Florian Möller

Drei sind geladen

Obwohl es erst sechs Uhr morgens war, brannte die Sonne bereits auf der Haut. Sie hatten uns allen Schutzkleidung gegeben, natürlich im Khakimuster, doch gegen die Sonne half sie kaum. Aus einem alten, weißen T-Shirt hatte ich mir ein Kopfschutz gebunden und goß zyklisch meine Wasserreserve drüber, damit die Sonne nicht auf der Glatze brannte. Hier wurden dir die Haare abrasiert, jedem von uns. Zum Schutz gegen Läuse. Als wenn es hier draußen Läuse gab. Gegen die Hitze schützte die Glatze nicht. Doch wenn man sich nicht gegen die Wärme wehrte, wurde man früher oder später bescheuert. Das Gehirn machte einfach nicht mehr mit.
          Wir waren vier Mann in einem Zelt. Winkert, Boeven, Harloff und ich. Das Zelt war wieder voll Sand, der nachts durch den Wind hineingetragen wurde. Boeven stand als Erster nach dem Weckruf auf, putzte seine Brille und ging hinaus in den Sand pinkeln. Eine andere Möglichkeit gab es leider nicht, außer in 300 Km Entfernung, also pinkelte jeder in den Sand.
          Ich warf als Zweiter die Bettdecke von mir. Die nächste Stunde würde wie jeden Tag verlaufen: waschen, anziehen, hinaus zum Appell, frühstücken und morgendliches Training. Dabei wurden wir sowieso nie eingesetzt. Wir waren die Ersatztruppe für die Ersatztruppe, uns brauchte niemand, ab und zu durften wir die Hinrichtungen vornehmen, sonst hatten wir keine richtige Aufgabe. Und doch mußten wir hier in diesem Nirgendwo ausharren. Das war unser Schicksal, wenigstens krepierten wir so nicht an der Front. Wenn der Wind östlich lag, konnte man die Schreie und Schüsse hören.
          Außer täglichem Training paßten wir auf die Kriegsgefangenen auf. Sie waren wie Vieh in einen Käfig zusammengesperrt. Nur ein Tuch über dem Eisengerüst schützte sie vor der Sonne.
          Wie gesagt, manchmal nahmen wir auch Hinrichtungen vor, auf Befehl von oben oder wenn es einfach zu viele Gefangene wurden. Aber meistens machten das die Amis, unsere Alliierten. Jedoch nicht an diesem Tag. Sie hatten es satt, die Leichen im Sand beseitigen zu müssen. Deswegen erteilte man uns den Auftrag. Wir erfuhren es nach dem Frühstück. Niemand von uns Vieren hatte schon einmal einen Menschen getötet, obwohl wir uns im Krieg befanden. Wir würden uns dem Befehl nicht widersetzen, aber jeder von uns dachte wohl das Gleiche, nur niemand sprach es aus.
          Der Colonel wußte von unserer Lage. Eigentlich war er immer gut zu seiner Truppe, deswegen durften wir vier «Auserwählten» auch das Training ausfallen lassen.
          Das Frühstück nahmen wir nach den anderen ein, wir wollten allein sein. Obwohl wir hier völlig abgeschnitten waren, so schlecht war die Versorgung nicht. Frisch gewaschen gingen wir ins Kantinenzelt. Nur Boeven blieb draußen vorm Eingang sitzen. Winkert, Harloff und ich setzten uns.
          «Obwohl wir jeden Tag trainieren, hätte ich nicht gedacht, daß es früher oder später zum Ernstfall kommen würde», sagte Harloff in die Runde. Ich nickte ein wenig mit dem Kopf.
          «Zu was für einem Ernstfall?», fragte Winkert, «Es ist nur eine Hinrichtung, nicht der richtige Krieg. Sicher, heute wird jemand sterben, aber wir werden es nicht sein. Und das beruhigt mich. Ich werde zielen, meine Augen schließen, auf den Befehl warten, ...und abdrücken. Fertig.»
          «Du wirst nach der Hinrichtung keine Ruhe mehr haben, Winkert», sagte Harloff zu ihm. Winkert hörte nicht auf zu essen, hob nicht den Kopf und fragte: «Wieso?»
