Hans-Peter Zürcher

Brattig

 
29. Januar 2005
 
Das Jahr geht mit großen Schritten dem Ende Entgegen. Die mystische Zeit zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr birgt so manche Rituale in sich.
 
Weihnachtsgeschenke werden umgetauscht und gleichzeitig auf Ausverkaufstischen gewühlt.  Besuche werden abgehalten und Glückwünsche werden erteilt. Gute Vorsätze formuliert, die dann doch nicht eingehalten werden. Jahresrückblicke gemacht, die das viele Schlechte, wie auch das wenig Gute uns nochmals vor Augen führen. Und es wird dann sein wie jedes Jahr, nichts wird aus den Vorkommnissen gelernt, alle Vorsätze löst sich in Luft auf. Alles bleibt beim Alten, außer die letzte Ziffer der Jahreszahl, die wird um eine Eins erhöht.
 
Mann kann diese Zeit aber auch erleben, durch die Natur streifen, gute Gespräche mit Freunden führen, eine schöne Musik anhören oder ein gutes Buch lesen. In Gedanken versinken, sich einfach nur tragen lassen.
 
...Die neue Eisenbahn, die wir Buben auf Weihnachten erhalten hatten, war in der schönen Stube auf dem noch ausgezogenen und für das Familienessen vergrößerten Tisch aufgebaut. Der Tisch war mit einem Plastiktischtuch, das zum Schutz des schönen weißen, mit Rosenmustern verzierten, Damasttuchs diente, gedeckt. „Damit alles schön und sauber bleibt für das Silvesteressen“ meinte Mutter. Die Eisenbahn bestand aus einer Dampflok mit Personen - und Güterwagen sowie einer moderneren Rangierlok und zwei Trafos. In der Mitte des Tisches haben wir unter dem Plastiktuch kleine Schachteln verschiedenster Größe geschoben, um so Hügel vor zu täuschen. Das alte Zubehör bestehend aus einem Bahnhof, einem mechanischen Läutwerk, einem Tunnel und einer Passarelle mit Signalen waren ältere Blechbauten, die nicht zur Größe der neuen Eisenbahn passten. Dies war uns jedoch völlig egal, Hauptsache war, dass wir damit spielen konnten. Genauer gesagt, spielte unser Vater mit dieser Bahn, wir Kinder waren zum Zuschauer degradiert. Zu unserem Glück und zu seinem Verdruss musste Vater am siebenundzwanzigsten wieder zur Arbeit. Von da an waren wir wieder die Lokführer, wenigstens bis zum Abend. Da konnte dann Vater weiterspielen, wir Buben durften noch für eine Stunde schlitteln gehen.
 
Der viele Schnee bereitete uns größtes Vergnügen. So wir konnten uns nebenbei mit den anderen Kindern im Quartier über die neuesten Spielsachen, die wir zu Weihnachten erhalten haben, unterhalten. Der Schnee knirschte unter den Schuhen und Schlittenkuven. Die Temperatur einiges unter dem Gefrierpunkt hatte den gepressten Schnee auf der Strasse in eine schnelle Schlittenbahn verwandelt. Am klaren Nachthimmel funkelten die Sternen und im Bereich der rötlich scheinenden Straßenlaternen der Schnee. Nur all zu kurz dauerte dieser Spaß. Ein Ruf im dunkel der Nacht mahnte uns ans nach Hause zu gehen. Nein, es war nicht der Kauz im nahen Wäldchen, sondern unsere Mutter, die das schöne Spiel unterbrach. „Morgen ist auch noch ein Tag“ hiess es jeweils...
 
Eines dieser Rituale ist jeweils in dieser Zeit der Beschaffung des neuen Appenzeller Kalender gewidmet. Möglichst früh am Morgen zieht es mich in die Stadt, besser gesagt in die Buchhandlung Jäggi. Da finde ich seit vielen Jahren diesen Kalender. Er ist nicht zu übersehen in der Vielfalt der Kalender, die da feilgeboten werden. Eigentlich ist dieser Kalender eher ein kleines Heft, ein Büchlein. Der gelblich weiße Umschlag, auf dessen Vorderseite von Weinranken eingefasst der rot leuchtende, in alter Schrift gehaltener Titel < Appenzeller Kalender > aufgedruckt ist. Darunter in Schwarz < auf das Jahr 2006 > und nach einem Trennzeichen weiter < gegründet von Johs. Tobler, Mathematicus. Abgeschlossen durch zwei stehende, gegen einander schauende Bärendarstellungen. Darunter nochmals in Rot < AR / AI > und weiter 285. Jahrgang.
 
