Christian Schmitt

... je später der abend ...

 

was gibt es schöneres als eine klasse location bei noch besserer musik ?! - diese frau.

ich lernte sie vor 2 wochen bei einem "watch-your-past-and-build-your-future" konzert, im kulturzentrum unserer kleinstadt kennen, welches ich, zwecks eines anstehenden artikels für die kleine musikredaktion von nem höchst unanspruchsvollen fuilletons in dem käseblatt einer nahegelegenen größeren stadt, bei dem ich als freier mitarbeiter gejobbt hatte, besuchte.

ich, mehr so der über allem stehenden abhänger-fraktion zugehörig, gelehnt an den größten lautsprecher dieser lokalität, genoss die fantastische musik wie immer ganz entspannt, ohne jegliche rock-attitüde, in mich selbst gekehrt. die band fetzte auf der bühne dass einem der angesoffene arsch auf grundeis hätte laufen können. der sänger war kurz davor, der ersten reihe, sein angefaultes mittagessen vor die füße zu kotzen. der rest der band bemühte sich, ihrem ruf als widerlichste aber auch hervorragendste non-commercial-indie-rockband europas gerecht zu werden. der schlagzeuger grunzte gleich einem schwein das gerade kastriert wird, kein wunder, hatte der sich vor der show doch so wirklich alles an chemischen substanzen die man auf dem heutigen markt so bekommen kann eingefahren. und der bassist mähte mit dem hals der gitarre so ziemlich alles an deko ab, was der 1. gitarrist mit dem 2. mikro verfehlt hatte. um mich herum flogen die beine, hände und haare durch die luft als gäb's kein morgen mehr. ein hauch von anarchie umnebelte mich und mein ego. ich fühlte mich, wie immer bei solchen hervorstechend und fein ausgearbeiteten musikalischen ereignissen, absolut frei. vor allem frei davon, mich der tobenden und schwitzenden masse in diesem wunderschön dunkel und bizarr hergerichteten raum hinzugeben, um mich am nächsten morgen nicht für banale gespräche über die alte zeit, die innovativere intellektuell anspruchsvollere in-die-fresse-musik von früher, das generelle miteinander in der indie community und weiterem schwachsinn vor mir selbst zu schämen. einen, nach langer zeit durchgefeierter nächte und parties, irgendwann ereilenden gelangweilten ausdruck in gesicht und geist vor dem sich jeder im dunkeln fürchten würde, könne man ihn wahrhaftig und nicht versteckt hinter falschen persönlichkeiten und marionettenartigen gestalten welche sich zusammengenommen szene nennen, ins mehr als grässliche antlitz schauen - besten dank, aber darauf hatte ich schon lange keine lust mehr und eigentlich noch nie so richtig.

ich war froh absolut unabhängig davon zu sein und war unglaublich selbstsicher in dem was ich dachte, indem wie ich handelte. sicherer als jemals zuvor.

woher diese depression oder besser diese hassliebe gegenüber der szene und der allgemeinen clubkultur kommt, kann ich nicht mehr sagen. dieses gefühl erreichte mich schleichend und irgendwie eher durch die hintertür, ich weiß nur dass ich früher anders war. es baute sich wohl eine art von tiefer abneigung auf, und zwar gegenüber selbstdarstellern, möchtegern rock-a-billys und dem ganzen anderen mobb, der sich wochenende für wochenende in kleinen very sophisticated clubs selbst feierte, sich produzierte und wo wirklich jeder dem anderen ab einem gewissen zeitpunkt eine haltung entgegenbrachte, welche mich in ihrer art und weise, aus mir zu diesem zeitpunkt noch nicht bekannten gründen, sehr stark an, hart gesagt, ne art rassentrennung erinnerte. so viel intoleranz auf einem haufen löste bei mir immer blutigen brechreiz mit husten und kopfweh der schlimmsten sorte aus. für mich war immer das ziel bei veranstaltungen dieser art,eine komplett andere wahrnehmung der dinge selbst, in mir aufzunehmen,in eine andere zeit an einen anderen ort oder in einen anderen raum zu gelangen, ein tor zu durchstoßen. abgesehn von dem tor des parkplatzes der polizeiwache und den verdreckten versifften klos in äußerst zwielichtigen etablissements durchstieß ich allerdings nie was. vielleicht machte mich das zu diesem negativen, alles anzweifelnden und extrem pseudo-abgeklärten individuum, dass als einziges total entspannt, während dieser hervorragenden arsch-weg-rockenden musik, am lautsprecher festklebte und bei jedem 1. und 3. schlag mit dem kopf und bei jedem 2. und 4. schlag mit dem fuss wippte. ENTSPANNT ist wahrscheinlich der absolut falsche ausdruck, - "wer zieht mir bitte den stock aus meinem arsch und lässt mich tanzen bis man mich vor lauter übermut von der, inzwischen hart erkämpften und erklommenen, bühne runterschmeissen muss?!"- doch zu diesem zeitpunkt war ich erkenntnismäßig noch lange nicht so weit.

