Irmgard Schöndorf Welch

Der Tag, als Sara Daniels verschwand

 *








Der Tag, als Sara Daniels verschwand

Es ist kurz nach zwei Uhr. Nachts.
Sara wandert unruhig im Zimmer auf und ab. Ihre Wohnung liegt im steinernen Zentrum der Stadt, im achtzehnten Stockwerk eines Hochhauses. Sara verlässt ihr Appartement selten. Manchmal fährt sie viele Tage lang nicht hinunter.

Im Fernsehen läuft gerade ein Thriller. Ab und zu schaut sie gelangweilt auf den Bildschirm. Wieder einmal unmotivierte Prügelszenen, Blutspritzereien, Auto-Crashs, Verfolgungsjagden und da ... auch noch ein Frauenmord, natürlich an einem silikonbusigen Modell. Komisch - die Darstellerin, die da gerade umgebracht wird, könnte Cathrin sein, ihre Stiefschwester. Sieht ihr zum Verwechseln ähnlich. Das reicht.
Klick. Weg.

Der Gedanke an Cathrin verursacht Sara Unbehagen. Die ältere Halbschwester - aus erster Ehe der Mutter - schreibt ihr in letzter Zeit böse Mails. Sie scheint es nicht zu verwinden, dass Sara, entgegen ihrer früheren Großzügigkeit, ihr nun kein Geld mehr überweist. Nun muss Cathrin selbst mit ihrem Leben zurecht kommen.
- Vielleicht solltest Du es einmal mit einem Job versuchen - hatte Sara ihr zurück geschrieben. Seit Cathrin bei einem Besuch vor zwei Jahren Saras weißen Nerzmantel mitgenommen, das heißt gestohlen, und es dann auch noch abgestritten hat, herrscht zwischen den beiden Schwestern Unfrieden. Wenn Cathrin anruft, legt Sara den Hörer auf. Nun ruft Cathrin nicht mehr an. Sie haben sich seit langem auch nicht mehr gesehen.

Eigentlich sollte ich längst schlafen, denkt Sara, ich muss morgen frisch und ausgeruht sein, denn der Tag wird große Veränderungen bringen. Das ist noch bescheiden ausgedrückt ... er wird mein Leben in ganz neue Bahnen lenken.

Aber gerade jetzt, wo sie Ruhe so nötig hat, findet sie keine. Noch einmal liest sie die EMails von Marco. Eine überraschende Fügung des Schicksals, dass sie ihm in einem Internet-Chat vor zwei Wochen zufällig wieder begegnet war, ihrem Feriengeliebten vom Lago Maggiore. Auch er war freudig erstaunt über das neue, unverhoffte - diesmal virtuelle - Zusammentreffen. Von da an begannen die beiden, jede Nacht im WEB Erlebnisse von früher auszutauschen:
- Weißt Du noch, die Zeit in Ascona – wie lang ist das her ... acht Jahre? Unsere Wanderungen über den Monte Verità - schrieb er - die einsame, versteckte Sennerhütte bei Locarno, in der wir zum ersten Mal ... ach, es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, amore -
Was für eine einsame Sennhütte? Es war doch ein Zimmer in einem überfüllten Mittelklasse-Hotel, hatte sich Sara erinnert. Aber sie musste schon öfter feststellen in letzter Zeit, dass ihr Gedächtnis ... Wie auch immer. Sie waren beide wieder in den alten Liebesspielen gefangen Diesmal eben verbal. Stundenlang via Internet. Wild, erfindungsreich, viel obszöner als früher kam er daher und sie war ... verwundert. Er war immer ein großer Schweiger gewesen, verhalten im Reden, voller Glut und Leidenschaft im Tun. Keiner, dem sexuelle ... nein pornografische Worte so locker zur Verfügung standen.

