Carine Redlinger

Saalim

In der weiten Steppe Afrikas, gab es jeden Tag neue abenteuerliche Geschichten zu erzählen. Am Abend, wenn die Buschbewohner sich nach getaner Arbeit um die Lagerfeuer versammelten, lauschten nicht nur die jungen Dorfbewohner mit großen, glänzenden Augen den Erzählungen der Jäger. Manch eine der Geschichten war freilich erfunden und diente nur dem Erzähler sich zu brüsten, aber es gab auch solche die wirklich passierten, solche Erzählungen überdauerten ganze Generationen, da sie vom Urgroßvater, auf den Großvater, den Vater und schließlich den Sohn übergingen. So kam es, dass sich so manch junger Buschmann immer noch mit längst verjährtem Abenteuer, Gehör verschaffte. Es gab sogar solche, die ernsthaft behaupteten die Sprache der Tiere zu verstehen. Diese Jäger genossen die ungeteilte Aufmerksamkeit und Bewunderung, der anderen.
 
An diesem Abend war es Mahiri, der eine ganze Gruppe junger und alter Dorfbewohner um sich versammelt hatte. Alle lauschten ihm gespannt zu und schienen Mahiri jedes Wort von den Lippen abzulesen. Es erfüllte den jungen Buschmann mit Stolz, das Abenteuer, das sein Großvater, als junger Bursche erlebte, wiederzugeben. Die Tatsache, dass er den Namen seines Großvaters tragen durfte, ließ ihn mit stolz erhobenem Haupt beginnen. Irgendwann im Laufe seiner Erzählung verschmolzen Großvater und Enkel zu einer einzigen Figur. In seinem Bericht wurde der Mahiri von damals zum Mahiri, der gerade um das helle Lagerfeuer inmitten begierig lauschender Dorfbewohner saß.  Es war als hätte der junge Mann das Abenteuer, von dem sein Großvater ihm schon so oft erzählt hatte, selbst erlebt.
 
…Mahiri, war an diesem Tage schon früh aufgebrochen und schon bald ließ er das schützende Dorf hinter sich. Er hatte sich vorgenommen bis an den Fuß des Berges zu laufen um dort im grünen Tal, der Jagd nachzugehen. An diesem Abend würde er mit reicher Beute zurück in sein Dorf kehren und alle würden ihn bewundernd ansehen.
Seit Stunden trugen ihn nun seine nackten Füße über die staubig trockene Steppe. Bewaffnet mit Speer und Bogen trotzte der junge Mann jeder Gefahr. Obwohl ihm auf seinem Weg bisher nur eine kleine Gruppe Zebras entgegenkam und ein paar Affen wild kreischend auseinander stießen, als Mahiri sie aufschreckte. Aber der junge Jäger beachtete die Affenbande nicht. Nein, heute würde er mit einer ganz besonderen Beute zurück in sein Dorf kehren. Er hatte vor ein paar Tagen zwei Buschmänner dabei belauscht wie sie von der großen Büffelherde am Fluss berichteten. Mahiri konnte an nichts anderes mehr denken, als seine Familie mit diesem köstlichen Büffelfleisch zu überraschen. Dann würden die älteren Jäger auch ihm Respekt erweisen und ihn als einen der ihren akzeptieren. Niemand würde ihn mehr auslachen, wenn seine einzige Beute nicht nur aus einem kleinen Kaninchen oder schlimmer noch aus einem dieser zähen alten Affen bestand. Obwohl die Affen inzwischen zur regelrechten Plage geworden waren, die immer wieder das Dorf heimsuchten und auf ihrem Durchmarsch eine Schneise der Verwüstung hinterließen. Die pfiffigen Affen hatten schon längst gemerkt, dass  in dem Dorf richtige Leckerbissen zu finden waren. Sie scheuten sich nicht einmal in die Hütten zu kommen um dort alles zu stehlen was ihnen schmeckte. Nicht einmal das, sie knabberten alles an und das was ihnen nicht mundete, spuckten sie wieder aus. Während die Frauen auf dem Feld  und die Männer auf der Jagd waren, konnten sie ungestört die Hütten durchstöbern. So blieb den Dorfbewohner nichts anderes übrig, als einige junge Männer, die dringend anderswo benötigt wurden, als “Affenjäger” im Dorf zurück zu lassen. Diese Aufgabe missfiel den jungen Jägern, die lieber mit den Älteren durch die Steppe streifen wollten. Um der Schmach zu entgehen, als “Affenjäger” zu enden, mussten die jungen Männer früh aufstehen, denn derjenige der als Letzter zu dem Jagdtrupp stieß, musste zurückbleiben und die Affen vertreiben.
 
Mahiri hatte das Dorf noch vor Sonnenaufgang verlassen, obwohl dies sehr gefährlich war. Das Tal rückte immer näher, dank seines forschen Schrittes. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und brannte erbarmungslos auf die trockene Erde nieder. Mahiri setzte sich in den Schatten eines Baumes um eine kleine Rast einzulegen. Nicht weit von ihm entfernt entdeckte er eine Gruppe Giraffen. Er beobachtete die edlen Tiere mit Wohlwollen und biss ein Stück getrocknetes Fleisch ab, das er aus seinem Proviantbeutel genommen hatte. Ihm fiel auf, dass eine große Unruhe unter den Giraffen herrschte. Sie spreizten ihre Vorderbeine, bückten ihre langen Hälse und steckten die Köpfe zusammen.
Mahiri wurde neugierig. Schnell schloss er seinen Beutel und schlich auf die Tiergruppe zu.
Aus nächster Nähe konnte er nun beobachten, dass sich die Giraffengruppe um ein kleines Giraffenkalb scharrte, das wohl eben erst geboren worden war.
Das ist ja ganz genau wie bei uns Menschen, dachte sich Mahiri. Es war immer ein ganz großes Ereignis, wenn in seinem Dorf ein Baby geboren wurde. Dann schauten alle Dorfbewohner bei den frischgebackenen Eltern vorbei und brachten dem Neuankömmling Geschenke mit.
“Es ist eine Tragödie, ich weiß auch keinen Rat.”
Nanu, was war denn das? Mahiri drehte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Er war sich aber ganz sicher, dass er jemanden sprechen gehört hatte.
“Ja, ein großes Unglück ist über Furaha und ihr Baby hereingebrochen.”
Dieses Mal konnte Mahiri die Stimme ganz deutlich hören. Aber er konnte einfach nicht erkennen, zu wem sie gehörte. Er sah sich um, etwas Abseits stand ein kräftiger Giraffenbulle. Er stampfte mit den Vorderläufen wütend in der staubigen Erde.
“Jabari, erträgt das Leid nicht, das Furaha und dem Baby widerfahren ist. Schaut nur, wie er mit den Hufen im Staub scharrt. Er will sein Baby nicht einmal ansehen. Es ist auch besser so, der Kleine ist verloren. Er wird elend verhungern.”
Mahiris Augen weiteten sich vor Schreck. Ganz deutlich konnte er dieses Mal erkennen, wer gesprochen hatte. Eine ältere Giraffenkuh hatte sich wieder aufgerichtet und wies mit ihrem Kopf zu dem Giraffenbullen.
Das ist doch nicht möglich, fuhr es Mahiri durch den Kopf. Die Sonne hat mir das Hirn verbrannt. Das kann nicht sein, dass ein Mensch verstehen kann, wenn Tiere sprechen. Die Giraffenherde trabte auf den abseits stehenden Giraffenbullen zu. Mahiri spitze seine Ohren, immer noch ungläubig dem gegenüber was er eben erlebt hatte.
Aus der Herde löste sich die ältere Giraffenkuh. Sie streckte ihren langen Hals zu dem Bullen hinüber und stieß ihn mit ihrer Schnauze gegen den Kopf.
“Jabari, du kannst Furaha nicht ausgrenzen. Sie ist eine von uns und braucht unser aller Hilfe.”
“Was soll ich denn deiner Meinung nach tun, Shuja? Ich grenze niemanden aus, aber verlangst du wirklich von mir dass ich meinen eigenen Sohn umbringen soll?”
Die Giraffenkuh schüttelte heftig ihren Kopf und wedelte aufgeregt mit ihren Ohren.
“Nein, Jabari, nein. Das verlangt niemand von dir. Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden. Gib dir einen Ruck und komm mit rüber zu deinem Sohn. Deine Anwesenheit wird die verstörte Furaha trösten. Komm lass uns gemeinsam rüber gehen.”
Die Giraffenherde drehte sich wieder zu Mutter und Kind und trabte hinüber. Auch Jabari folgte ihnen mit hängendem Kopf. Mahiri war wie gelähmt über das was er eben erlebte. Es gab keinen Zweifel. Er verstand jedes Wort von dem was die Giraffen austauschten. Aber was war denn nun mit dem Giraffenkalb? Von seiner Position aus konnte Mahiri nichts Außergewöhnliches erkennen. Zu gerne wäre er einfach hingelaufen um nach dem Rechten zu sehen, aber er wusste dass Giraffen sehr gefährlich sein können, zumal wenn sie wie in diesem Fall Junge haben. Er überlegte. Was könnte er tun? Seine Fährte fortsetzen um auf die geplante Büffeljagd zu gehen, das war jetzt nachdem er dieses Erlebnis hatte, unmöglich geworden. Er musste helfen. Wenn er die Giraffen verstehen kann, dann müssten sie ja auch ihn verstehen. So konnte er sein edles Anliegen vortragen und seine Hilfe anbieten. Aber vorerst müsste er sich in Sicherheit wiegen können. Mahiri blickte sich um. Ja, das war die Lösung!
 
Nicht weit von ihm entfernt stand der Baum unter dem er vorhin saß um zu rasten. Schnell huschte der junge Buschmann zu dem Baum hinüber, schnappte sich noch im Laufen einen Ast und schwang sich hoch. Geschmeidig kletterte Mahiri nach oben, so weit ihn die immer dünner werdenden Äste  noch tragen konnten. Als er sich in Sicherheit wähnte, wandte er sich der Giraffenherde zu. Alle Tiere waren um Mutter und Kind versammelt. Keines schenkte Mahiri Beachtung. Auch von seinem hohen Posten aus, konnte der junge Jäger nicht erkennen, was dem Giraffenkalb fehlte. Es lag zusammengekauert im Gras. Mahiri wusste, dass Giraffenkälber schon eine Stunde nach ihrer Geburt auf ihren dünnen, hohen Beinen stehen konnten. Dies war sehr wichtig, damit sie an die Muttermilch kommen konnten. Giraffen stehen fast die ganze Zeit fest auf ihren Beinen. Es ist zu gefährlich für die großen Tiere sich auf den Boden zu legen, denn dort sind sie ihren größten Feinden, den Raubkatzen ausgeliefert. Deshalb schlafen Giraffen nur wenige Stunden, oder legen ihren Kopf zum Rasten auf ihren Rücken.
Weshalb machte das Kälbchen keine Anstalten aufzustehen? Hatte es sich bei der eher rabiaten Geburt verletzt? Giraffen erblicken das Licht der Welt, indem sie ganz unsanft aus fast zwei Metern Höhe, aus dem schützenden Mutterbauch auf die harte Erde plumpsen. Mahiri konnte eine Sturzverletzung des Giraffenkalbes nicht ausschließen. Wenn er seine Hilfe anbieten wollte, dann müsste er sich bemerkbar machen. Mahiri richtete sich auf und hielt sich an dem obersten Ast fest.
“Jabari, lass mich deinem Sohn helfen!”
Mit fester Stimme, aber laut pochendem Herzen, rief Mahiri den Giraffenbullen. Dieser drehte sich abrupt um und sah sich um.
