Carine Redlinger
Das Edelweiß
Die Haustür flog auf, außer Atem stürzte Max in die Wohnstube.
"Wie geht es der Mami heute?"
Mit großen Augen sah er seine Großmutter an.
"Ach Maxl, nicht so gut. Der Doktor ist bei ihr."
Der Junge wollte zu seiner Mutter, aber die Großmutter hielt ihn zurück. "Du kannst jetzt nicht zu ihr. Warte, bis der Doktor kommt" Mit Tränen in den Augen blieb der kleine Junge vor der Schlafzimmertür stehen. Diese war nur angelehnt.
"Steht es wirklich so schlecht um mich Herr Doktor?"
Leise und müde klang die Stimme seiner Mutter.
"Mit einer Erkältung dieser Art ist nicht zu spaßen Frau Huber. Heute haben wir zwar für fast alles Medikamente, aber jedes Jahr sterben immer noch viel zu viele Menschen an einer einfachen Grippe. Wenn das Antibiotikum nicht anschlägt, stehen auch wir Ärzte hilflos daneben."
Der Arzt schien recht besorgt zu sein. Dann hörte Max wieder die schwache Stimme der Mutter.
"Wir leben nun schon so lange bei der Oma auf dem Hof. Sie hat uns so herzlich aufgenommen nach dem Tod meines Mannes. Aber ich hatte noch nie die Gelegenheit eine kleine Bergtour mit meinem Sohn zu machen. Wir wollten doch gemeinsam Edelweiß suchen. Ich habe noch nie ein echtes Edelweiß gesehen. Ich möchte es so gerne einmal berühren und fühlen ob es wirklich so samtig und weich ist, wie es ausschaut."
"Frau Huber, werden Sie nur bald wieder gesund. Ein Edelweiß finden ist einfacher als sie wieder auf die Beine zu bekommen."
Der Arzt verabschiedete sich und verließ das Zimmer.
Als Max ins Schlafzimmer trat, sah er, dass seine Mutter eingeschlafen war. Er huschte leise in die Wohnstube zurück, nahm einen kleinen Rucksack, füllte ihn mit Brot, Käse und einer Flasche Wasser. Dann griff er den Wanderstock seines Großvaters, setzte seinen Filzhut auf und verließ das Haus.
"Max, wo willst du hin?"
Seine Großmutter stand am Fenster und sah ihm nach.
"Ich treffe mich mit Sepp und helfe ihm mit den Ziegen."
Max winkte seiner Großmutter zu und machte sich an den Anstieg. Die Hitze drückte und es war sehr schwül. Von weitem hörte er das Meckern der Ziegen.
"Grüß dich Max, was machst du denn hier?"
Sepp kam hinter einem Busch hervor.
"Sepp, du musst mir helfen! Ich muss unbedingt ein Edelweiß finden. Es ist sehr wichtig."
Der bärtige Mann lachte über den kleinen Buben, der aufgeregt mit roten Wangen und außer Atem vor ihm stand.
"Na, Maxl, hast du eine kleine Freundin, die du mit dem Blümchen beeindrucken möchtest?"
Max' Blick verdunkelte sich. Er mochte es nicht, wenn man sich lustig über ihn macht.
"Nein, es soll für meine Mutter sein. Sie hat noch nie ein richtiges Edelweiß in der Hand gehabt."
"Ja, wenn das so ist, dann brauchst du nur noch höher aufzusteigen. Dort, wo es ziemlich kahl wird, da müssten noch ein paar dieser Pflanzen stehen. Ich würde dich gerne begleiten, aber ich kann die Ziegen nicht so lange alleine lassen."
Sepp zeigte ihm die Richtung, und der kleine Bub eilte weiter. Nach einigen Stunden machte er eine kurze Rast und aß sein Brot. Er trank einen Schluck Wasser, machte sich aber gleich wieder auf den Weg. Max war schon sehr weit nach oben gestiegen. Die Vegetation wurde immer spärlicher. Doch es vergingen noch fast zwei Stunden, bis er sie sah.
Wie eine Königin stand sie da, stolz und weiß, ihre Blüten wie eine Krone um das Haupt. Vorsichtig brach Max die Blume unten am Stengel ab, legte sie auf seinen Kopf und setzte den Filzhut drauf. Dort konnte die Blume nicht zerdrückt werden. Glücklich lachend sah er hinunter ins Tal. So schnell seine Füße ihn tragen konnten, lief er den Berg hinab. Die Dämmerung brach herein. Der Hof seiner Großmutter, der oben auf dem Gipfel wie ein Puppenhaus aussah, wurde mit jedem Schritt größer. Als es schon dunkel wurde, kam Max schnaufend und um Luft ringend in den Hof gerannt. Seine Großmutter saß vor dem Haus auf der Bank, obwohl es schon merklich kühl wurde. Ihre Haltung hatte etwas Trauriges.
Max überkam das Gefühl, als würden zwei riesige Hände nach seinem kleinen Herzen greifen und es zerquetschen.
"Omi, wie geht es der Mami?"
Mit Tränen in den Augen sah die alte Frau ihn an.
"Ach, Maxl, mein Junge, deine Mami ist von uns gegangen. Es war nicht nur die Grippe die an ihr zerrte. Sie hat nie den Tod deines Vaters verkraftet. Jetzt ist sie für immer bei ihm."
Sein Aufschrei zerriss der alten Frau das Herz. Sie drückte ihn ganz fest an sich und strich ihm über sein dunkles Haar.
Schluchzend erzählte Max, dass er oben auf dem Berg war, um ein Edelweiß für seine Mutter zu holen.
Noch einmal drückte die Großmutter den Buben fest an sich.
"Geh zu deiner Mutter und verabschiede dich von ihr."
Mit zitternden Händen öffnete der kleine Junge die Tür zum Schlafzimmer.
Seine Mutter lag auf dem Bett als schliefe sie. Ihr schönes Gesicht war blass. Max ging auf sie zu und küsste ihre kalten Wangen. Er legte das Edelweiß auf ihre gefalteten Hände, dabei tropften seine Tränen auf die samtigen Blüten.
Als er seine Mutter ein letztes Mal zum Abschied ansah, war ihm, als würde sie lächeln, und ein kleiner Teil seines Schmerzes schien zu schwinden.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2006.
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