Sie hätte Marco gern angerufen, seine Stimme gehört. Doch das wollte er keinesfalls, um – wie er mailte - die Magie ihres wunderbaren Zusammenfindens nicht durch gewöhnliche Telefonplaudereien zu verderben. Er schrieb, dass er inzwischen verheiratet gewesen, seit drei Jahren aber geschieden sei, dass sie, Sara, immer in seinen Gedanken - auch in den Zukunftsträumen – die einzige gewesen sei ... la mia unica donna ... und dies merkwürdigerweise trotz nachehelicher Affären mit mehreren anderen Frauen.
Carissima –
Er, in Deutschland geboren und aufgewachsen – aber mit italienischem Vater - schien es neuerdings zu lieben, in seine Mails immer wieder italienische Begriffe einfließen zu lassen. Das kannte sie nicht an ihm.

Fotos hatten die zwei natürlich auch ausgetauscht. Im Anhang. Marco war nach all den Jahren s c h o n verändert, doch ganz zu seinem Vorteil. Rätselhafter, aufregender war er und noch männlicher, ernster seine mageren Züge, intensiver, brennender der Blick der dunklen Augen
Sara erzählte ihm von Stefan, ihrem Mann – nein verheiratet war sie nicht ... dennoch ihr Mann! Sie erzählte Marco also von Stefan und seiner unbegründeten Eifersucht und schilderte, wie sie mit ihm nach jahrelangem Zusammensein nun fast nichts mehr verband.
Sie erzählte von ihren Lebensumständen, von jener Krankheit, die Agoraphobie heißt. Von der unbeschreibbaren Panik, die sie schon bei dem Gedanken befiel, ihre Wohnung, wenn auch nur für kurze Zeit, verlassen zu müssen.
- Mit mir wirst du überall hin gehen, ich garantiere es dir, Cara mia - schrieb er.
Und sie antwortete mit einem Lächeln auf dem Gesicht, wie sehr sie in ihn verliebt gewesen sei, damals. War sie das nicht auch jetzt? Waren sich ihre Herzen nicht wieder genau so nah wie in Ascona? Und dennoch! Eine Schwäche befällt Sara beim Gedanken an die Abreise morgen ... Alles aufgeben! Neu anfangen! Aber nichts wollte sie doch sehnsüchtiger...

Und er?
- Wir müssen uns sehen, Du Herrin meiner Begierde, ich zähle die Sekunden, bis ich Dich in meinen Armen halte und Du endlich an mein bebendes, leidendes Herz zurückkehren wirst - hatte er gemailt, was ja nun Sara ziemlich sonderbar vorkam, vor allem, weil er früher nicht zu solchen – sie musste es sich eingestehen – befremdlichen Aussprüchen neigte.

– Aber, meine Ängste, meine Probleme - hatte sie zurückgeschrieben - sie sind schlimmer als Du ahnst. So versuche ich zum Beispiel schon seit Tagen ohne Erfolg, meine Klamotten zusammenzupacken! -
- Sara, mach Dir keine Gedanken ... überlass alles mir. Wir werden das, was Du brauchst, unterwegs kaufen. Das einzige, was wichtig ist: wir gehören zusammen. Ich werde Dich mit dem Auto abholen, entführen, und auf dem Weg zu unserem neuen Haus in Bella Italia werden wir entspannt miteinander Deinen Zuständen zu Leibe rücken! Deine Ängste werden zerfließen wie Schnee in der Sonne. Du wirst sehen! -

O je ... das klingt so sehr nach Sechser im Lotto! So etwas ist eigentlich suspekt. Solche Sachen gibt es nur in Groschen-Romanen, denkt sie.
Ich glaub es noch nicht ganz, aber ich nehme es einfach einmal als gegeben hin ... also morgen früh wird er an meiner Tür läuten ... oder auch nicht ... ich werde einfach abwarten - suggeriert sie sich locker und ist doch innen zum Zerreißen gespannt.

Was den armen Stefan, ihren Verlobten, betrifft ... er beeindruckt Sara schon längst nicht mehr wirklich. Sie war von seinem vorteilhaften, ja besonders vorteilhaften Aussehen fasziniert, auch von seiner männlichen Leidenschaft und der Glut, mit der er sie umworben hatte, überrumpelt gewesen und mit einer Heirat hatte sie sich einverstanden erklärt ... aber erst später ... sie hatten ja alle Zeit der Welt. Jetzt will er ständig wissen, was sie gedacht, getan ... mit wem sie telefoniert hat ... nicht einmal diese Freiheit lässt er ihr, wo sie doch schon so selten vor die Tür geht. Er findet es wohl bequem, eine zu haben, die immer in der Wohnung auf ihn wartet, immer freundlich, immer für ihn bereit ist. Sie freut sich schon lange nicht mehr auf sein Kommen. Sie sind sich im Inneren fremd geworden. Es gibt nur zwei Dinge, die ihn an mich ketten, weiß sie: unser Sex und die Tatsache, dass ich eine reiche Frau bin.
Aber seine besitzergreifende, stets unbeherrschte Art hat sie müde und mürbe gemacht und sie hat seit längerem versucht, ihn schonungsvoll auf eine Trennung vorzubereiten und das schon, bevor Marco wieder in ihr Leben ...

'Er hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich einfach verschwinde, ohne es ihm groß anzukündigen', denkt Sara.

Jetzt brauche ich dringend meinen Schönheitssschlaf. Was, wenn Marco von meinem Aussehen enttäuscht ist? Trotz der naturgetreuen Fotos, die ich ihm gemailt habe? Sara kommt und kommt nicht zur Ruhe. In ihrem Kopf fahren tausend Gedanken Karussell. So, als renne einer vor dem anderen davon ... keinen kann ihr Hirn festhalten.

Sie steht vom Bett auf. Stellt das Radio an. Auf Zimmerlautstärke. Jetzt ertönt eine getragene, feierliche Musik ... gregorianische Choräle, von Mönchen gesungen. Sphärenklänge ... überirdisch, klar. Aufzeichnungen aus einer Abtei, einem Münster? Sara lauscht den Gesängen und eine Ahnung von Größe und Ewigkeit rührt sie an. Reinheit weht zu ihr herüber ... aus mittelalterlicher Ferne.

Sie wird ruhiger. Die eigentümlich erhabenen Weisen im Ohr, tritt sie auf den Balkon hinaus.
Es ist Vollmond, die Nacht stürmisch und kühl. Der Wind riecht nach Atlantik.

Tief saugt sie die prickelnde Luft ein.
Das Haus gehört zu einer Neubau-Siedlung auf der Anhöhe. Sie kann heute im Licht des Mondes fast die ganze Stadt überschauen. Weit fällt ihr Blick hinaus ins Nachtblau, bis hin zu den hohen Kirchturmspitzen am Horizont. Die niedrigeren Gebäude liegen als finstere Umrisse, als massive schwarze Klötze, zu ihren Füßen. Die Bäume, auch die geparkten Autos unten sind winzig, dunkel und weit weg.

Sara trägt ihre Gymnastikmatte und ein Kissen hinaus auf den Balkon. Die Luft hat schon die ersten, sanft wahrnehmbaren Gerüche des Frühlings in sich ... Duft von blühenden Kirschbäumen, Flieder.
Sara möchte auf einmal im Freien schlafen, den ganzen Rest dieser wunderbaren Nacht. Sie MUSS die Aromen der Landschaft riechen, muss spüren, wie der Wind ihre Haut streift. Das wird ihr die Kraft für die Reise geben ... wenn es denn eine geben wird!
Schnell holt sie noch die dünne Daunendecke, richtet sich da draußen ihr Lager, liegt und betrachtet ehrfurchtsvoll den sternenbesäten Himmel. Frei und hoch spannt er sich über die Stadt.

Wie ein dunkles, blau-violettes Tuch ist das Firmament. Die Sterne sehen aus wie Nadellöcher, hineingestochen in den Samt dieses Tuches. Durch sie blitzt und funkelt es golden, als ob von der Rückseite her ein gleißendes Licht hindurch fiele.
Im Mittelalter glaubten die Menschen, die Erde sei durch eine feste Kuppel vom ‚Jenseits‘ getrennt. Sie wussten nichts von fernen Galaxien, sondern hielten die Himmelskörper ganz selbstverständlich für den Abglanz und das Leuchten vom vollkommenen Licht Gottes, das durch Millionen winziger Öffnungspunkte in der erdüberspannenden Kuppel zu ihnen herüber fiel. Dahinter begann das ‚Himmelreich‘ mit seinen Engeln, Heiligen und den geretteten, Hosianna singenden Seelen. Dorthin würde man selbst auch nach einem christlichen, tugendhaften Leben gelangen.