...Ein morgendlicher Spaziergang mit Grossvater in dieser zwischenzeitlichen Periode führte zu einem Besuch bei Vetter Alfred, der in einem alten, großen Haus im Mühle -quartier wohnte. Spaziergang ist eigentlich nicht das richtige Wort. Grossvater hatte mich, natürlich gut und warm Verpackt, auf den großen Schlitten gesetzt. So hatte ich das Vergnügen einer Spazierfahrt, gezogen von Grossvater. Ich mochte diesen Vetter Alfred sehr gerne, hatte er nebst lieben Worten immer auch etwas Süßes in Form von Schokalde in seiner Rocktasche bereit. Auf dem Rückweg machten wir über - die alte Steig - einen Abstecher hinauf zum Dorf. „Damit du nicht zu Kalt bekommst, solltest du etwas laufen“, meinte er. Ich fror nicht im Geringsten, im Gegenteil, obwohl Minus -temperaturen herrschten, schien die Sonne recht warm. Ich glaube eher, dass ich ihm zu schwer war, ging der Weg doch sehr steil Bergauf. Schon bei der Hauptpost waren ein Gelächter und fröhliche Kinderstimmen zu hören. Die Strasse zur Egg hinauf wurde im Winter jeweils zur Schlittenbahn umfunktioniert. „Was meinst du, wollen wir Onkel Hugo auf der Egg einen kurzen Besuch abstatten?“ Natürlich war ich dafür, aber nicht etwa wegen Onkel Hugo und Tante Klärli, sondern nur wegen der nachträglichen Schlittenpartie. Diese waren zum Glück nicht zu Hause und so konnten wir uns sofort an die Abfahrt machen. Grossvater hinten und ich vorn auf dem Schlitten, ging es rasant den Berg hinunter zurück ins Dorf. Ich wollte gleich nochmals hoch, doch Grossvater verneinte, „wir müssen uns noch den Appenzeller Kalender bei Zellweger besorgen“ gab er weiter zur Antwort. „Ja, aber vielleicht sind sie in der Zwischenzeit zurück gekommen“, gab ich zurück. Aber auch das konnte Grossvater nicht umstimmen. „Nütz ischt ond fertig!“
 
Im Dorf waren die Schaufenster der Ladendgeschäfte von der Weihnachtsdekoration befreit und in eine solche zum Jahreswechsel passend umgewandelt worden. Kaminfeger, Schweinchen und Kleeblätter haben die Engel und Kerzen abgelöst. In der Papeterie Zellweger herrschte ein ziemliches Gedränge. Neujahrskarten und Kalender waren die Verkaufsschlager dieser Tage. So wurde dann wie jedes Jahr der Appenzeller Kalender eingekauft. < Auf das Jahr 1958 > stand auf dem Titelseite. Ich freute mich insgeheim auf diesen Kalender, denn, wenn dieser in den Brattig gesteckt wurde, durften wir Buben den alten übernehmen und so hatten wir jedes Jahr unseren eigenen Kalender.
 
In diesen Kalender konnte ich mich an trüben Winternachmittagen dann Stundenlang  vertiefen. Vor allem der Kalenderteil mit den vielen für mich exotischen Zeichen, den zum jeweiligen Monat passenden Bildern und den kurzen Wetterregeln haben mir es angetan...
 
Das Aussehen dieses Kalenders hatte sich in den vielen Jahren seit damals der Zeit entsprechend verändert, wurde modernisiert und dem Heute angepasst, obwohl grundlegend noch alles gleich geblieben ist. Die Schrift wurde modernisiert, da scheinbar viele das alte Schriftbild nicht mehr lesen können. Ansonsten ist die Inhaltsabfolge die gleiche wie damals. Nebst dem Kalendarium mit den für mich damals exotischen Zeichen, den Tierkreiszeichen, den Mondzeichen sowie die Darstellung der Konstellation von Sonne, Mond und Sternen finden sich im Kalender auch Erzählungen, Ereignisse im Inn – und Ausland, Unterhaltung in Form von Rätseln und Witzen, Sinnliches und Erheiterndes. Ein Marktkalendarium fehlt ebenso wenig wie eine Totentafel und die geistlichen und weltlichen Behörden der beiden Appenzell. Solche Kalender dienten in früheren Zeiten, als das Radio und Fernsehen noch nicht erfunden waren und sich nicht jedermann eine Zeitung leisten konnte, als Informationsquelle über die vergangenen Monate, aber auch als Wettervorhersage, als Lektüre für kalte Wintertage. Der Kalender hatte in der Wohnstube, in einem hölzernen mit schönen Schnitzereien verzierten Wandhalter, Brattig genannt, seinen Platz und war so jederzeit griffbereit. Dieser wird wohl immer noch in vielen Wohnstuben, nicht nur im Appenzeller – Land, seinen Platz haben.
 
Mein erster Blick im neuen Kalender galt denn auch in diesem Jahr, kaum zu Hause angelangt, einmal mehr dem Kalendarium. < Stellt sich am Anfang Gewitter ein, wird’s bis Ende so beschaffen sein >, steht im Kalenderblatt vom Jänner geschrieben.  
 
...der Duft von gebratenen Äpfeln und Birnen aus dem Kachelofen, vom Grossvater hergerichtet, die heimelige Wärme in der warmen Stube und das Ticken der Wanduhr vermittelten Geborgenheit. Zusammen mit dem Appenzeller Kalender in der Hand, auch wenn es der vom nun zu Ende gehenden Jahr war, fand ich etwas vom schönsten in dieser Zeit. Auch wenn auf dem Tisch in der Stube die neue elektrische Eisenbahn aufgebaut und im Brattig nun der Neue eingeschoben war... 
 
( Brattig, w. Kalenderrahmen (Practica) )
 
© 2006   Alle Rechte bei Hans-Peter  Zürcher

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans-Peter Zürcher).
Der Beitrag wurde von Hans-Peter Zürcher auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hans-Peter Zürcher als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Mozarts Zeitreisen von Rita Hausen



Mozart taucht in unserer Welt des 20. und 21. Jahrdundert auf und wundert sich z.B. darüber, dass ein "ganzes Orchester in einem kleinen Kästchen" steckt. Er lässt sich aber von unseren Errungenschaften keineswegs einschüchtern.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kalendergeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans-Peter Zürcher

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Müde von Hans-Peter Zürcher (Impressionen)
Wunschtraum von Edelgunde Eidtner (Fantasy)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen