Ich sag dir was, deine Sorgen gehen mir am Arsch vorbei.
Entschuldige, wenn ich das jetzt mal so deutlich sage, aber schau, es ist die einzige Möglichkeit, die mir noch bleibt, um mein Leben in den Griff zu kriegen.
Du weißt bestimmt, dass ich mir mein Leben lang Sorgen darum gemacht habe, dass sich bloß niemand um mich sorgen musste.
Ich habe immer das gelebt, was du von mir erwartet hast – ich wollte – ich durfte - dir ja keine Sorgen machen.
Davon hattest du weiß Gott schon genug. Die Sache mit Papa und seiner Arbeitslosigkeit, gefolgt von zuviel Alkohol und seinen Affären und der Entdeckung dessen Seitens der Nachbarschaft. Und als Alicia dann lange Finger gemacht hat, bei Edeka. Diese Schande.
Deine beiden Großen, die in der Bushaltestelle beim Rauchen erwischt wurden, vom Pastor. Und Detlef, nur mit Ach und Krach die Hauptschule geschafft. Und ständig Prügeleien.
Du hast keine Gelegenheit ausgelassen, mir zu sagen, wie froh du darüber bist, dass wenigstens ich auf dem Weg der Tugend geblieben bin. Dass ich dir keine Sorgen mache, indem ich in schlechte Gesellschaft geraten bin oder etwas getan habe, das irgendwem missfallen könnte. Ich war dir immer behilflich, hatte immer ein offenes Ohr für deine Sorgen.
Mir blieb ja auch nichts anders übrig. Ich habe nichts anderes von dir gelernt.
Du hast mich zu deinem Opfer gemacht.
Ich war doch noch so klein – ich durfte gar keine Sorgen machen, geschweige denn, welche haben. Ich hätte dich damit noch mehr überfordert.
Aber Mama, ich sage dir jetzt eines: Mit meinen 35 Jahren bin ich so ausgelaugt, perfekt zu sein, dass ich dein Podest nicht mehr haben will. Ich will Sorgen haben dürfen, ich will ein offenes Ohr, ja, ich will endlich das Kind sein dürfen, das ich nie war. Ich bin doch schon als erwachsene, gute Frau geboren worden. Als kleine Tochter war ich deine Verbündete. Musste es sein. Als kleine Schwester war ich eine große Schwester, weil ich so vernünftig sein musste. Ich war nie und hatte nie eine Freundin. Denn die hätten mich beeinflussen können. War es das, was dich bemüßigte, in jeder Mitschülerin und jedem anderen kleinen Mädchen, mit dem ich spielen wollte, etwas zu finden, das schlecht für mich war? Oder befürchtetest du, deine Sorgen, die meine Sorgen waren, könnten anderen zu Ohren kommen? Und die Schande bekannt werden lassen?
Doch diese Angst musstest du ja nicht haben. Du hattest gute Arbeit geleistet.
Mich.
Nie Fehler, nie Abgründe, nie Entgleisungen, nie Schande.
Dein Engel. Deine Rettung. Deine große Hilfe.
Ich war nie dein Kind.
Nicht als Kind, nicht als Jugendliche, nicht als Erwachsene.
Ich war deine Therapeutin, und heute brauche ich einen Therapeuten.
Wieso hast du deine Sorgen nicht mit jemandem geteilt, der sie schon einordnen konnte, der wirklich erwachsen war und beurteilen konnte, was es an dir zu ändern galt?
Ich weiß, warum.
Du hättest selbst etwas ändern müssen. Irgendwann hätte irgendwer zu dir gesagt: „Es sorgt dich? Ändere es! Ändere dich!“
Aber ich war ja da. Ich, dein offenes Ohr. Du hast deinen Seelenmüll bei mir abgeladen und ihn in mir gelassen.
Mama, ich war noch klein. Ich war ein Kind. Und doch war ich nie ein Kind.
Nun stehe ich hier und bin ausgebrannt. Es geht mir schlecht, ich kann nicht mehr. Ich möchte nichts mehr hören, weder von dir, noch von anderen. Ich kann nicht mehr unter Leute gehen, ich will keine schlechten Nachrichten mehr hören. Die Welt überfordert mich, ich habe nie gelernt, mit meinen eigenen Sorgen umzugehen. Ich habe immer nur gelernt, deine Sorgen in mich aufzunehmen. Deine Sorgen verknoten meine Seele. Sie sind so aufgehäuft in mir, dass mein Blick verschleiert ist. Ich sehe nicht mal mehr mich selbst. Deine Sorgen verkrusten meinen Magen. In mir steckt ein Kloß, seit 35 Jahren. Ich spüre mich nicht, habe mich nie gespürt.
Doch Mama, in mir steckt auch ein winziges Licht. Jemand hat es in mich gesetzt, jemand, der mich angeschaut hat und gesagt hat: „Ich sehe dich nicht. Wie kommt das?“
Mama, ich will, dass dieses Licht beginnt zu leuchten. Ich will nicht mehr deine Schatten, deine Schande, deinen Atem, der mir die Luft nimmt.
Ich will Sorgen machen. Ja, ich will sie auch dir machen. Aber am meisten will ich sie mir selbst machen. Denn das sind meine Sorgen. Diese Sorgen will ich lösen. Deine will ich nicht mehr haben, nicht mal die, die du dir um mich machst. Behalt sie für dich. Lade sie nicht bei mir ab, sage mir nicht, wie sehr du dich um mich sorgst. Denn das ist eine Lüge, du sorgst dich doch nur um dich.
Deine Sorgen gehen mir am Arsch vorbei.
Noch.
Wenn ich gelernt habe, mich um mich zu sorgen, kann ich mich vielleicht auch wieder um andere Menschen sorgen. Vielleicht sogar um dich.
Doch jetzt ... jetzt, Mama, sag mir nicht, du sorgtest dich um mich!
‚Entschuldige’ .. hab ich vorhin gesagt?
Ich nehme es zurück. Denn deine Sorgen gehen mir am Arsch vorbei.
Sie müssen es. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich noch habe.
© 28.12.05 Birgit Seitz
Anmerkung der Verfasserin: Diese Geschichte ist nicht autobiographisch, sie betrifft "nur" meine Gedanken zu einer wahren Geschichte.