“Hier, hier auf dem Baum. Ich habe mit angehört, dass es eurem Kälbchen nicht gut geht und möchte meine Hilfe anbieten.”
Genauso verblüfft wie zuvor Mahiri, kam der Giraffenbulle auf den Baum zu. Jabari musste nicht einmal nach oben sehen, er stand auf gleicher Höhe mit dem jungen Buschmann. Die ungleichen Geschöpfe sahen sich direkt in die Augen. Mahiri konnte in große sanfte Augen blicken und Jabari hingegen entdeckte in denen Mahiris eine Mischung aus Angst, Mut und Klugheit.
“Seit wann leben Buschmänner auf Bäumen?”
“Seit dem Tag wo er Angst haben muss, dass ein Giraffenbulle ihm gefährlich werden kann. Ich wollte mit dir reden, Jabari, dachte mir aber Angesichts der Anzahl von Giraffen hier, es wäre wohl besser meinen Standpunkt von hier aus vorzutragen.”
Mahiri entging das belustigende Aufblitzen in Jabaris Augen nicht.
“Wundert es dich denn gar nicht dass ich euch verstehen kann? Du scheinst wenig überrascht zu sein.”
“Nein, junger Jäger. Es kommt sehr selten vor, aber Menschen reinen Herzens können sich mit uns Tieren verständigen. Wie ist dein Name?”
Der Buschmann antwortete voller stolz dem Giraffenbullen.
“Mahiri, mein Name ist Mahiri.”
“Mahiri, das bedeutet du bist talentiert und clever. Meinen Namen hast du ja schon erfahren. Er bedeutet, dass ich mutig bin und ein starkes Herz haben soll. Aber in solchen Momenten wie diesen, hilft mir mein Mut und mein starkes Herz nur wenig. Ich bringe es nicht fertig, meinen Sohn seinem Schicksal zu überlassen. Aber wir alle stehen hilflos da.”
Mahiri sah die Traurigkeit in den großen Augen, des stolzen Bullen.
“Was ist denn  mit deinem Sohn passiert? Hat er sich bei der Geburt verletzt? Vielleicht kann ich helfen, wenn ihr es mir erlaubt. Versprichst du mir, dass du mich vor den anderen Giraffen beschützt, wenn ich mir das Kälbchen ansehen werde?”
Ein Hoffnungsschimmer erwachte in Jabari. Menschen haben viele Fähigkeiten, die den Tieren vorenthalten sind. Der junge Buschmann sollte sich seinen Sohn ansehen. Zu verlieren hatten sie nichts. Denn ohne Wunder wäre sein Sohn verloren. Vielleicht saß das dringend benötigte Wunder gerade in diesem Moment vor Jabari auf dem Baum?
“Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass dir nichts passieren wird. Ich weiß dass du uns helfen willst und die anderen werden meinen Worten Gehör schenken. Komm Mahiri, ich werde dich meiner kleinen Familie vorstellen.”
Jabari trottete zurück zu der Giraffengruppe. Mahiri sprang in einem Satz vom Baum und folgte dem Giraffenbullen.
“Jabari, was soll das? Was hast du mit dem Buschmann vor?”
Shuja war den beiden entgegengekommen. Argwöhnisch beäugte die ältere Giraffenkuh, den jungen Jäger. Sie versperrte ihm den Weg.
Jabari schnaubte ungehalten. 
“Shuja, mach Platz. Das ist Mahiri, er ist gekommen um meinem Sohn zu helfen. Warst du nicht diejenige, die mich bat nicht aufzugeben. In Mahiri sehe ich die Chance, meinem Sohn zu helfen. Mach Platz und lass ihn zu dem Kleinen.”
Erstaunt machte Shuja Platz und ließ das ungewöhnliche Duo vorbei. Die anderen Giraffen rückten wortlos auseinander. Mahiri stand nun vor der Giraffenkuh Furaha und ihrem Sohn. Er kniete sich nieder ins hohe Gras.
“Darf ich?”
 
Furaha nickte dem jungen Buschmann zu. Mahiri legte ganz vorsichtig seine Hand auf den Rücken des Giraffenkalbs. Ganz unmerklich zuckte dieses unter der fremden Berührung zusammen, aber es war viel zu schwach um sich zu wehren. Mahiri tastete vorsichtig über den kleinen Körper. Als er den linken Vorderlauf berührte schreckte das Kälbchen wimmernd auf. Mahiri musste einsehen, dass der Vorderlauf wohl bei der Geburt gebrochen war. Hier in der Steppe bedeutete das das Todesurteil für die kleine Giraffe. Es konnte nicht einmal aufstehen um an die lebenswichtige Milch zu gelangen. So wurde es zur leichten Beute für die Raubtiere. Aber noch hatten sie es nicht entdeckt. Mahiri überlegte fieberhaft. Wäre er nicht so weit von seinem Dorf entfernt, dann könne er das Giraffenjunge zum Schutz mit ins Dorf nehmen und sein Bein gesund pflegen. Aber dies war im Moment nicht vorrangig. Es galt vor allem das Tier vor dem sicheren Hungertod zu bewahren.
“Furaha, kannst du dich nicht so hinlegen dass dein Kälbchen im Liegen trinken kann?”
Furaha schüttelte traurig den Kopf und schaute Mahiri aus großen leidgeprüften Augen an.
“Nein, das habe ich alles schon versucht. Er kommt nur im Stehen an die Milch. Ich habe mich nach allen Seiten verdreht aber er liegt so unglücklich dass es mir nicht gelang. Ich muss zusehen wie mein Kleiner qualvoll verhungert.”
Mahiri streichelte die junge Giraffenkuh tröstend.
“Furaha, so lange ich bei euch bleiben kann, werden wir alles versuchen. Wir werden nicht aufgeben. Wie heißt denn dein Sohn überhaupt?”
“Wir haben ihm noch keinen Namen gegeben. Zu groß war der Schreck als wir feststellten was mit ihm geschehen ist. Und jetzt, macht es doch überhaupt keinen Sinn mehr.”