          «Dein Gewissen macht das nicht mit. Du wirst dich wie ein verdammter Mörder fühlen, wie wir anderen drei auch.»
          «Meinst du, ja? Das weiß ich auch, daß ich jemanden erschieße. Doch ich werde ihm vorm Abdrücken erst gar nicht in die Augen sehen, verstanden? Ich kenne ihn nicht, ich vermisse ihn nicht und werde es auch nicht bedauern.»
          Er nahm sein Glas Wasser und trank es mit einem Schluck aus.
          «Und übrigens, es sind nur drei Gewehre geladen, eins ist leer.»
          Winkert stand auf und ging.
          Ich sah auf und richtete meinen Blick auf Harloff.
          «Was meint er denn damit?» fragte ich ihn. Er lächelte ein wenig.
          «Ein alter Militärbrauch», antwortete er,« drei sind geladen, eins ist leer.» Er trank einen Schluck. «Weißt du, drei präzise gezielte Kugeln aus unseren Standardgewehren überlebst du nicht, das überlebt niemand. Und wir nehmen heute nicht die erste Hinrichtung in der Geschichte des Militärs vor. Oh nein, diese Bastarde haben schon viele auf dem Gewissen, und nicht nur in Hinrichtungen oder im Krieg. Sie bilden Millionen aus, um sie zum Töten einzusetzen, währenddessen sie eigentlich nur Schach spielen. Wir sollen ohne zu zögern abdrücken. Im Krieg, auf dem Schlachtfeld, mag dies ja auch funktionieren. Du machst es dort um selbst zu überleben. Entweder du oder sie. Aber heute Nachmittag heißt es nur sie. Wir wissen hundertprozentig, daß wir morgen früh wieder aufstehen werden, um zu trainieren. Das ist der Unterschied. Und das weiß auch dein Gewissen. Folglich werden wir indirekt zu Mördern. Zu Hause würden wir dafür angeklagt werden, hier bekommen wir einen Orden.
          Weißt du, viele sind schon nach Hinrichtungen zusammengebrochen. Die Nerven. Doch so toll wie das Militär ist, hat sie die ultimative Lösung dafür gefunden: Das vierte Gewehr ist nicht geladen, verstehst du? Vier Schützen, aber nur drei Mörder. Nur drei feuern wirklich, der vierte spielt nur. Einer bleibt unschuldig wie ein kleines Lamm. Nur wer das ist, das weiß keiner, nicht einmal der Colonel. Die Gewehre werden zufällig ausgeteilt. Clever, nicht wahr? Es ist einfach genial, das Militär. So kann jeder von uns behaupten, er wäre der vierte gewesen, er hätte nicht geschossen. Drei sind geladen, eins ist leer.»
          Harloff ging, ich blieb sitzen. Und ich fragte mich, ob es wirklich so schwer war, einen Mann zu töten.
          Nachdem ich aufgegessen hatte, verließ ich das Kantinenzelt. Boeven saß da und aß. Winkert hatte ihm etwas hinaus gebracht. Er kaute und starrte geradeaus. Die Hitze war wieder fast unerträglich und der Horizont verschwand in einer riesigen Staubwolke. Ich setzte mich zu Boeven in den Sand.
          «Wie geht’s?», fragte ich ihn. Er fing an zu lächeln.
          «Du kannst nicht gut ein Gespräch anfangen», sagte er, und dann: «Harloff hat dir davon erzählt, nicht wahr? Drei sind geladen, eins ist leer, stimmt? Wir werden gezwungen zu töten.
          Hast du dich einmal gefragt, ob er eine Familie hat? Oder was er eigentlich getan hat?
          Ich hab‘ den Colonel gefragt vor dem Frühstück. Allerdings hat er mir keine Antwort gegeben. Seiner Meinung nach dürfe er nicht darüber sprechen, wir müssen einfach nur abdrücken, für den Rest sei er zuständig.
