Morris Stevensen

Plötzlich und unerwartet.

Es läuft in manchen Nächten schon ein merkwürdiger Film der Vorstellungen ab, da treiben Gedanken in unbekannte Höhen und muten der Seele einiges zu. Solche Vorstellungen entwickelt man nicht unbedingt selbst, die Träume spielen ein böses Spiel. Da spielt das erlebte des letzten Tages eine wichtige Rolle. Alle Informationen und Eindrücke werden gespeichert und verarbeitet und oft gemischt mit der eigenen Fantasie. So einen abgefahrenen Traum hatte ich glücklicher Weise auch, in einem mir nicht bekannten Ausmaß. Das Problem war nur, ich wollte zu einem bestimmten Zeitpunkt unbedingt wach werden, aber es gelang mir nicht. Obwohl der ganze Vorgang wahrscheinlich nur Minuten angedauert hat, mir kam es unendlich vor. Ich stand auf einem Friedhof und zwei Männer bewegten sich auf einer großen Rasenfläche, hin zu einem kleinen ausgehobenem Loch. Weit und breit war sonst kein Mensch zu sehen. Eine beängstigende Kälte stieg in mir auf. Der Ältere der Beiden ließ an einem dünnen Seil eine kleine schmucklose Urne in die Tiefe gleiten und murmelte ein paar unverständliche Worte. Ich ging auf die Männer zu und fragte: “Wer hat denn heute die letzte Ehre erhalten?” Der Mann schaute mich verwundert an und sagte: “Ein Namenloser hat hier seine Ruhe gefunden.” “Ein Mensch ohne Namen liegt hier, das kann und darf doch nicht sein. Im Leben hat doch jeder einen und eine Steuernummer, ob er will oder nicht. Von der Wiege bis zur Bahre ist doch alles dreifach dokumentiert.” “Ja, schon, aber eine neue Rechtsverordnung schreibt jetzt die namenlose Bestattung vor. Gilt aber nicht für Politiker und Angehörige der Mafia.” “Haben die abgefahrenen Politiker in Berlin nichts Besseres zu tun, als sich mit unserem Abgang zu beschäftigen, den sollen sie gefälligst uns überlassen, wir besorgen uns im Leben ja auch alles selbst.” “Da haben sie nicht Unrecht mein Herr, sie können in 10 Minuten noch an einer richtigen Beisetzung teilnehmen. Ein Politiker ist gestorben, sehr selten in unserem Land.” “Danke mein Herr für diesen Tipp, da gehe ich natürlich hin, diesen Augenblick der Neugier lasse ich mir an diesem Vormittag nicht entgehen.” Ich trotte zur Friedhofskapelle. Oh, nein, so viele Menschen. Bestimmt sind es 200 Trauergäste, alle in schwarz und grau gekleidet und 80 Prozent tragen eine Sonnenbrille. Drei Damen fallen aus dem Rahmen, sind bunt gekleidet und haben einen kurzen Rock, und blond sie auch noch. Sicherlich sind es Damen, die ihr Geld im Liegen verdienen. Man ist schon jetzt geneigt, Rückschlüsse auf den Verstorbenen zu ziehen. Die Gesellschaft zieht in die Kapelle ein. Einige haben es besonders eilig, wollen bestimmt in der ersten Reihe sitzen, vorn beim Leichnam. Ich schließe mich der Gesellschaft an und lasse mich in der letzte Reihe nieder. Der Abschied wird mit schwerer Musik eingeleitet. Ich höre schon einige Seufzer und hinter den Sonnenbrillen laufen die ersten Tränen. Oh, dieses Mitgefühl, der Verstorbene hat bestimmt einige angehäufte Reichtümer zu vererben. Der Pastor betritt das Podest von IKEA und schaut mit einem verschmitzten Lächeln in die Runde. “Liebe Trauergäste, einer von euch wird der Nächste sein, denn auch nach Ewald Potenta wird weiter gestorben. So war es schon immer, so wird es immer sein. Auch ich werde einmal die Erde verlassen, obwohl