,,Oh trüg ich doch ein männlich Herz in mir, das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt, vor jeder anderen Stimme sich verschließt"
Vielleicht hatten Sie und ich bisher einfach Glück, denn heutzutage wird einem kaum abgenötigt, den eigenen Bruder nebst Weggefährten zu opfern. Für den König, die Loyalität oder die reine Seele eben. Zugegeben, die Überlegung erscheint völlig überholt, doch wie würden sie entscheiden, wären Sie Iphigenie? Sie müssen täglich hunderte von Entscheidungen treffen, angefangen von der Milchmenge im Morgenkaffee über die Auswahl ihrer Unterhose bis hin zur Entscheidung, mit wem oder was Sie ihre wertvolle Freizeit verbringen wollen. Dann könnten Sie auch mal überlegen, wie Sie sich entscheiden würden als zwangsverpflichtete Hohepriesterin in einem Dianentempel, die ihren Dienstherrn austricksen soll um den Bruder vor dem sicheren Opfertod zu retten. Eine fast alltägliche Überlegung, wenn man so will. Und nehmen Sie mal nicht an, Iphigenie wäre in unserer Zeit doch sicher eine wertepluralistisch-relativistische Rotzgöre, die Piercings trägt, tätowiert ist und sich Ecstasy hinter die Ohren pfeift.
Würden Sie ihren eigenen Bruder opfern? Der höheren Werte und des Gewissens zuliebe? Das wäre idealistisch, aber es wäre auch unendlich dumm, oder? Und gehen Sie mal nicht davon aus, dass sich das Missverständnis doch noch irgendwie klären liesse und alle zufrieden und unter dem erleichterten Beifall kulturinteressierter Bürger von dannen ziehen könnten. Dann müssten Sie sich ihr Leben lang die Frage stellen lassen wie Sie nur so naiv sein konnten, nicht wahr?
Gewiss, ihr Bruder könnte jemand sein, der sogar schon Morde begangen hat, aus welchen Motiven auch immer, Iphigenies Bruder eben. Aber wie unbefangen und erhaben müsste man sein, für eine abstrakte Verpflichtung, ein zweifelhaftes divines Verehrungssystem und ein überragendes klassisches Ideal den Mord an seinem Bruder in Kauf zu nehmen?
Natürlich, Sie nehmen das Morden von Menschen überhaupt nicht in Kauf, Sie sind nämlich Pazifist und als solcher immer um die friedlichste aller Lösungen bemüht. Wie Iphigenie, die Hadernde, die Zwiegespaltene, die Dialektische. Aber nehmen Sie auch an, Sie befinden sich nicht auf dem Monatstreffen ihrer Amnesty-Ortsgruppe in Dinkelscherben oder Brunsbüttel oder als Laienschauspieler auf einer der Theaterbühnen dieser Republik, sondern Sie sind dort, wo man eine Sprache spricht und versteht. Die der Gewalt, des unendlichen Hasses, eine Syntax des Tötens und Mordens. Sie sind dort, wo Goethe für schwul oder dekadent gehalten wird, Iphigenie für hysterisch und Tauris gänzlich unbekannt ist. Mag sein, sie sind gebildet, humanistisch, altruistisch, sprechen stets die Sprache der Vernunft und glauben nicht daran, dass man Gewalt mit Gegengewalt lösen kann.
Aber wen interessiert es, wenn Sie ein Meer mit Tränen und Mitleid füllen könnten, wenn alle Welt nach einer Blutlache giert? Glauben Sie nicht, dass auch Sie ihr charmantestes Lächeln aufsetzen würden und jeden dahergelaufenen Strassenköder als ihren Bruder verkaufen könnten? Ungeachtet der Würde des Strassenköders und der Ehre Ihres Bruders? Und ungeachtet dessen, dass Sie Menschenopfer für perverse Götterkannibalen eigentlich doof finden?
Mag sein, Sie hätten somit nicht viel von Pflicht und Neigung verstanden, Sie wären kein klassisches Ideal, man würde Ihnen mangelndes Kulturverständnis vorwerfen und niemand würde ein Buch über ihre sich selbst übertreffende Loyalität schreiben. Doch interessiert sie das überhaupt, wenn sie einem Menschen und als Weib Iphigenie sogar einem nahen Anverwandten das Leben retten konnten? Nun gut, bisher hatten Sie und ich ja Glück und heutzutage wird einem kaum abgenötigt, seinen eigenen Bruder zu opfern. Wie absurd auch...