          Wir werden zu Mördern und wissen nicht warum. Aber ich sage dir eines: drei sind geladen, meines ist leer.» Boeven stand auf und ging ins Zelt. Noch drei Stunden bis zur Hinrichtung. Angst überkam mich. Und mit ihr kam gleichzeitig die Hoffnung, drei sind geladen, meines würde leer sein. Ein absurder Gedanke.
          Drei Stunden. Ich dachte an zu Hause. Letzte Woche sollte es in Strömen geregnet haben. Schöner, kalter Regen. Mein Vater hatte Dienstag Geburtstag gehabt, er ist so stolz auf mich. Ich sah in den Himmel, keine einzige Wolke. Ob er auch an seine Familie dachte, jetzt in den letzten Stunden? Ich mußte hinaus aus der Sonne, vielleicht ein bißchen schlafen und nachdenken.
          Auf meinem Weg ins Zelt hatte ich Harloff gesehen, der sich halb in den Sand gegraben hatte. Ein guter Schutz gegen Hitze. Im Vorraum unseres Zeltes saß Winkert und reinigte sein Gewehr.
          «Ich dachte, wir schießen nicht mit unseren eigenen Gewehren?», fragte ich ihn, dessen Blick dem eines Uhrmachers glich.
          «Werden wir auch nicht», beantwortete Winkert meine Frage und einen Augenblick danach:
          «Ich langweile mich nur, um deine zweite Frage zu beantworten. Beim Laufreinigen kann ich gut abschalten, frag bitte nicht warum.» Er sah auf in meine Augen. Zweifel wuchs in mir. War Winkert wirklich so hart. War es für ihn kinderleicht, diesen Menschen umzubringen?
          Ich löste meinen verharrten Blick aus seinen Augen und er zog seinen Hut tiefer. Selbstschutz?
          «Genau das war auch mein Gedanke, Entspannen. Ich leg‘ mich noch einmal hin.»
          «Das Zelt gleicht einer Sauna, das weißt du hoffentlich.»
          «Mir egal. Ich will mich nur hinlegen. Weckst du mich bitte eine Stunde vor ...» Mir fehlte das passende Wort.
          «Ja, mache ich», setzte Winkert ein. Mir schien, er wußte selbst kein Wort dafür. Ich ging ins Zelt. Eine halbe Stunde später kam Harloff nach. Ich tat so als ob ich schlief, war aber schon immer ein schlechter Schauspieler gewesen, hundertprozentig hatte Harloff es bemerkt. Doch auch er legte sich nur in sein Feldbett und schwebte in seinen Gedanken. Schlafen gelang mir wie auch ihm nicht, doch ein paar Minuten dösten wir beide. In dieser Zeit entschweiften meine Gedanken in alle möglichen Richtungen. Ich dachte an meine Freundin. Die Zivilisation, meine Familie. Straßen, Hochhäuser, Telefon, Fernsehen. Es kam mir alles so wunderbar vor, jetzt wo ich hier war. Ich vermißte dies alles. Und Haß auf diesen Ort überkam mich. Wüste, Sand, Hitze, Krieg. Aber es war nicht meine Heimat. Irgendwann durfte ich nach Hause, je nachdem wie lange die Gefechte anhielten. Ja, nur wegen ihnen war ich hier. Und hinter den Gefechten, dem Krieg, verbargen sich die Feinde, von denen ich einen umlegen sollte. Vielleicht würde es ja doch ganz lustig werden.
          Winkert kam ins Zelt, es war Zeit. Harloff und ich standen auf. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Inzwischen war es fast Mittag, «High noon», die Sonne war auf ihrem Gipfel und vollbrachte Höchstleistungen, brannte sich uns ins Hirn ein, direkt in die Gedanken.
          «Der Colonel erwartet uns», sagte Winkert und so machten wir vier, Boeven stand draußen vor dem Zelt, uns auf den Weg zum Treffpunkt. Es war eine halbe Stunde Fußmarsch durch den Sand in Richtung Süden oder Südost von unserem Lager aus. Der Hinzurichtende würde zehn Minuten nach uns dort ankommen, zusammen mit dem Colonel und zwei Wachen. Einfachere Soldaten als wir es waren. Am Treffpunkt wurden die Exekutionen immer vorgenommen.
