinproben entnehmen können, bevor alles in der Kanalisation landet.“
„Das ist doch wohl ein Scherz!“
„Dachten wir zuerst auch. Aber die Bosse da oben scherzen höchst selten. Die wollen wirklich Proben entnehmen und labortechnisch untersuchen lassen, um Aussagen über den Gesundheitszustand einzelner Mitarbeiter zu erhalten.“
Für eine Weile herrschte Schweigen, dann fuhr Carlsson fort : „Leute zu beobachten ist schon eine spannende Sache. Für die Belegschaft gibt es einen großen Sportraum samt Dusche. Dort haben wir besonders viele Kameras installiert. Witzig ist auch, was sich im Laufe der Betriebsfeste so alles ereignet, wenn sich Pärchen verstohlen in entlegene Räume zurückziehen. Unserem allmächtigen Auge entgeht nichts. Natürlich lässt sich nicht nur die Herren-, sondern auch die Damentoilette ... äh ... observieren. Hat seinen besonderen Reiz.“
Wie zum Beweis legte Lange einen weiteren Schalter um, und das Bild auf Monitor 7 wechselte.
Preuß platzte der Kragen. „Es reicht! Ihr seid absolut widerlich. Die ganze Firma ist widerlich. Ich mache diesen Mist nicht mit! Ich kündige!“ Nichts hielt ihn mehr auf seinem Stuhl, er sprang auf und warf den beiden anderen einen angeekelten Blick zu. Seine Vorstellungen von Berufsethos und Menschenwürde mochten überholt sein, aber er hatte nicht die Absicht, jemals so tief zu sinken wie seine beiden vermeintlichen Kollegen. Mit entschlossenen Schritten marschierte er zur Tür, die sich von außen nur mit Hilfe einer Chipkarte öffnen ließ, riss sie auf und verschwand im schummrigen Dämmerlicht des Kellers.
Lange und Carlsson sahen sich verblüfft an, dann schüttelten sie die Köpfe und gaben spöttische Laute von sich.
„Was für ein Sensibelchen. Mit dem hätte die Arbeit keinen Spaß gemacht. Gut, dass er weg ist“, stellte Carlsson fest, stand auf und schloss die Tür.
Plötzlich läutete das Telefon. Beide Männer zuckten zusammen. Dieser Apparat war nicht an das reguläre Telefonnetz des Hauses angeschlossen. Auch von außerhalb des Hauses konnte hier nicht angerufen werden. Es gab nur vier Direktverbindungen, und die führten allesamt in die Büros der mächtigen Geschäftsführer. Kurzum - ein Anruf bedeutete fast immer Ärger.
Carlsson nahm ab und stellte gleichzeitig den Telefonlautsprecher an, so dass sein Kollege mithören konnte. Noch ehe er seinen Namen sagen konnte, füllte die kräftige Stimme des Anrufers den gesamten Raum. Die beiden Männer wurden kreidebleich, als eine wütende Schimpfkanonade wie der Zorn Gottes auf sie niederging.
„Ihr Idioten! Ihr verfluchten, hirnamputierten Vollidioten!“
Es war die Stimme des Firmengründers und obersten Chefs persönlich, die Stimme von Siegfried Meissner!
Der Schreibtisch, hinter dem Meissner saß, war so groß, dass er als Bühne für eine Theateraufführung hätte dienen können. Sein ganzes Büro war ähnlich überdimensioniert und nahm fast die halbe Etage ein. Spöttische Zungen behaupteten, er bräuchte so viel Raum, um hier mit seinen Geschäftspartnern Golf spielen zu können, falls das Wetter draußen zu schlecht war.
Auf dem hochauflösenden Großbildschirm seines PCs konnte Meissner sämtliche Kameraeinstellungen abrufen, die auch dem Kontrollraum zur Verfügung standen. Rechts von seinem Stuhl war ein Schaltpult in der Schreibtischkonsole integriert, das bis ins Detail der Überwachungsanlage im Keller entsprach. Zudem konnte er durch zwei Kameras sämtliche Vorgänge im Kontrollraum beobachten, was er in den letzten dreißig Minuten auch ausgiebig getan hatte.
Meissner war erst am Tag zuvor etwas früher als geplant von einer anstrengenden Reise aus China zurückgekehrt. Zwei Wochen war er außer Haus gewesen, nur zwei verdammte Wochen, und schon ging hier alles drunter und drüber. Er kochte vor Wut, und jeder, der ihn näher kannte, wusste, dass sich der üblicherweise jovial auftretende Unternehmer in eine reißende Bestie verwandeln konnte, wenn die Umstände ihn dazu zwangen. Seine Stimme überschlug sich fast, als er seine beiden Sicherheitsleute zur Schnecke machte. Die erstarrten Gesichter der Männer waren auf seinem Monitor gestochen scharf zu erkennen. Es war schwer zu beurteilen, wer von den beiden unglücklicher dreinblickte.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei Ihren Spannereien! Wenn ich mich später melden soll, sagen Sie Bescheid!“
Es schien, als ob Carlsson etwas sagen wollte, doch sein Mund öffnete und schloss sich nur stumm wie das Maul eines Fisches.