Was für simple, kindliche Gedanken! Sara muss lächeln. Sie räkelt sich auf ihrem Lager, betrachtet das Firmament.
Aber, wie seltsam ... nach einer Weile sind nur noch wenige Sterne zu sehen. Doch der Mond ist satt und gelb. Am oberen Rand fehlt ihm allerdings ein Stückchen zur runden Vollkommenheit.
Aus dem Radio im Wohnzimmer klingt auf einmal ein italienisches Lied, eine liebliche, doch erhabene Frauenstimme singt. Maria Callas? Casta Diva?

Sara lauscht eine Zeit lang dem glockenklaren Gesang. Friede will sich in ihre Seele senken. Aber es gelingt nicht. Auch weil am Nachthimmel plötzlich ein sonderbarer Aufruhr herrscht.
Was vorher nicht war ... der Wind fegt jetzt Wolken vor sich her, hellviolette mit phosphorgelben Rändern. Die leuchten im Dunkel wie von innen heraus. Hektisch wandern sie über die Mondscheibe hinweg, verschatten sie, verdecken sie manchmal ganz, dass sie für eine kurze Weile unsichtbar bleibt.
Bald jagen die Wolken immer rasender dahin, als scheuche eine höhere Macht sie gewaltsam über das Firmament. Gebannt folgt ihnen Sara mit den Augen.

Da ... etwas ist plötzlich anders! Die Wolken brechen aus ihrem bisherigen Kurs aus, ziehen nicht mehr windgetrieben von West nach Ost dort oben am Himmel, ein fernes, entrücktes Schauspiel bietend wie noch vor wenigen Sekunden. Nein, sie stieben wild aus der Nacht heraus und frontal auf die Erde zu. Geradewegs stürzen sie sich Saras Hochhausbalkon entgegen.

Sinnestäuschung! Es hat wohl etwas mit meiner Liegeposition hier draußen zu tun, mit dem Blickwinkel, meint Sara.
Aber die Wolken nähern sich ihr weiterhin, auch als sie von der Matte aufsteht und sich an die Brüstung lehnt. Noch wilder wallen sie jetzt auf sie zu. Doch ... es sind keine Wolken mehr, es sind Gesichter! Wie Leuchtkugeln stürzen sie aus dem Schwarz des Weltraums hervor.

Ja, es sind MENSCHENANTLITZE, die da über die Dächer der Stadt zu ihr drängen. Fluoreszierend, von innen belebt. Gesichter, männliche, weibliche. Und die von Kindern. Ebenmäßige. Bizarre. Schiefe, Verzerrte. Zerstörte Züge von grässlich Leidenden. Oder zornig brutale mit bös vorgereckten Kinnladen und schreiend geöffneten Mündern. Aber auch solche von großer, irdischer Schönheit.

Jeder kennt so etwas, denkt Sara ‚ghost-riders in the sky‘... heißen sie in einem alten Lied!
Doch das, was sich jetzt dort oben abspielt, ist anders: Das sind keine Schemen mehr. Keine Formen von Wasserdampf und Nebel, die die Züge von Menschen vortäuschen. Diese Gesichter sind real.
Sie kommen auf Sara zu ... abscheuliche Fratzen, Totenschädel mit leeren Augenhöhlen, deren Knochenwülste sich aber auf einmal mit Fleisch füllen, wie in geraffter Zeitlupe. Augen wachsen ihnen. Die Wangen werden rund, gesund, die Augen glänzen, sie lachen, sind wieder wohlgenährt. Und alle diese Antlitze wandeln sich unablässig, drehen sich, zeigen sich bald dreidimensional, von vorne und im Profil, ändern ständig ihren lebhaften Ausdruck.