es ein großer Verlust für dieses Land wäre. Nun komme ich aber zu unserem lieben Ewald. Er ist plötzlich und unerwartet von uns gegangen, obwohl er erst 93 Jahre ist. In seinem doch kurzem Leben hat er für sein Land gewirkt und vieles auf den Weg gebracht. Er hat viele lukrative Führungsaufgaben ausgeübt, war in vielen Vorständen vertreten und konnte immer seinen Sachverstand einbringen. Zahlreiche Erfolge hat er erzielt. Da ist die gerade beschlossene Kartoffelsackverordnung, die nach EU -Norm verfasst wurde. Da sind die vielen Referentenentwürfe von ihm, die später in Gesetze einflossen. Sehr schön war sein genialer Doppelentwurf für Kriegsdienstverweigerer. Im Ernstfall sollte diese Personengruppe in Minensuchkommandos für Deutschland eingesetzt werden. War vielleicht makaber, aber jeder in diesem Land hat seine Pflichten gegenüber dem Staat zu erbringen. Und nun komme ich zu seiner lieben Familie. Liebe Frau Potenta, sie als siebte Ehefrau von Ewald haben es in diesen Stunden sehr schwer. Ihr geliebter Gatte ist von ihnen gegangen und hinterlässt sie und acht Kinder, sowie 24 Enkelkinder. Sie alle müssen jetzt tapfer das Erbe antreten, im Sinne von Ewald. Ich möchte an dieser Stelle der Testamentseröffnung nicht vorgreifen, aber die drei jungen Damen in der hinteren Reihe, gehen nicht leer aus. Ewald hat mir auf dem Sterbebett dieses kleine Geheimnis anvertraut. Der Verstorbene hat ihre Dienst nicht vergessen. Das Motto von Ewald war ja immer in seinem Leben: Ich lasse es mir machen, an guten und schlechten Tagen. Ja, so war unser Ewald, immer zu einem Scherz aufgelegt und dem Leben mit Freundlichkeit begegnet. Nun ist aber seine Reise zu Ende, er darf jetzt ruhen und sich einen Platz im Himmel suchen. Den hat er sich verdient, denn er war immer ehrlich zu sich selbst, war nie in einem Spendenskandal der CDU/SPD verwickelt, und seine Konten in Lichtenstein und Luxemburg hatten immer nette Decknamen. Mir persönlich gefiel die Bezeichnung: Wildes Täubchen und Bordsteinschwalbe. Der Schatten des fliegenden Vogels bewegt sich nicht, war die Krönung. Jetzt kann ich ja die Decknamen ruhig nennen, die Konten sind ja bereits von der Familie leergeräumt. Ja, Ewald war auch ein Freund der Natur, besonders Schwalben hatten es ihm angetan. Zum Abschluss unserer schönen Trauerfeier spiele ich noch seine Lieblings-Songs, ein starker Wunsch von Ewald. Zunächst erklingt das Lied: Das große Schiff der Illusionen, anschließend der geile Rock-Song, mit dem passenden Titel: Alles ist vorbei. Ich danke allen Trauergästen für ihr Kommen und sage bis zur nächsten Feier: Alles wird gut.” Als der letzte Song erklang war ich geschafft und versuchte wach zu werden. Ich schaffte es, setzte mich auf meine Bettkante und weinte. Oh, war das alles aufregend und ergreifend. Hoffentlich kann ich später meine Trauerfeier live miterleben, schon wegen der himmlischen Stimmung. Nur einen anderen Blumenschmuck hätte ich gern. Mein Sarg soll nicht mit Wicken geschmückt sein, ein Hinweis auf Ewalds intensives Leben. Ich habe mich schon jetzt für Margeriten entschieden, eine Blume die verzaubert in ihrer Schlichtheit und damit mein bisheriges Leben gut beschreibt. Alle Rechte beim Autor @ Morris Stevensen 2006

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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