          Es glich einer Kuhle, circa drei Meter tief. Hinunter konnte man den Sand entlängs rutschen, hingegen hinaufzukommen wesentlich schwieriger war. Am besten versuchte es man barfüßig, da man seine Schuhe eh im Sand verlor. So war es dem Hinzurichtenden unmöglich wegzurennen. Schließlich hatten wir keine Mauer, vor die wir ihn hätten stellen können. Und würde er los rennen, hätte er sogar einige Chancen durchzukommen. Die Sonne machte einem das Zielen nicht gerade leicht und durch den Sand waren schnelle Bewegungen sehr unkontrolliert. Höchstwahrscheinlich würde er dann irgendwie und irgendwann in der Wüste verrecken, bis zur nächsten Siedlung war es ein Tagesmarsch. Jedoch mußten wir uns absolut sicher sein und die Leiche mußte ebenfalls unter allen Umständen begraben werden. Also vollzogen wir diese Prozedur hier in der Kuhle, wie sie genannt wurde. «Die Kuhle». Für einige war sie der «Walk of Fame» dieser Gegend. Berühmte Persönlichkeiten von der Fahndungsliste hatten ihr schon einen Besuch abgestattet. Terroristen und Bandenführer.
          Falls es trotzdem Schwierigkeiten in der Grube für uns geben sollte, standen die Wachen oberhalb der Kuhle mit Automatikgewehren.
          Als wir ankamen, waren unsere Wasserflaschen schon fast leer, so heiß war es hier. Wir hatten unsere Mützen tief ins Gesicht gezogen und hatten unsere Häupter den gesamten Weg über gesenkt gehalten, um es ein wenig erträglicher zu machen. Meine Schuhe hatten sich bis zum Knöchel mit Sand gefüllt und fühlten sich dadurch wirklich schwer und taub an. Ich konnte sie kaum anheben.
          Wir rutschten auf unseren Hintern den Sand hinunter. Dieser Teil der Wüste schien wie tot zu sein. Keine Kakteen, keine Skorpione oder Wüstenmäuse. Nur wir vier in diesem Loch.
          Bevor Boeven hinunter gerutscht war, hatte er sich mit dem Fernglas umgesehen. Seiner Meinung nach hätten wir noch eine gute viertel Stunde für uns bevor die anderen eintrafen. Also machten wir es uns ein wenig gemütlich. Harloff grub sich ein kleines Loch und setzte sich hinein, um sich seinen Hintern nicht zu verbrennen, dann zündete er sich eine Zigarette an. Wir machten es ihm nach und schafften uns eine kleine Idylle.
          «Fehlt nur noch das Wasser», meinte Winkert und zog einmal kräftig. «Ich würde alles geben um jetzt schwimmen zu können.»
          «Am Strand gibt es aber keine beschissenen Skorpione» kam es von Boeven.
          «Gibt es hier auch nicht, oder siehst du welche? Puderzuckersand so weit das Auge reicht. Hier können sich die Viecher nicht verstecken. Man findet sie nur in wenigen Abschnitten. Geh noch mal die gleiche Strecke gen Süden ohne Schuhe und du merkst nicht einmal mehr wie sie dich beißen.»
          «Das stimmt», sagte ich, «da drüben fängt die Steinwüste an, dort wimmelt es nur so von Viechern. Skorpione sind nicht einmal die schlimmsten. Dort gibt es auch Sandwespen.» Ich blies den Rauch senkrecht in die Luft. Er bildete ein graues Tuch am wolkenlosen Himmel.
          Harloff: «Sandwespen?»
          «Ja, ungefähr so groß.» Ich zeigte mit meinen beiden Zeigefingern zwei Zigarettengrößen an.
          «Sie stechen dich und legen ihre Eier in dir ab.»
          Boeven verzog sein Gesicht und drückte seine Zigarette in den Sand, zündete sich dann gleich die nächste an. Winkert zeigte mit dem Finger auf die andere Seite der Kuhle: «Seht ihr den Fleck dort, ob das Blut ist?»
