Horst Dreizler

Morgengrauen

Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, als das Fahrzeug auf der Hügelkuppe erscheint.
Es ist einer dieser kleinen Transporter mit geschlossenem Führerhaus und Container auf der Ladefläche.
Durch ein rotes, wogendes Meer tastet sich der Lkw die Serpentinen hinab zu einer Gruppe verfallener Gebäude, die kalkweiss in der Sonne leuchten als deutlicher Kontrast zu der Umgebung , die wie eine
riesige, frische Wunde unter dem strahlend blauen Himmel liegt.
Es ist Ende Mai, man riecht den Sommer schon und die ganze Welt ist rot.......blutrot......Schlafmohnrot.
Vor den Gebäuden hält der Transporter mit leise quietschenden Bremsen.
Drei Männer springen vom Vordersitz, jung, höchstens dreissig, durchtrainiert, in dunklen, leichten Overalls ; um die Hüften baumeln grosskaliberige Revolver, über den Schultern hängen kurzläufige MP´s.
Rasch und stumm verteilen sie sich auf die Gebäude, durchkämmen professionell Raum für Raum, nahezu geräuschlos.
Es sind Jäger, staatlich beauftragte Jäger, die nach entlaufenem Lebendfleisch suchen, nach Prodos.
Eine Viertelstunde später treffen sie sich wieder beim Fahrzeug. Alle drei schütteln den Kopf.
Sie lassen sich im Schatten ihres Gefährts nieder, packen ihre Verpflegungsration aus (Trockenfleisch,
Fladenbrot, Vitaminwürfel), einer holt den Wasserkanister. Pause. Sie unterhalten sich leise, beklagen
ihr Jagdpech, essen und trinken und reiben sich dann und wann müde übers Gesicht.
Nach der Mahlzeit zieht einer der drei eine futuristisch anmutende Pistole hervor, legt eine Ampulle ein
und drückt sie auf dem Oberschenkel eines jeden Kollegen ab, zuletzt bei sich selbst.
Das Gefühl der Müdigkeit ist wie weggeblasen, neue Spannkraft durchflutet die Körper, lachend packen
sie die Essensreste weg, die Augen leuchten, die Pupillen sind stecknadelkopfgross.
Gerade wollen sie einsteigen, als ihre hypersensiblen Sinne ein kratzendes Geräusch vernehmen,
ein leises, kratzendes Geräusch aus einem der Gebäude, das ihnen so laut vorkommt, wie das donnern
einer Kanone............


(aus: Bericht staatliches Jagdkommando 2, Borderstadtarchive, Mai 2130)
*********
 
Diacethylmorphin, auch Diamorphin genannt, allgemein aber unter dem Namen Heroin bekannt
war ausgangs des 2. und zu Beginn des 3. Jahrtausends eine illegale Droge, die gesundheits -
und gesellschaftspolitisch grosse Probleme brachte. Jährlich starben zehntausende an den mittelbaren
Folgen dieses Drogenkonsums wie Hepatitis B und C, sowie HIV.
Im Dunstkreis des Heroins entwickelte sich ein globaler Kriminalitätssumpf, beherrscht von der Mafia
in ihren verschiedenen Spielarten, von Mord , Erpressung, Korruption, Prostitution bis zur Beschaffungskriminalität
mit kleineren und grösseren Diebstählen wurde die gesamte Palette kriminellen Treibens abgedeckt.
Als nun zu Beginn des 3.Jahrtausends die grossen Tierseuchen ausbrachen, beginnend in England , dann
über Europa gegen Ende des ersten Jahrzehnts die ganze Erde umfassend, stand die Welt vor einem neuen Problem.
Die anfänglich favorisierten Sojaprodukte boten nicht den gewünschten Fleischersatz, es tauchten illegale
Fleischprodukte auf, die rasch eine ständig grösser werdende Anhängerschaft fanden.
Untersuchungen von beschlagnahmten Fleischprodukten nach der Fleischart ergaben Ergebnisse, die sofort unter
Geheimhaltungsstufe 1 fielen und nicht veröffentlicht wurden. Es kam zu vielen ungeklärten Todesfällen in den
betroffenen Ministerien, die man offiziell als Unglücksfälle z.T. als Selbstmorde deklarierte.
Tatsache war, dass nach dem Wahlsieg der " Partei im Gleichschritt" in Europa und bald nach dem" Karr`schen
Pilotprojekt" ein neues Zeitalter der Fleischproduktion Einzug hielt.
Die Welt wollte frisches Fleisch und sie bekam frisches Fleisch.
Doch die anfänglich ausgeprägten moralisch-religiösen Bedenken brachte das Projekt fast zum scheitern.
Hier kam nun das Heroin zum Einsatz.
Es war schon lange bekannt, das der reine Gebrauch ausser einer Abhängigkeit keinerlei
körperliche Schäden nach sich zog (im Gegensatz zu z.B. Alkohol). Die o.g. Erkrankungen waren durchweg
auf verunreinigte Spritzenbestecke oder auf Fremdbeimengungen zum reinen Heroin zurückzuführen.