“Doch Furaha, es macht Sinn. Ich werde eine Lösung finden. Ich verspreche es.”
Mahiri begann fieberhaft in seinem Proviantbeutel zu suchen. Dann verharrte sein Blick auf seinem Wasserbeutel. Das war die Lösung! Er nahm den Wasserbehälter, der aus fein gegerbten Leder bestand. Mahiri nahm sein Messer und trennte am Hals des Lederbehälters ein großes Stück ab. Dann schüttete er das restliche Wasser aus. Er wandte sich zu Furaha und sah sie fragend an.
“Furaha, wenn es mir gelingt, deine Milch in diesen Beutel zu füllen, dann könnte ich deinem Kälbchen zu trinken geben. Bist du einverstanden?”
Die Giraffenkuh sah Mahiri erstaunt an, aber gleich darauf nickte sie energisch.
“Das könnte klappen. Mahiri ich bitte dich, versuche meinem Sohn zu helfen.”
Mahiri hatte noch nie zuvor davon gehört, dass man eine Giraffenkuh melken könnte wie die Kühe bei ihm im Dorf. Aber einen Versuch war es wert. So stand der junge Buschmann wenig später zwischen den hohen schlanken Beinen der Giraffenmutter und versuchte auf die gleiche Weise, wie er es schon so oft zu Hause getan hatte, das lebenswichtige Elixier, in seinen Wasserbeutel zu füllen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang dem jungen Buschmann das Unmögliche. In zarten weißen Strahlen floss die Milch durch seine Finger in den Beutel. Mahiris Herz machte einen Freudensprung. Schon kurze Zeit später war der Beutel halbvoll. Mahiri setzte sich neben das schwache Giraffenjunge und hob seinen Kopf sanft an. Mit der einen Hand versuchte er das Maul des Tieres zu öffnen, während er mit der anderen Hand,  die Milch Tropfen für Tropfen in den Rachen des Kälbchens tröpfeln ließ.
“Seht nur es fängt an zu schlucken. Es besteht doch noch Hoffnung.”
Shuja flüsterte ganz ergriffen angesichts dessen was sie eben beobachtete. Auch Mahiri konnte deutlich spüren wie das Kälbchen die Milch gierig aufsog. Mit jedem einzelnen Schluck schien das schon schwindende Leben in den Körper des Giraffenjungen zurückzukehren. Mahiri war sichtlich erleichtert und ergriffen, dass sein Plan aufzugehen schien.
Nachdem das Giraffenkalb genug getrunken hatte, sank es erschöpft in den Schlaf. Es hatte viel Anstrengung gekostet, die Milch zu sich zu nehmen.
Mahiri legte den Kopf des Tieres behutsam nieder und stand auf. Er drehte sich um und konnte die Achtung, die die anderen Giraffen ihm entgegenbrachten, spüren. Es erfüllte ihn mit Stolz. Er wandte sich an Jabari.
“Ich muss das Bein deines Sohnes schienen. Dann müssen wir eine Lösung finden den Kleinen so lange vor den Raubtieren zu schützen bis sein Bein wieder heil ist. Ich werde jetzt nach geeignetem Material suchen und ihr müsst einen Platz finden, wo dein Sohn über längere Zeit bleiben kann. Einen Platz den wir gut vor Angriffen verteidigen können.”
Mahiri streifte durch das hohe Gras und fand wenig später zwei dünne starke Zweige, die er gut als Schiene gebrauchen konnte. Dann entdeckte er eine Pflanze, von der er wusste dass die langen Blätter sich hervorragend zum Verbinden von Wunden eigneten. Nicht umsonst hatte er seiner Mutter, der Medizinfrau, schon oft bei ihrer Arbeit zugesehen. Kurze Zeit später war er wieder bei den Giraffen. Sofort begann er den Vorderlauf des Giraffenkalbs zu schienen und sorgfältig zu verbinden. Dabei musste er das Bein in die richtige Lage bringen, was für einen Moment lang ziemlich schmerzhaft war. Das Kälbchen gab einen wimmernden Laut von sich. Mahiri streichelte es tröstend über den Kopf.
“Tut mir Leid, Kleiner. Es war das letzte Mal, dass ich dir wehtun musste. Ab jetzt wird alles gut. Jabari, habt ihr einen sicheren Platz gefunden?”
Jabari trabte vorsichtig zu seinem Sohn dem Mahiri immer noch beruhigend den Kopf streichelte.
“Ja, nicht weit von hier habe ich vor längerer Zeit eine kleine Höhle entdeckt. Aber wie schaffen wir es das Junge dorthin zu bringen? Es kann doch nicht aufstehen.”
“Ganz einfach, ich werde es tragen. So schwer kann es noch nicht sein. Wenn ich den Büffel erlegt hätte, dann hätte ich arg zu schleppen gehabt. Also los, zeig mir den Weg Jabari!”
Ganz vorsichtig hob der junge Buschmann das Kälbchen auf seine Arme. Erstaunt über das Gewicht was es aufzuweisen hatte, legte er es wieder nieder. Shuja die ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, stieß Mahiri sanft in den Rücken.
“Na, kleiner Buschmann, ist wohl doch nicht so einfach wie du es dir vorgestellt hast?”
So leicht wollte Mahiri nicht aufgeben, er bückte sich erneut zu dem Giraffenkalb und versuchte es diesmal ganz vorsichtig zu schultern. Er legte es so um seinen Hals, dass er das verletzte Bein nicht zu sehr belastete. Auf diese Weise konnte er das Gewicht der kleinen Giraffe gut verteilen und es machte ihm wenig Mühe sie zu tragen.
“Jabari, geh du vor und zeige mir den Weg!”