Wenn sie dann vollendet sind, riesengroß fast den halben Nachthimmel füllen, fangen sie an, zu schrumpfen. Ja, kaum haben sie ihr größtes Volumen erreicht, so werden sie dumpf eingesogen ins Weltraumschwarz wie Aladins Geist in die Flasche. Verschwinden am Schluß, pünktchenklein in finsteren Galaxien. Da haben sie längst anderen Gesichtern Platz gemacht. Und auch vor diese schieben sich neue und wieder neue, Durchtriebene, maliziös Grinsende, sanft Lächelnde. Alle quellen aus dem Kosmos heraus, unaufhörlich.

Spielerisch und kokett führen sie sich selbst vor, so, als hätten sie ihren Auftritt schon seit langem geplant, denkt Sara vage. Doch ist da etwas Undefinierbares. Haben sie nicht sogar Hände, mit denen sie ausreichen, ausgreifen?

Die junge Frau rennt in die Wohnung zurück und kramt eilig ihren Fotoapparat hervor, denn was sie da draußen so überdeutlich sieht, müsste auch die Kamera ... Aber leider – sie hatte es schon geahnt – es ist gerade kein Film darin. Wie schade, nun wird es ihr nie jemand glauben, was hier gerade geschieht!

Von Schaulust getrieben, mit klopfendem Herzen zwar, läuft Sara wieder auf den Balkon. Und wahrhaftig, dort geht das Spektakel weiter. Gesichter, Gesichter!
Es ist, als kenne sie all diese Antlitze von irgendwo her. Doch ist unter den vielen Hunderten nicht eines, dem sie je im Leben begegnet ist. Es gibt auch keine Ähnlichkeit mit Menschen aus ihrem Freundeskreis, weder Lebenden, noch Toten, obwohl sie nach einer solchen sucht.

Lauter Unbekannte!

Wenn sie auch am Anfang aus Wolken begannen, so scheinen sie jetzt lebendige Wesen, denkt Sara. Es ist, als hätten sie die Wolken nur als Medium benutzt, um mit ihrer Hilfe in die Dimension der sichtbaren Wirklichkeit einzutreten. Nun haben sie Augen, Blicke, sie haben Münder, die lachen. Sie entblößen ihre Zähne, zeigen auf makabre Weise die Zunge.

Vielleicht sind es die Gesichter von Menschen, die vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden gelebt haben und deren geistige, aber auch sichtbare Substanz zwar nicht mehr auf der Erde, aber noch immer im Universum existiert, so wie Daten auf einer Festplatte nach dem scheinbaren Löschen doch gespeichert bleiben, fährt es Sara durch den Kopf.
Oder sind es Menschenentwürfe, Prototypen sozusagen, die schon längst in der Schöpfung vorgesehen waren, aber bisher nicht in irdische Realität umgesetzt wurden und die heute Nacht hier so etwas wie ihren Probeauftritt haben?

Wie behext starrt Sara zu den Erscheinungen hinauf.
Und sie fühlt: da laufen geheime Verbindungsstränge von ihnen zu ihr. Wie eine schwere, magnetische Kraft.
Als wollten sie MIR etwas zu verstehen geben. Oder vielleicht möchten sie einfach nur, dass IRGEND JEMAND sie wahrnimmt.

*

Die Uhr am Handgelenk zeigt: 13. April 2003. Zwei-Uhr-fünfundfünfzig. Die Nacht ist fast vorbei - denkt sie unruhig – und noch immer geistern die bizarren Gesichter am Himmel herum. Nur um sie zu beeindrucken? Zu verwirren?
Aber dieses Spektakel scheint keine todernste Angelegenheit zu sein. Denn manche der Wesen schmunzeln oder schneiden Grimassen, andere sehen aus, als ob sie mit weit geöffneten Mündern sängen, dazu ihr komisches Haar aufgetakelt, hochtoupiert, wie um die Beschauerin zum Lachen zu reizen. Ein gutes Quentchen Jux und Tollerei ist schon bei der Sache, das muss Sara sich eingestehen.