          Harloff: «Bestimmt nicht. Bei dieser Hitze wäre es schon längst verdampft.»
          «Bei welcher Temperatur wird Blut denn gasförmig, bitte?» fragte Boeven ihn.
          «Weiß nicht, bei 100°.»
          «Das war Wasser.»
          «Es kann aber trotzdem kein Blut sein», sagte ich.
          «Und wieso?»
          « Wenn es Blut wäre, dann wäre der Fleck entstanden als er erschossen wurde, richtig?»
          «Richtig.»
          «Wer ist er?» fragte Winkert.
          «Er eben. Das Opfer. Also, wenn es Blut ist, dann müßte dort auch noch eine Spur die Kuhle hinauf führen, die entstanden ist, als sie ihn hochgezogen haben.»
          «Stimmt», sagte Boeven.
          «Es kann doch Blut sein», meinte Harloff, nach einer Pause:« Wenn sie ihn auf einer Trage hochgezogen haben.» Damit war das Gespräch beendet.
          Ich sah auf meine Uhr. Nach Boevens Berechnungen hatten wir noch fünf Minuten. Ich fragte, ob jemand wüßte, wie viele hier schon hingerichtet wurden, aber niemand beantwortete meine Frage. Vielleicht drei, vielleicht dreizehn oder zwanzig. Winkert fand, die Kuhle glich einem religiösen Ort. Hier verloren Menschen ihr Leben. Ein denkwürdiger Ort. Schweigen.
          «Allmählich müßten sie kommen» sprach Harloff. Er versuchte hinaufzuklettern. Auf allen Vieren bahnte er sich seinen Weg nach oben, immer wieder nach unten rutschend. Wir anderen sahen ihm fasziniert mit einer Hand als Sonnenschutz über den Augen zu. Schließlich rutschte Harloff auf seinem Hintern wieder zu uns den Sand herunter.
          «Sie kommen» kam aus seinem Mund und wir vergruben unsere Kippen und die Asche. Dann stellten wir uns auf. «Wie wird er eigentlich hier runter gebracht?» fragte ich.
          «Ich schätze, er wird einfach hinunter gestoßen», antwortete Winkert mir. Unsere Blicke starrten alle auf denselben Punkt, oben am Anfang der Kuhle.
          «Und wer bringt uns die Gewehre?»
          «Einer der Wachen nehme ich an.»
          Boeven: «Nein. Die vier Gewehre werden auf einer Trage vorsichtig heruntergelassen. Damit kein Sand ins Lager kommt. Dann darf jeder sich eins von ihnen nehmen. Zufallsprinzip. Du triffst die Wahl.»
          Die Gedanken schossen wieder in meinem Kopf herum. Ich sah die anderen an. Ihre Blicke waren immer noch starr. Meinen richtete ich auf den Fleck im Sand. Stimmen drangen zu uns hinunter. Nervosität und Angst stiegen in mir auf. Sie kamen.
          «Fertigmachen», gab Harloff den Befehl. Die anderen lösten ihre steifen Blicke und wir stellten uns alle in einer Reihe auf, bereit zu salutieren wenn der Colonel über uns erschien. Die Sonne brannte auf der Haut wie in den Augen. Ich fühlte mich ausgetrocknet, sämtliches Wasser war verbraucht.
          «Ich habe Durst», sagte ich wie ein kleines, quengelndes Kind.
          «In spätestens einer Stunde sind wir zurück im Lager», erwiderte Boeven.
          Die Sonne verdunkelte sich, etwas war vor sie getreten. Ich versuchte etwas zu erkennen, kniff meine Augen zusammen. Doch alles was wir erkennen konnten, war eine schwarze Silhouette, welche im Hintergrund von der Sonne umringt wurde. Weitere Silhouetten traten hervor.
          Harloff gab den Befehl zum Salutieren und wir rissen unsere Hände an die Schläfen ohne zu wissen, wem wir uns dort unterordneten. Für einen Augenblick wurde mir klar, es hätten ebensogut Feinde sein können, die uns von oben hätten einfach abknallen können, wie ein paar dreckige Hunde. Angst stieg in mir auf, ich griff nach meiner Handfeuerwaffe, doch bevor ich sie ziehen konnte salutierte der Colonel ebenfalls und begrüßte uns. Er gab uns die Anweisung, nicht mehr nach oben in die Sonne zu sehen, damit sich unsere Pupillen weiteten um besser zielen zu können. Die Prozedur ging alles in allem ziemlich schnell.