 
Der Giraffenbulle trat stolz an die Spitze der kleinen Gruppe, dicht gefolgt von Mahiri mit dem Giraffenkalb auf den Schultern. Neben ihm die ängstliche Furaha, der Shuja dicht auf den Fersen war. Die anderen Tiere der Herde trotteten willig hinterher. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und die Schweißperlen tropften Mahiri schon nach wenigen Metern von der Stirn. Die salzig schmeckende Flüssigkeit rann über das Gesicht des kleinen Buschmanns aber er trug tapfer das Kälbchen hinter dem Giraffenbullen her. Der Zug kam nur langsam voran, da Mahiri den langen Beinen der Giraffen nicht folgen konnte. Immer wieder hielt Jabari kurz an, damit Mahiri wieder zu ihm stoßen konnte.
Dem Buschmann war als würden die Berge mit der Höhle immer weiter wegrücken. Er blieb kurz stehen um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen. Nach einer Weile drehte Jabari  sich zu ihm um.
“Geht es noch, oder sollen wir eine kleine Rast einlegen?”
“Nein, nein, lass uns lieber weitergehen, denn wir müssen unbedingt vor Anbruch der Dunkelheit an der Höhle angekommen sein. Ich muss noch Holz sammeln um ein Feuer zu machen. Ohne Feuer sind wir schutzlos ausgeliefert. Vor der Glut haben die Raubkatzen Respekt und werden uns  nicht behelligen. Ist es noch weit?”
Jabari schüttelte seinen langen Hals und wies mit dem Kopf in Richtung Berge.
“Wir haben die Hälfte des Weges geschafft. Wenn wir dieses Tempo beibehalten, dann sind wir noch vor der Nacht am Ziel.”
Mahiri blieb stehen und wandte sich an Furaha.
“Meinst du nicht, wir müssten deinen Sohn erneut füttern? Wir haben erst die Hälfte des Weges geschafft. Jabari, warte kurz.”
Mahiri legte das Kalb sanft ins Gras und kramte nach seinem Wasserbeutel. Furaha stellte sich willig neben den kleinen Buschmann, der mit flinken Händen zu melken begann. Viel schneller als beim ersten Mal füllte sich der Beutel. Jabari trottete unruhig auf und ab. Dann blieb er plötzlich stehen und wandte sich an zwei junge Giraffenbullen.
“Ihr zwei, ihr kennt doch auch den Weg zur Höhle. Lauft schon mal vor und sammelt so viel Holz wie ihr tragen könnt und legt es nahe am Eingang zur Höhle ab. Ich möchte es nicht riskieren, dass wir erst bei Anbruch der Dunkelheit ankommen werden, dann finden wir kein Brennholz mehr.”
Die jungen Giraffen trabten los, stolz eine besondere Aufgabe von ihrem Anführer erhalten zu haben. Sie preschten durch die Steppe und man konnte den Staub den sie dabei aufwirbelten von weitem sehen. Mahiri tröpfelte dem Giraffenjungen die Milch vorsichtig ins Maul. Das Kälbchen trank begierig und sah den Buschmann mit seinen großen glänzenden Augen an. Langsam leerte sich der mit Milch gefüllte Beutel wieder. Mahiri packte ihn in seine Tasche und hob vorsichtig das Giraffenjunge hoch. Die ungewöhnliche Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Shuja gesellte sich zu Mahiri.
“Warum tust du das für uns, kleiner Buschmann?”
“Hättest du es denn nicht getan, wenn du die Möglichkeit dazu gehabt hättest?”
“Ich weiß nicht einmal, ob mir überhaupt je der Gedanke gekommen wäre, einem fremden Wesen zu helfen. Du bist ein Mensch und wir sind Tiere. Das passt doch nicht zusammen.”
Mahiri war erstaunt über das was er hörte.
“Weshalb meinst du dass Mensch und Tier nicht zusammenpassen? Diallo, das ist mein Hund, er ist mein bester Freund. Normalerweise begleitet er mich auf Schritt und Tritt. Nur heute habe ich ihn nicht dabei. Er sollte meinen Vater zur Jagd begleiten. Ich würde alles tun damit es Diallo gut geht und ich weiß ganz genau, dass dieser Hund mich nie im Stich lassen würde.”
“Ja, das mit deinem Hund, das kann ich schon verstehen, aber welchen Nutzen hast du davon uns zu helfen? Glaubst du das Giraffenkalb wird dir folgen wie dein Hund es tut?”
“Shuja, glaubst du denn nicht daran, dass es auch Wesen gibt, die anderen zur Hilfe kommen ohne darin einen Vorteil für sich zu suchen. In unserem Dorf lebte vor langer Zeit eine Medizinfrau. Sie war der festen Überzeugung, dass jede gute Tat sich schon sehr bald bezahlt machen würde. - Töte nur um dein eigenes Leben zu retten, töte nur dann wenn du dich und die deinen ernähren musst. Lasse am Leben, wenn es dir nur um den Spaß an der Jagd geht. Lasse am Leben, wenn deine Vorratskammer gut gefüllt ist. Dann wird auch dir in großer Not geholfen- Das waren ihre Worte, die sie uns immer wieder ans Herz legte. Mein Stamm hält sich ganz strikt daran und über uns ist noch nie ein größeres Unglück hereingebrochen.”
Lachend fügte er hinzu: “Na ja, mal abgesehen von der Affenplage die uns zurzeit heimgesucht hat. Da hatte wohl einer meiner Stammesangehöriger sich nicht an die Worte der alten Medizinfrau gehalten.”
Shuja schnaufte und musste ebenfalls lachen.
“Ja, wenn ihr das so seht, dann kann ich deine Tat hier nachvollziehen. Jedenfalls finde ich es sehr edel von dir, dich mit unserem Kälbchen so abzuplagen.”
 
Den Rest des Weges schritten sie schweigend weiter. Endlich schienen auch die Berge näher zu rücken. Die Sonne stand schon tief am Himmel und brannte nicht mehr so stark. Mahiri atmete ein wenig auf. Eine leichte Brise streifte ihm durchs Haar. Der Wind trug das Geräusch von trabenden Hufen an sein Ohr. Auch Jabari spitze seine Ohren und lauschte. Eine riesige Staubwolke kam immer näher. Wenige Augenblicke später lösten sich zwei Zebras aus dem aufgewirbelten Staub. Sie blieben vor Jabari stehen.