Nein - weiß sie - ich halluziniere nicht! Ich habe auch keine Drogen genommen, keinen Alkohol getrunken. Und ich träume nicht. Ich bin hellwach. Ist es vielleicht das Reisefieber, die unterdrückte, neurotische Panik, die mir diese Schemen vorgaukelt?"
Merkwürdig ... sie hat auf einmal vor dem morgigen Tag Angst. Deshalb findet sie heute Nacht keinen Schlaf.

Plötzlich schiebt sich aus dem Hintergrund des Alls ein mächtiges Haupt hervor. Die anderen Erscheinungen gleiten schrumpfend zurück ins Dunkel, überlassen ihm die Szene. Es wächst, dehnt sich, füllt die ganze eine Himmelshälfte. Beethoven! Sara weiß es im gleichen Augenblick. Beethoven ...kaum je hat sie einen Gedanken an ihn verschwendet. Sie liebt zwar seine – bekanntesten – Werke sehr, sehr ... aber unzählige andere Menschen tun das auch!

Jetzt starrt sie wie hypnotisiert in die mächtigen, ehrfurchtgebietenden Züge. Die Augen des großen Mannes lächeln rätselhaft und alles durchschauend in die ihren, dass sie ebenfalls lächeln muss, ob sie will, oder nicht. Zuletzt zieht sich das schöne Haupt langsam, auch es immer kleiner werdend, zurück in galaktische Weiten. Andere Gesichter füllen rasch seinen Platz, fuchsartige kleine Halunkenfressen und die glatten Lärvchen von Schönlingen mit Oberlippenbärtchen und keck grinsenden Augen. Das ganze Firmament ist offensichtlich zur Bühne geworden, auf der sich das formenwallende Spektakel austobt, knapp über der Häusersilhouette der Stadt.

Wirklich nur ein sinnloses Blendwerk? Oder möchten sie ihr zeigen: es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde ...?

Vielleicht haben sie sich wahllos ein Menschlein herausgepickt – mich – um vor mir heute ihre Kräfte zu zeigen, aus Spaß und in einer Art verfrühtem Walpurgisfest', denkt Sara. ‚ODER sie geistern schon längst an allen Horizonten der Welt herum und Millionen Leute sehen sie jede Nacht, wenn sie zum Firmament starren. Was weiß denn ich?
Aber ... schaudernd spürt sie auch: Die sind nicht so harmlos, wie sie sich einreden möchte. Ihr ist, als ob etwas ganz und gar Eigentümliches in ihren Zügen lauerte. Warum lassen sie sie nicht in Ruhe?

Manchmal stieben vier, fünf dieser sonderbaren Gesichter gleichzeitig aus dem Dunkel heraus. Schießen nach vorn. Auf Saras Balkon zu. Schwellen, schwellen. Verflüchtigen sich am Ende schrumpfend in die Finsternis des Universums, um wieder neuen Platz zu schaffen. Und über allem hängt es wie ein großes, tonloses Lachen.

Am Ende wird es Sara zu bunt. Da wächst ihr der Zauber über den Kopf. Die Wahrheit ist: es packt sie ein Grauen.

Genug ist genug. Sie muss morgen frisch sein für Marco und ihr WIRKLICHES Leben!
Sara lässt alles draußen liegen, springt in die Wohnung zurück, schiebt mit einem Ruck die gläserne Balkontür zu.

Jedoch ein rascher Blick durch die Panoramascheiben im Wohnzimmer sagt ihr: die Wesen wogen weiter am Himmel, zucken auf und vergehen, zucken wie Blitze in einem gewaltigen Wetterleuchten. Immer neue kommen. Immer neue. Sie sind jetzt gefährlich nah vor ihren Scheiben. Weit öffnen sie ihre Menschenmünder, lachen ihr entgegen. Lachen sie wirklich?
"Schluss jetzt", schreit Sara.

Sie rennt an der Fensterfront ihres Wohnzimmers entlang. Mit Knopfdruck lässt sie überall die Jalousien herunter, so schnell ihre zitternden Hände es noch erlauben. Ihr Herz rast.
Jetzt ist‘s gut, ermutigt sie sich selbst, lass die Gesichter auf sich beruhen! Denk an Marco und seine Liebe, denk an die Reise morgen, an Frühling und die Fahrt durch herrliche Landschaften! Denk an all das Großartige, das dich bald erwartet! Vergiss die Gespenster. Deine Fantasie hat Dir etwas vorgegaukelt...'

