Florence Siwak
Messerscharf
Und wieder geht er durch die Straßen - der Mörder.
Ein
Mensch, der durch die nasskalte Dunkelheit schlendert, die Hände
frierend in den Taschen vergraben, das Messer wie die Hand eines
Freundes umklammernd.
Suchende Augen blicken in Fenster, aus
denen warmes, gelbes Licht fällt, das den Abend draußen, vor den Türen,
noch kälter erscheinen lässt.
Augen, die ziellos umher schweifen, bis sie zur Ruhe kommen beim Anblick einer jungen Frau.
Jemand geht durch die Straßen, der ihr helles Lachen mit einem Messer zerschneidet.
Sie werden kaum berührt, diese Frauen, sie werden mit einem einzigen scharfen Schnitt zum Verstummen gebracht - für immer.
"Sei vorsichtig" sagt meine Schwester zu mir.
"Sei vorsichtig, wenn Du heute abend nach Hause kommst. Obwohl..."
Unter ihrem prüfenden Blick fühle ich mich noch unbeholfener und hölzener.
Ihre Augen ruhen wohlgefällig auf ihrem eigenen Körper, als sie in den Spiegel hinter mir sieht.
Ihre
weißen Hände gleiten selbstvergessen über ihre Hüften, das Lampenlicht
schlägt Funken aus den zwei großen Ringen, die diese Hände mit den
langen, eleganten Fingern schmücken.
Tausendmal schon habe
ich an ihr und zuvor an unserer Mutter diese weichen, glättenden
Bewegungen gesehen und fasziniert das Funkeln der farbigen Steine
bewundert.
"Obwohl - hab' keine Angst, Kleines. Du hast sicher nichts zu befürchten."
Mitleid schwingt in ihrer Stimme. Mitleid, das mich vor Zorn stumm macht.
"Sieh Dich trotzdem vor. Geh' nachher direkt nach Hause. Ich werde erst später kommen."
Ihre
Gedanken sind schon nicht mehr bei mir. Das sehe ich ihr an, als ich
versuche, ihren Blick festzuhalten, der achtlos an mir vorbeifliegt.
Ihre Gedanken sind schon in die Zukunft gerichtet - bei ihm.
Stocksteif stehe ich im Zimmer; mein Körper ist eisig.
Mühsam
schlurfe ich in den Flur, ziehe den Anorak an und stülpe achtlos die
Mütze über meine Haare, denn es ist Herbst und die Kälte ist nicht nur
in mir.
Hilfesuchend greife ich in die Tasche und umfasse zärtlich den vertrauten glatten Griff aus Perlmutt.
Vater hat es m i r geschenkt. M i r, nicht ihr. Mir hat er es gegeben, sein Rasiermesser.
Ich höre noch sein Lachen, als er es mir heimlich zusteckte.
"Schade, dass Dir nie ein Bart wachsen wird, mein Kleines.
Hier - verstecke es gut, lass es Dir nicht wegnehmen."
Ich brauche nur kurz die Augen zu schließen, dann sehe ich sein verschwörerisches Grinsen vor mir.
Ich schaue in den Spiegel. Das Gesicht, das mir entgegen blickt - mein Gesicht - ist schön.
Meine
Augen glänzen, so wie die Augen der Frauen geglänzt haben, sogar noch,
als sich zwischen ihrem Gesicht und ihren Schultern ein breiter Spalt
auftat, aus dem langsam und klebrig ihr Leben quoll, bis es schließlich
auf der Straße im Rinnstein versickerte.
Ich bin nun ganz ruhig.
Leise
verlasse ich die Wohnung und schlendere langsam durch die Straßen,
meine Hände in den Taschen vergraben, das Messer zärtlich umfassend wie
die Hand eines Freundes...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.01.2006.
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