“Grüß dich Jabari. Wir haben eben von deinem kleinen Sohn erfahren und möchten dir zu Hilfe kommen.”
Jabari sah sie staunend an.
“Woher wisst ihr davon? Spricht sich solch ein Unglück so schnell herum?”
“Nein, aber deine Abgesandten, die du zum Holzsammeln abkommandiert hast, haben uns davon berichten. Es stimmt also tatsächlich, ich wollte es nicht glauben.”
Das Zebra kam auf  Mahiri zu und beäugte ihn von oben bis unten.
“Nein, so etwas habe ich wirklich noch nie erlebt. Ein Buschmann, der mit Giraffen umherzieht. Was versprichst du dir davon?”
Mahiri blickte das Zebra an. Halb belustigt, halb beeindruckt stand das schöne Tier vor ihm und musste sich immer noch an diesen ungewöhnlichen  Anblick gewöhnen.
“Was soll ich mir schon davon versprechen? Ich dachte du wolltest deine Hilfe anbieten Zebra?”
Das Zebra schnaufte durch seine aufgeblähten Nüstern. Es scharrte mit den Vorderhufen in der Erde.
“Ich bin Kigoma, das bedeutet kleine Trommel, weil ich so schön mit meinen Hufen trommeln kann. Natürlich werden wir euch helfen. Sag mir nur wie, Buschmann.”
“Du würdest uns sehr helfen, indem du das Giraffenkalb auf deinem Rücken tragen könntest. Wir kommen nur ganz langsam voran und ich befürchte schon dass uns die Dunkelheit einholen könnte.”
Kigoma schnaufte erneut und sah Mahiri fragend an.
“Wie stellst du dir das genau vor. Wird es denn nicht runterrutschen?”
“Nein, ich werde es dir auf den Rücken binden, dann kann es gar nicht rutschen. Natürlich darfst du nicht  wie vom Teufel besessen losgaloppieren.”
“Na dann mal los.”
Kigoma rückte ganz dicht an Mahiri ran, dieser legte ihm das Giraffenjunge vorsichtig auf den breiten Rücken. Aus seiner Tasche nahm er einen langen Strick, schnell und gewand band er das Junge auf Kigomas Rücken fest. Sofort setzte sich das Zebra in Bewegung.
“Halt, Kigoma warte. Ich muss doch bei ihm bleiben um zu verhindern dass es doch noch abrutschen kann. Ich werde versuchen so schnell wie möglich neben dir her zu laufen.”
Kigoma hielt an und wieherte. Sofort war das andere Zebras an seiner Seite.
“Lass den Buschmann auf deinem Rücken reiten. Bleib ganz dicht neben mir, damit er das Junge im Auge behalten kann.
Das andere Zebra stellte sich neben Mahiri. Dieser zögerte einen Moment. Dann sprang er in einem Satz auf den Zebrarücken. Er fasste in dessen drahtige Mähne um sich festzuhalten. Dann galoppierten sie los. Kigoma setzte seinen Weg so behutsam fort, dass die kleine Giraffe keine Anstalten machte runterzurutschen. Die Berge rückten in Reichweite und schon wenig später konnte Mahiri die beiden Giraffenbullen entdecken, die Jabari zum Holzsammeln losschickte. Die beiden waren emsig am arbeiten. Einen großen Stapel Holz hatten sie schon ganz nahe am Eingang zur Höhle angehäuft. Jabari ging auf sie zu.
“Danke Jungs, das habt ihr gut gemacht.”
Mahiri war von seinem Zebra hinunter geglitten und nahm Kigoma das Kälbchen ab. Vorsichtig betrat er die Höhle. Sie war ganz klein und er konnte sich davon überzeugen, dass kein anderer Bewohner sie in Anspruch genommen hatte. Es war genau das was Mahiri brauchte um die kleine Giraffe bis zur Genesung zu schützen. Er brauche nur dafür zu sorgen, dass kein Raubtier von vorne kommen und die Höhle betreten würde. So lange er das Feuer am Brennen hielt, wären sie geschützt. Vorsichtig legte er das Kälbchen auf den Boden und begann damit das Feuer anzuzünden. Zuerst kam nur ein ganz dünner Rauchfaden aus dem Stapel vor ihm, dann aber, wie von Zauberhand züngelten die Flammen empor und spiegelten sich im Höhleneingang. Mahiri musste noch zu Furaha, denn das Kälbchen hatte Hunger. Er kam gerade dazu als die Zebras sich von Jabari verabschiedeten und in wildem Galopp davon preschten.
 
Es war schon dunkel geworden und die Flammen tanzten rötlich an der Felsenwand. Mahiri legte sich zu dem Giraffenjungen in die Höhle. Dieses schlummerte selig mit gefülltem Magen auf dem trockenen Gras, das Mahiri ihm als Unterlage brachte. Auch Mahiri legte sich schlafen, nachdem er mit den anderen Giraffen abgemacht hatte, dass man ihn gleich wecken sollte sobald das Feuer zu erlöschen drohte. Jabari gab den Befehl abwechselnd Wache zu halten und so wurde der kleine Buschmann immer rechtzeitig geweckt bevor das Lagerfeuer verglühte.
Erst als er zum dritten Male nach dem Feuer sehen musste, fiel ihm ein dass daheim in seinem Dorf niemand Bescheid wusste, wo er war. Man würde sich ganz bestimmt Sorgen um ihn machen. Aber was konnte der kleine Buschmann denn schon tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er das Junge retten wollte, hier zu bleiben, weit weg von seiner Familie. Mahiri verdrängte den Gedanken an seine sich sorgende Mutter, er wollte sein Wort das er Jabari gegeben hatte nicht brechen.