Jetzt hat sie nur noch zwei oder drei Stunden zum Schlafen.
- Im frühen Morgengrauen werde ich bei Dir sein und Dich holen - hatte Marco gemailt - sei dann für mich bereit, amore mio -
Warum so früh? Ja, merkwürdig ...

Endlich, endlich doch müde geworden, holt sie sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank, legt sich aufs Bett, lauscht der Radiomusik. Wunderbare Klänge, New Age-Musik jetzt, fernes Meeresrauschen und die Gesänge der Wale ziehen leise durch den Raum und ... ach ja, hier drinnen ist es kalt ... Die Zudecke brauche ich, denkt sie, ich hab sie auf dem Balkon vergessen ... ich werde sie jetzt holen ...

*

Drei Tage später sitzt Stefan Vogelgesang beim Verhör auf dem Polizeipräsidium.
"Sagen Sie uns endlich ... was haben Sie mit ihrer Verlobten gemacht? Sie sind offensichtlich der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Eine Etagenbewohnerin beobachtete, wie Sie am späten Nachmittag des 13. April Frau Daniels Tür aufsperrten. Sie haben doch einen Schlüssel?"

"Das streite ich nicht ab. Ich bin da hin gegangen ... mein Gott, ja ... ich habe mir Sorgen gemacht, weil sie den ganzen Morgen meine Telefonanrufe ignorierte. Und dabei hätte sie zuhause sein müssen, denn sie ist krank. Ohne Begleitung wagt sie sich nicht auf die Straße. Als sie sich nicht meldete, musste ich natürlich glauben, sie sei doch ausgegangen, eine Freundin oder ihre Mutter hätten sie vielleicht abgeholt. Ich telefonierte überall herum. Keiner hatte sie gesehen, sie hatte auch niemanden aus ihrem Bekanntenkreis angerufen, obwohl sie das doch sonst täglich tut. Ich war beunruhigt! Deshalb ging ich zur Wohnung. Aber die Wohnung war leer. Nur das Radio lief. Ich habe es dann abgestellt. Was soll ich Ihnen sagen? Es ist die Wahrheit!"

"Ihr Verhältnis war längst schon in die Brüche gegangen, Sara Daniels wollte sie verlassen!"
"Das stimmt nicht!"
"Sie haben bereits einmal wegen Körperverletzung ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen!"
"Das hat mit meiner Verlobten nichts zu tun!"
"Sie sind ein gewalttätiger Mensch, Herr Vogelgesang! Und sie wurden im Hochhaus von Mietern gesehen, wie sie am Nachmittag des 13. April einen fast mannshohen blauen Plastiksack im Fahrstuhl nach unten transportierten. Die auffällige Größe des Objekts hatte damals das Staunen mehrerer Nachbarn erregt."

"Klar ... ich habe Saras Müll hinuntergebracht. Das mache ich regelmäßig. Sie sammelt ihn an. Wie gesagt, sie wagt sich ja nicht vor die Tür!"
„Frau Daniels hat eine Haushaltshilfe, die zweimal in der Woche kommt. Also kann die Sache mit dem Riesen-Abfallsack so nicht stimmen!“

Pech – denkt Kommisar Schulz - dass der Müll im gesamten Stadtteil gleich am nächsten Morgen abgefahren worden ist. Das sind hunderte von Tonnen, die auf der Halde ausgekippt wurden. Da war Nachprüfen eine Sisyphusarbeit und unser Ergebnis doch gleich null.

Schauen Sie: unsere Recherchen haben ergeben: Frau Daniels ist eine extrem gute Partie, wie man früher so sagte. So besitzt sie zum Beispiel – vom Vater geerbt - unbezahlbare Immobilien. Auch das Daniels-Hochhaus, in dem sie selbst wohnt - pardon wohnte - gehört ihr. Mit einer Heirat hatten Sie gerechnet und nun gibt Ihnen diese Frau den Laufpass. Da ist es doch naheliegend ...