„Ich wollte mir eigentlich nur mal den Neuen ansehen, weil ich schließlich Wert darauf lege, dass die Sicherheitsabteilung gut zusammenarbeitet. Und was stelle ich fest? Meine beiden Herren Kontrollbeauftragten entpuppen sich mal wieder als pubertierende Clowns, und der Neue stellt sich als reinste Memme heraus! Sind wir hier eigentlich im Kindergarten? Ist der Mann im Vorfeld ausreichend auf seine Tauglichkeit hin untersucht worden? Wohl kaum. Und wer garantiert mir, dass der Kerl sich jetzt nicht schnurstracks an die Presse wendet? Haben wir etwas gegen ihn in der Hand? Können wir sein Schweigen erzwingen? Ich erwarte eine Antwort!“
„Wir ... äh ... vielleicht findet sich eine Möglichkeit“, entgegnete Carlsson kleinlaut.
„Vielleicht? Ich bezahle euch Witzbolde nicht für Eventualitäten! Sorgt dafür, dass der Mann sein Maul hält, egal wie! Ich erwarte einen konkreten Lösungsvorschlag. In einer halben Stunde. Ist das klar?“
„Ja ... selbstverständlich.“ Carlsson klang wie ein verschrecktes Kind.
Meissner warf den Hörer auf die Gabel. Sein Zorn war noch längst nicht verflogen. Erst musste er sich den eigentlichen Versager vorknöpfen. Mit vor Wut zitternden Fingern wählte er Naumanns Nummer.
Naumann nahm ab und sprach seinen Namen mit der für ihn typischen Gereiztheit aus, als ob der Anruf ihn gerade bei irgendeiner wichtigen Tätigkeit gestört hätte. Langgezogenes „Nau“, kurzes „mann“.
“Hier Meissner!“
Sofort wurde Naumanns Stimme erheblich freundlicher. „Oh, Herr Meissner, guten Tag. Sind Sie schon von Ihrer Reise zurück?“
Meissner fummelte mit einer Hand an den Knöpfen seines Schaltpultes herum, bis das Bild des untertänig grinsenden Personalchefs auf dem Monitor erschien. Naumann wusste nicht mit letzter Sicherheit, ob Meissner ihn beobachten konnte, und diese Ungewissheit quälte ihn ständig.
„Bin ich. Herr Naumann, erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen einige Fragen stelle?“
„Ja ... natürlich, Herr Meissner.“ Naumanns Grinsen wirkte nervös.
„Gut. Erstens: Mit wem haben Sie sich eben so ausführlich unterhalten?“
„Mit einem Bewerber. Einem Wirtschaftsinformatiker.“
„Aha. Stimmt es, dass dieser Bewerber von vornherein gar nicht für einen Job bei uns in Frage kam? Hatten Sie nicht entsprechende Informationen vorliegen?“
„Nun, äh ... ich dachte, vielleicht gab es ja noch eine Chance, dass ...“
„Sind Sie nicht ausgelastet? Langweilen Sie sich? Soll ich Ihnen ein Fernsehgerät ins Büro stellen?“
„Nein, nein, ich wollte nur ...“
„... aus reinem Vergnügen ein völlig überflüssiges Gespräch führen“, ergänzte Meissner, und seine Stimme wurde lauter. „Nächste Frage: wieso zum Teufel konfrontieren Sie den Bewerber mit den detaillierten Informationen, die wir ermittelt haben? Warum verfassen Sie nicht gleich eine Pressenotiz, dass bei Vogasoft im Privatleben der Bewerber und Mitarbeiter herumgeschnüffelt wird?“
„Nun, ich, äh ... im Eifer des Gefechts sind mir ... äh ...“
„Noch eine Frage: wieso wird so eine zartbesaitete Pflaume als neuer Sicherheitsmann eingestellt? Der Typ hat soeben das Handtuch geworfen! Ist Ihnen entfallen, dass die Sicherheitsabteilung zu den wichtigsten Einheiten dieses Unternehmens gehört? Warum wurde der Mann nicht im Vorfeld ausreichend überprüft, bevor Sie ihn zum Mitwisser unseres Überwachungssystems gemacht haben?“ Meissner Stimme hatte jetzt eine gefährliche Lautstärke erreicht, und Naumann schien hinter seinem Schreibtisch auf die Größe eines Däumlings zu schrumpfen.
„Aber Herr Meissner, wir ... wir haben den Mann ausgiebigst ...“
„Quatsch! Ich habe keine Lust, Ihr Gestammel weiter am Telefon zu ertragen. Ich will, dass Sie persönlich in meinem Büro erscheinen und sich hier für Ihre unglaublichen Schludereien verantworten. In zwei Minuten sind Sie hier, und unterstehen Sie sich, auch nur eine Sekunde später zu erscheinen!“
Meissner legte auf und schaltete den Monitor aus. Bei normaler Gehgeschwindigkeit brauchte man mindestens vier Minuten, um von Naumanns Büro im Erdgeschoss bis zu Meissners Büro in der obersten Etage zu gelangen.
Wie hatte Meissners Arzt unlängst erklärt: Wut und Frust müssen sich von Zeit zu Zeit entladen dürfen, sonst wird das körpereigene Immunsystem durch den aufgestauten Ärger geschwächt, mit möglicherweise schlimmen Folgen für die Gesundheit. Knapp zwei Minuten nach Beendigung des Telefonats war ein zaghaftes Klopfen an der Bürotür zu hören, die sich fast zwanzig Meter von dem riesigen Schreibtisch entfernt befand.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2005.
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