Nachdem er dem Giraffenjungen noch mal zu trinken gegeben hatte und er sich vergewissert hatte dass das Feuer noch für eine Weile brennen würde, legte sich Mahiri wieder zum Schlafen nieder.
Der Morgen dämmerte schon als Mahiri aus seinem tiefen Schlaf gerissen wurde. Etwas warmes, Feuchtes hatte ihn gerade an seiner Wange berührt. Hechelnder Atem wehte ihm ins Gesicht. Ein wohlbekannter Geruch ließ Mahiri die Augen öffnen. Tatsächlich, er war es. Mahiris treuer Begleiter hatte ihn gefunden.
“Diallo, mein Junge, wie kommst du denn hierher? Wie hast du mich gefunden?”
Mahiri war es inzwischen so gewöhnt sich mit den anderen Tieren zu unterhalten, dass er auf eine Antwort wartete. Die bestand aber nur aus einem wilden Schwanzwedeln und einer nassen, langen Zunge die ihm sabbernd übers Gesicht fuhr.
“Diallo, nun sag schon, wie kommst du hierher.”
Dann drang eine ihm sehr bekannte Stimme ans Ohr.
“Mahiri, erwartest du tatsächlich dass er dir antwortet? Du musst sehr verwirrt sein, wenn du glaubst, der Hund würde mit dir sprechen.”
“Vater, du bist auch hier. Wie habt ihr mich gefunden?”
Mahiris Vater betrat die Höhle und setzte sich nachdem er fragend auf das Giraffenkalb deutete, an Mahiris Seite.
“Wir sind deiner Fährte gefolgt, mein Sohn. Als du am frühen Abend nicht zurück ins Dorf gekommen bist, habe ich mich mit Diallo auf den Weg gemacht. Dein Hund hat mich zu dir geführt, er ist ein ausgezeichneter Spurensucher. Was machst du hier? Weshalb bist du hier in dieser Höhle und was hast du mit der kleinen Giraffe vor?”
Mahiri erzählte seinem Vater das ganze Abenteuer das er erlebt hatte. Staunend hörte er ihm zu, unterbrach ihn aber nur durch manch erstaunten Ausruf. Als Mahiri geendet hatte schwiegen die beiden einen Moment lang.
Dann rutschte sein Vater zu dem Kälbchen rüber und betrachtete seinen Vorderlauf.
“Das wird seine Zeit dauern, bis es verheilt ist. Du hast sehr weise gehandelt indem du es zum Schutz hierhin brachtest. Aber dass du mit den Giraffen sprechen konntest, das nehme ich dir aber nicht ab. Als ich vorhin hergekommen bin, musste ich mich an ihnen vorbei schleichen um Diallo zu folgen. Sie standen etwas abseits zusammen, aber es ist kein mir verständliches Wort ans Ohr gedrungen.”
Mahiri sprang entrüstet auf, so schnell dass das Kälbchen schreckhaft zusammenfuhr.
“Du glaubst mir nicht, dass ich mit den Tieren sprechen kann? Warte, ich werde es dir beweisen.”
Er drehte sich nach seinem Hund um und wies ihn an zu ihm zu kommen. Dieser setzte sich erwartungsvoll vor sein Herrchen.
“Diallo, hilf mir meinem Vater zu zeigen, dass ich mich mit den Tieren verständigen kann. Sag irgendetwas damit er es hören kann.”
Diallo wedelte nur noch kräftiger mit seinem Schwanz und sah sein junges Herrchen dabei freudig an.
“Diallo, bitte sag etwas. Oder besser noch ich werde dich jetzt nach draußen schicken und du wirst Jabari zu mir bringen. Geh los Diallo, bringe Jabari zu mir.”
Der Hund sprang augenblicklich auf und verließ die Höhle. Wenig später kam er freudig wedelnd zurück. In seinem Maul hatte er einen dicken abgebrochenen Ast. Er warf ihn Mahiri vor die nackten Füße.
“Nein, Diallo, das ist doch nur ein dummes Stück Holz. Du solltest Jabari zu mir bringen.”
“Mahiri, gib es auf. Der Hund kann nur die Dinge verstehen, die du ihm beigebracht hast. Würde er sprechen können, dann hätte er es doch schon längst getan. Du warst erschöpft und hast dir das alles nur eingebildet.”
“Aber nein, Vater, der Bewies liegt doch dort neben mir.”
Mahiri zeigte verzweifelt auf die kleine Giraffe. Dann wandte er sich um und verließ die Höhle. Draußen brannte die Sonne auf die ausgetrocknete Erde. Die Luft flimmerte und Mahiri musste die Hände schützend vor seine Augen legen um etwas zu sehen. Die Giraffen standen, genau wie sein Vater vorhin sagte, abseits. Mahiri drehte sich zu ihm um.
“Vater, ich werde es dir beweisen, dass ich keine Hirngespinste habe.”
“Jabari, Shuja, Furaha kommt bitte zu mir.”
Mahiris Vater, der anfangs noch belustigt dreinschaute wich erstaunt zur Seite, als die Giraffen angetrabt kamen. Jabari war als erster an der Höhle angekommen.
Was ist los, kleiner Bushmann?” Dann erblickte er Mahiris Vater und wich erschrocken zurück.
“Jabari, es ist alles in Ordnung. Es ist mein Vater, er war auf der Suche nach mir. Still, Diallo!”
Mahiri musste den knurrenden Hund am Pelz festhalten.
“Das ist Diallo, Shuja habe ich schon von ihm erzählt. Er wird euch nichts tun.”
“Warum hast du uns gerufen, Mahiri?”
“Mein Vater glaubt mir nicht, dass ich euch verstehen kann. Wie können wir es ihm beweisen?”
Mahiris Vater trat mit ungläubigen Augen vor die Höhle und stellte sich neben seinen Sohn.