wie auch immer, ich schaute mich also in dem nebel umfluteteten und stark nach abgestandenem schweiß duftenden raum um. die selben figuren wie immer, mit der selben, von mir so tief gehassten, haltung. auf einmal sah ich sie; schulterlange dunkle haare, sehr stylisch, vom gesicht nur die silhouette und diese wunderbar herausstechend großen augen zu sehen, gekleidet, als hätte man rock'n'roll und alles was man mit ihm verbindet nur für sie erfunden. sie lehnte derart selbstverständlich gelangweilt an der garderobe dass sie mir sofort auffiel und ich mit meinem blick für mehrere minuten nicht von ihr los kam. gefesselt und von ihrer ausstrahlung, von ihrer schönheit geblendet, so würde es zumindest in einer rosamunde-pilcher-pseudo-romantik-lektüre stehen, schaute, oder besser gesagt, gaffte ich sie fasziniert an. ihr blick rollte wie die leicht angewichste hammond-orgel der musiker durch den raum und blieb, wie ich natürlich insgeheim hoffte, bei diesem schlaksigen, total abgebrühten hellbraune kurze 70er-jahre-fuck-the-system-aber geil-seh-ich-trotzdem-aus lederjacke tragenden hammertyp stehen - genau, bei mir. mit blicken kann man mehr sagen als mit tausend worten, dachte ich mir so bei meiner eso-ich-weiß-immer-was-einer-denkt-und-kann-sowieso-alle-gedanken-lesen-einstellung und vollzog eine art von visueller musterung von den haaren bis zu den schuhen, mir wiederfuhr in diesem moment genau das selbe. klasse, ich war mir absolut sicher - da geht was.

natürlich haben wir uns kennengelernt und natürlich sind wir, angetrieben von musik, alkohol und der angeheizten atmosphäre dieses abends, im bett gelandet. dann ging alles ganz schnell. sie und ich verstanden uns vom ersten augenblick an prima, eine wellenlänge oder so, wir liebten die gleichen filme, die gleiche musik, hatten die selbe weltanschauung und waren beide ziemlich von den schon erwähnten selbstdarstellern und dem anderen gesocks mäßig bis stark angekotzt. das einzige was absolut nicht passte war die sache mit ihrem job. grafik-designerin bei irgend so nem yuppi-new-age-verein. brave neo-iro-frisuren und koks bis zum anklopfen ans tor der neu erreichten weiblichkeit, das war im grunde alles was man über die einzelnen persönlichkeiten in der agentur sagen kann. aber sie war anders, mehr die alternative schiene. ein bißchen hier ein bißchen da aber trotzdem total straight in ihrer einstellung und der gutmütigste mensch der mir bis dato begegnet war. ich machte mich natürlich ständig über ihre aalglatten kollegen in der agentur lustig, beleidigungen und provokative anspielungen der dümmsten sorte meinerseits waren an der tagesordnung. in den ersten tagen lachte sie noch häufig mit und konnte nicht genug davon bekommen. nach ner woche allerdings ging ihr das gelaber von mir merklich auf die nerven, dass sie abends schon von mir angepisst war wenn sie nur durch die haustür trat, in der ständigen erwartung, wieder einen dieser, meiner meinung nach originellen aber leider total unangebrachten, sprüche von mir gedrückt zu bekommen. ich glaube man nennt das alltag...