          Boeven behielt Recht. Die Waffen wurden langsam hinunter gelassen. Sie waren frisch geputzt und zusammengesetzt. Ein Detail fehlte, was Unbehagen in mir auslöste: die Magazine. Sie hinterließen ein klaffendes Loch am Gewehr. Nur eine einzige Kugel befand sich im Lauf, jedenfalls bei dreien.
          Winkert nahm als Erstes ein Gewehr, das dritte von links. Boeven nahm nach ihm das letzte, danach Harloff das zweite von links. Für mich blieb das erste übrig. Wie standen die Chancen, daß gleich das erste Gewehr leer war? Zufall. Bei vier Waffen 75%. Drei zu eins. Bei Glücksspielen ziemlich gut.
          Als nächstes wurde der Gefangene hinunter geschickt, die Läufe der Wachen auf seinen Kopf gerichtet. Warum übernahmen sie jetzt nicht einfach unseren Job und drückten ab. Es wäre für alle viel einfacher gewesen. Doch er ging freiwillig. Langsam kniete er sich hin und rutschte den gleichen Weg wie wir die Kuhle hinab. Wir versuchten, ihn möglichst nicht anzusehen, zumindest nicht in die Augen. Wir wollten ihn nicht kennenlernen. Nur erschießen. Ich konnte nicht anders. Als ich ihm ins Gesicht sah, traf ich einen gleichaltrigen Mann, jung und doch kraftlos. Seine Augen waren leer und träge. Sein Gesicht war dunkel und verschwitzt, Haare hingen ihm auf der Stirn, verklebt vom Schweiß. Seine letzte Bedingung hatte er im Lager erhalten. Er wollte ein letztes Mal beten. Sein Glaube würde ihm den Weg in den Tod vereinfachen. Ich hoffte, daß auch mir der Glaube helfen würde. Auch wenn es nicht derselbe war, es war derselbe Schöpfer. Und vor ihm waren wir alle gleich. Wie sollte ich mich vor ihm rechtfertigen? Ich kannte nicht einmal den Grund und seine Schuld. Ich führte nur einen Befehl aus. Ich war der Finger am Abzug, hatte meinen Finger am Abzug.
          Wir hatten gelernt, wohin wir zu zielen hatten. Winkert ins Herz, Boeven in die Leber. Harloff teilte sich mit mir den Lungenbereich. Machten wir es gut, so spürte er nichts. Machte es nur einer gut, würde er schreien vor Schmerzen. In dem Falle waren die Wachen am Zuge. Sie zielten beide auf den Kopf, hatten Magazine an ihren Waffen. Dieser Tod war unehrenhaft und nur für den Notfall.
          Wir zielten. Das Opfer hatte seine Augen geschlossen. Drei sind geladen. Drei Schüsse genügten. Der Colonel gab den Befehl. Wir drückten ab. Drei Schüsse lösten sich. Er sank zu Boden, war sofort tot. Wir erhielten den Befehl uns umzudrehen.. Harloff, Winkert und Boeven nahmen ihre Läufe herunter und drehten sich von der Leiche weg. In ihren Gesichtern sah man Anstrengung, die Disziplin aufrecht zu erhalten.
          Ich kann mich nicht an den Rückschlag erinnern. Vielleicht aufgrund des Schocks, vielleicht gab es auch gar keinen. Ich bin mir nicht sicher.
          Drei waren geladen, meines war leer.

Ende

Idee der Geschichte basier auf einem Spiegel-Bericht. Denn so wurde im Golfkrieg damals wirklich gehandelt. Ich würde gerne wissen, was Ihr so davon haltet. Gut dargestellt oder übertrieben?Florian Möller, Anmerkung zur Geschichte

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Florian Möller).
Der Beitrag wurde von Florian Möller auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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