“Ist schon gut Mahiri, ich brauche keinen Beweis. Ich kann zwar nicht verstehen was der Giraffenbulle zu dir sagt, aber meine Augen können sehen, dass ihr beide euch versteht. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich spüre dass hier etwas ganz Besonderes vor sich geht. Mahiri, ich werde dir Diallo zum Schutz hier lassen. Solange bis das Kälbchen auf seinen eigenen Beinen stehen kann. Es ist deine Aufgabe dich drum zu kümmern. Ich werde zurück ins Dorf gehen und dort auf deine Heimkehr warten. Viel Glück, Mahiri.”
 
Der alte Buschmann nahm seinen Speer und huschte schnell an den großen Geschöpfen vorbei. Obwohl er wusste dass die Giraffen ihm nichts tun würden, fühlte er sich wohler als er etwas weiter entfernt seinen alten Spuren folgend den Heimweg antrat.
Mahiri blieb zurück und sah seinem Vater nach bis ihn die vor Hitze flimmernde Luft ganz verschluckt hatte.
Es vergingen einige Wochen, in denen Mahiri die Giraffenherde nur verließ um für sich selbst auf Nahrungssuche zu gehen. Diallo war ein echter Glücksfall und hatte schon mehrmals rechtzeitig vor nahender Gefahr gewarnt. Immer wieder konnte Mahiri mit Hilfe des Feuers, Diallos und der Giraffenherde, sich anschleichende Räuber vertreiben. Das Giraffenkalb erfreute sich bester Gesundheit und seit wenigen Tagen versuchte es sich aufzustellen. Noch konnte es das verletzte Bein nicht belasten, aber Mahiri bemerkte dass es täglich Fortschritte machte und immer öfter den gebrochenen Vorderlauf benutzte, wenn auch nur für kurze Zeit.
Es erfüllte den kleinen Buschmann mit Glück, als er feststellte dass das Giraffenjunge auf dem Weg der Genesung war. Schon bald würde die Herde ihn nicht mehr brauchen und das Kälbchen würde Seite an Seite mit seinem Vater durch die Steppe galoppieren. Trotz dieses berauschenden Gefühls machte die Tatsache, dass Diallo kein einziges Wort mit ihm sprechen wollte, Mahiri zu schaffen. Immer wieder versuchte er seinen Hund dazu zu bringen sich ihm verständlich zu machen. Aber dieser sah ihn jedes Mal nur freudig schwanzwedelnd an und brachte ihm Steine und Stöckchen, sagte aber keinen einzigen Ton, außer dass er kräftig bellte um seinen Meister aufzufordern ihm das Stöckchen zu werfen.
“Jabari, warum kann mein Hund nicht sprechen, so wie ihr? Es wäre so schön für mich, wenn ich ihn verstehen könnte. Klar, wir verständigen uns auch so sehr gut, aber es wäre wirklich wunderbar, wenn er mir auch ab und zu verraten könnte, was er so denkt, was er sich wünscht, ganz egal, einfach miteinander reden, so wie es Freunde tun.”
Jabari sah Mahiri amüsiert an. Er konnte sein Anliegen zwar sehr gut nachvollziehen, aber ein sprechender Hund? Der Gedanke dass sprechende Giraffen ebenfalls sehr ungewöhnlich sind, kam dem stolzen Giraffenbullen dabei gar nicht.
“Mahiri, ich kann schon verstehen, dass du dir wünschst, Diallo könnte so mit dir reden, wie wir es tun. Aber er ist doch nur ein Hund! Hunde sprechen nicht, die bellen und knurren nur.”
Mahiri sah seinen neuen Freund entrüstet an.
“Was heißt hier, er sei nur ein Hund? Er ist mein bester Freund. Er ist wie ein Bruder für mich, er gehört zur Familie, genau wie meine Geschwister und Eltern.”
“Tut mir Leid, ich wollte dich nicht verletzten. Ich weiß auch nicht warum du uns verstehen kannst und bei deinem Freund gelingt es dir nicht. Vielleicht liegt es daran, dass wir aus der Not heraus einen Weg gefunden haben uns zu verständigen. Ich habe dir ja gesagt, dass nur Menschen reinen Herzens dazu fähig sind.”
Mahiri streichelte das zottelige Fell seines Hundes.
“Du denkst also, dass ich mich nur mit Tieren verständigen kann, wenn sie meine Hilfe benötigen?”
Jabari nickte. “Ich denke so wird es sein, tut mir Leid, kleiner Buschmann. Ich hätte es euch beiden gewünscht, dass ihr euch noch besser verstehen könnt.”
Mahiri und Jabari schreckten zusammen. Aus der Höhle war ein Geräusch zu hören.
“Ich habe Hunger. Wo ist meine Mama?”
Im Höhleneingang stand das Giraffenjunge ganz fest auf seinen vier Beinen und sah die beiden fragend an.
Mahiri wies in die Richtung wo er Furaha zuletzt gesehen hatte.
“Schaffst du es alleine?”
Das Kälbchen setzte sich in Bewegung, hinkte nur noch die ersten Schritte, bis es sich bewusst war, dass es seinen Vorderlauf schmerzfrei aufsetzten konnte, dann preschte es auf die Giraffenherde, wo seine Mutter sich befand, zu. Ein Raunen ging durch die Menge. Shuja war gerührt, als sie den kleinen Burschen angaloppiert kommen sah. Furaha konnte ihre Tränen der Rührung nicht verbergen, als ihr Sohn ganz eigenständig zu ihr kam und sofort zu trinken begann.
Jabari schluckte, er wollte sich keine Blöße geben, aber alle konnten sehen wie glücklich er war.
“Wir brauchen einen Namen für unser jüngstes Herdenmitglied. Der Kleine hat immer noch keinen Namen. Mahiri, du sollst die Ehre haben ihm seinen Namen zu geben.”
Mahiri marschierte stolzen Schrittes auf die Giraffenherde zu. Er wartete bis das Junge fertig getrunken hatte, dann legte er seine Hand auf den Kopf des Giraffenkalbes.
“Saalim, der Gerettete. Dein Name soll Saalim sein.”
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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