Ab dem Jahr 2005 wurde zunächst versuchsweise, ab dem Jahr 2008 dann generell Heroin in Trinkwasser
und Grundnahrungsmittel wie Mehl beigemischt. Die Proteste gegen die Fleischproduktion verschwanden
sukzessive.

(aus: Die Welt im 3.Jahrtausend, Wie alles begann.....Dr. K.Annibal, Borderstadt Archive, Jahrgang 2150)
 
*****
 
Das Geräusch kommt aus dem mittleren Gebäude.
Die Jäger verteilen sich, zwei ans Fenster, der dritte huscht durch die Tür.
Angst vor Angriffen haben sie nicht....Prodos greifen nicht an, sie fliehen
nur.
Das einstöckige Haus ist leer. Ruhig bleibt der Jäger stehen, kontrolliert
seinen Atem, alle Sinne angespannt.
Mit einem lauten krachen schlägt die Bodenluke auf, vier, fünf Gestalten hetzen
heraus, überschlagen sich, kommen rasch wieder auf die Beine, schmutzverkrustet,
nackt.....jung, es sind Kinder, höchstens zehn, zwölf Jahre alt.....sie kreischen
schrill, dazwischen ein keckern wie von Papageien...drei versuchen durch die Fenster zu
entkommen...die Jäger wussten das.
Blitzschnell reissen sie ihre MP´s hoch, rote Laserstrahlen suchen ihre Ziele und finden
sie.....leises, dumpfes pochen...sie schiessen ihnen in den Kopf, das Muskelfleisch darf
keinen Schaden nehmen....
Kurze Zeit später sind die Kadaver im Kühlcontainer verstaut und der Lkw rollt wieder die
Serpentinen zur Hügelkuppe hoch.....

Die Hügel glänzen blutrot in der Mittagssonne, der Wind streicht gleichförmige Wellen
in den Mohn....den Schlafmohn.....kalkweiss liegen die verfallenen Gebäude da,
eine Tür bewegt sich quietschend in den Angeln und schlägt zu.....



( Borderstadt Archive, audio-visuelle Aufzeichnung staatliche Jagdkommandos, Mai 2130)
 
*****
 
Prodos = Proteindonatoren

Nach der Machtübernahme "Partei im Gleichschritt" in der ersten Dekade
des 3. Jahrtausends wurde erstmal im "Pilotprojekt Karr" offiziell nach Alternativen
der Fleischerzeugung gesucht. Die Tierhaltung war auf Grund von Erregerresistenzen
nicht mehr anwendbar.
Im Internat Karr wurden Kinder, zunächst Waisen, später dann "auffällige" Kinder
aus Familien (hyperaktive, rebellische, unangepasste Kinder) aufgenommen, gut versorgt
und dann im Alter zwischen 10 - 12 Jahren der Fleischverwertung zugeführt.
Wie genau der Exekutionsprozess abläuft ist nur wenigen bekannt und als Staatsgeheimnis eingestuft.
Es soll aber schmerzlos und überwiegend automatisch ablaufen.
Jetzt, viele Jahrzehnte nach diesem Pilotprojekt, gibt es die Internate auf der ganzen Welt,
meist angeschlossen sind Zuchtanstalten, wo Prodofrauen Junge gebären, grosse Anstalten,die in schönen
Landschaftsgebieten liegen.
Eine intellektuelle Schulung dieser Geschöpfe findet selbstverständlich nicht statt,
wichtig ist nur die gute und gesunde Ernährung. Eine eigene Sprache haben sie nicht, sie unterhalten
sich mit Schnatter- und Zischlauten, ähnlich Vögel, sind nur triebgesteuert, Nahrungsaufnahme und
Paarungstrieb bestimmt ihr Leben. Im Laufe der Zeit hat sich eine Geschlechtsreife zwischen dem 7.-9. Lebensjahr
eingestellt, für die Zucht von unschätzbarem Vorteil.
...von Zeit zu Zeit versuchen einige aus den Anstalten zu fliehen, werden allerdings in der Regel
von den gut ausgebildeten staatlichen Jagdkommandos relativ rasch wieder "gefasst"...

......in der Regel heisst, dass auch schon Gruppen entkommen sein sollen, in die grossen Waldgebiete...

...angeblich....



( aus: Proteindonatoren Die Geschichte der, Borderstadtarchiv, 2150 )

Das Ende?




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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