nach genau 13 tagen war es dann soweit, sie kam abends nicht zu mir nach haus. weder abgesagt, geschweige denn auch nur einmal telefoniert an dem abend, was vorher nie passierte. ich dachte nicht dass es so ausgeht, wir hatten einen riesen spaß, waren ein (achtung phrase!) tolles team. jetzt begann ich allerdings an mir selbst zu zweifeln, wohlgemerkt, das erste mal seit jahren. wo war der hund begraben, beide die selbe einstellung: scheiss auf das establishment, wir sind die macht, sie haben die waffen aber wir sind in der überzahl, nieder mit den selbstdarstellern, möchtegerns und pseudos, keep it real, bleib immer du selbst usw. ...aber was heisst das alles eigentlich ...

am nächsten abend war wieder ein von ihr und mir, nicht nur wegen eines anstehenden artikels, voller spannung erwartetes konzert im kulturzentrum von einer, bei einschlägigen fachzeitschriften hochgelobten und als neuer stern am indie himmel gepriesenen, newcomer electro-blues-rock combo aus irgend nem skandinavischen loch. obwohl ich mehr als fertig war wegen der sache mit ihr, gemeldet hatte sie sich bis zum konzert natürlich nicht mehr, dachte ich mir, hingehen und schauen ob sie da ist. falls nicht bliebe ja immer noch die musik und der spott gegenüber der stumpfen abfeiernden masse.

die band hatte schon angefangen, wie gewohnt, machte ich's mir am lautsprecher bequem und versuchte mich fallen zu lassen, mich optimal von der musik in den späten abend leiten lassen. was bei meiner situation allerdings ungeahnt schwierig werden würde. ich schaute jeder aus der reihe fallenden bewegung hinterher, alles was auch nur ansatzweise nach ihr aussah wurde sofort in meinen fokus genommen. nach ner guten stunde war der erste part der band beendet, ohne dass ich auch nur ein funken von der musik mitbekam. ich schlenderte etwas verwirrt aber dennoch betont und vielleicht konstruiert lässig zu den getränken, holte mir was anständig hochprozentiges und machte mich wieder auf den weg zum geliebten lautsprecher, meinem geschätzten ort der geborgenheit, wie ich in diesem moment noch dachte. auf dem weg dahin fiel mir ein kerl auf, selber typ wie ich, gleicher scheiss-auf-alle-pseudos-ausdruck im gesicht, gleiche haltung, ja sogar fast die gleichen klamotten hatte er an. was ich direkt mitbekam, waren einige höchst amüsante abwertende kommentare über einzelne gestalten auf der tanzfläche. die band fing wieder zu spielen an. ich wollte gerade zu dem typ hingehn und anfangen mit ihm ein wenig über gott und die welt, aber vor allem über die abgerissenen typen auf der tanzfläche zu quatschen. und genau in dem moment tauchte plötzlich sie auf, glücklich wie nie und sowas von entspannt wirkend, wie ich sie, was mir bedauerlicherweise jetzt zum ersten mal auffiel, nie sah, griff sie an seinem arm und zog ihn auf die tanzfläche. getanzt haben die beiden bis in die frühen morgenstunden und das unter meiner ständigen beobachtung und ständig wiederholenden abartig-bissigen kommentaren über deren unausgegorenen tanzstil und generelles klischeehaftes balzverhalten, so gern ich gehen wollte, irgendwas hielt mich fest und ließ mich die zwei die komplette nacht beobachten und mich mit mir selbst reden. bemerkt oder erkannt hat sie mich nicht. wollte sie vermutlich auch nicht.

so gegen fünf uhr morgens, es war tiefster winter daher zum glück noch stockdunkel, bin ich dann gegangen. im schutz der dunkelheit an den beiden vorbei, an der tobenden und feiernden masse, zuletzt am dem finster dreinblickenden kahlrasierten extrem vernarbten türsteher der schon für einige unschöne gewaltaktionen bekannt war, darunter eben auch schwere körperverletzungen bis hin zum versuchten totschlag (zuletzt vor knapp 2 Wochen), und über den man sich in der jüngeren vergangenheit, häufiger auf äußerst lustige und makabre weise das maul zerissen hat. ein schwarzes shirt hatte der an, darauf stand in besonders auffallend fetten weißen buchstaben: "the better the music and the later the evening, the more of a tolerant human you can become".

im kulturzentrum war ich jetzt seit monaten nicht mehr, sie hab ich seit der nacht nicht mehr gesehn. geh' jetzt oft tanzen, mit freunden von früher.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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