"Sie wollen mir tatsächlich Saras Verschwinden in die Schuhe schieben ... ich habe sie geliebt!" Der am Tisch sitzende Mann vergräbt den Kopf theatralisch in die Armbeuge.

"Ihre Verlobte hat keine Tasche mitgenommen, keine Papiere, nicht einmal ihren Make-up-kid. Besonders ohne letzteren würde eine so junge, so attraktive Frau kaum ausgehen. Und wie wollen Sie uns erklären, dass bei dem doch recht kühlen Wetter an diesem Tag aus der Wohnung weder Mantel, noch Jacke, ja nicht einmal ein Paar Schuhe fehlen? Offensichtlich auch keine ihrer kostbaren Klein-Antiquitäten. Die Mutter der Verschwundenen hat das genau nachgeprüft. Das einzige was vermisst wird, ist der Laptop. Wir sind sicher, dass Sie ihn mitgenommen und irgendwo entsorgt haben.“

Dann ist da noch eine äußerst eigentümliche Tatsache, die ich Ihnen nicht zu verheimlichen brauche, weil sie sie schon längst aus den Zeitungen kennen: Frau Daniels lederne Schmuckkasette wurde aufgeplatzt, mit verstreutem, zum Teil etwas beschädigtem Inhalt, am Morgen des 13. April, also dem Tag ihres Verschwindens, von spielenden Kindern in der Grünanlage gefunden. Eines war leicht nachzuweisen: das Kästchen konnte nur von Saras Balkon herabgeworfen oder gefallen sein.

Aber wenn Vogelgesang der Täter war ... warum hätte er DAS tun sollen ... fragte sich der Kommissar natürlich längst heimlich. Doch er sagte barsch:
„Es steht fest ... außer Frau Daniels hatten nur SIE einen Schlüssel zu dem Appartement! Wir wollen endlich die Wahrheit hören!"
"Ich habe nichts getan!"

"Da muss die junge Frau wohl nackt und barfuß davongeschwebt sein ...“
"Ja wahrscheinlich! Vielleicht ist sie aber auch mit einem Hubschrauber entführt worden oder sie hat sich selbst in der Badewanne in Säure aufgelöst und jemand hat nachgespült", schreit Stefan Vogelgesang und hält offensichtlich mühsam Tränen der Wut zurück.

"Ihr Zynismus macht Sie erst recht verdächtig! Wir haben Saras Verwandte und Freunde befragt. Sie lebte wie eine Einsiedlerin. Es gibt null Anhaltspunkte für die Einmischung fremder Personen! Nichts! Aber SIE sind ihr Vertrauter gewesen! Und Sie haben auf Heirat und Reichtum gehofft ...
"Ich bin unschuldig."
"Nein, nein, so kommen Sie uns nicht davon! Wir glauben Ihnen kein Wort ... geben Sie endlich zu. Sie haben ihre Freundin getötet."
"NEIN." Stefan Vogelgesang schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass der gläserne Aschenbecher in die Luft springt.
Der Kommissar winkt einen seiner Mitarbeiter heran. "Für heute machen wir mit dem Verhör Schluss. Schaffen Sie den Mann zurück in die Zelle!“

Wir kommen nicht weiter - müssen sie sich bei der Soko bald eingestehen. Man rekapituliert: Es wurden keine fremden Fingerabdrücke oder DNA im Appartement gefunden. Auch kein fremdes Haar oder Gewebe, keine Blutspuren, die auf eine Gewalttat hätten schließen lassen. Sara hatte wegen ihrer Soziopathie nicht einmal Besuche von Verwandten oder früheren Freunden geduldet. Nur die Mutter, der Verlobte und die Haushaltshilfe kamen regelmäßig. Die Mutter ist unverdächtig. Die recht junge Hausangestellte hatte nie einen Schlüssel zur Wohnung, befand sich übrigens zur Zeit des Verschwindens auf einer dreiwöchigen Urlaubsreise in Italien. Das ist erwiesen. Bleibt nur Vogelgesang. Also bitte ...


*


Anmerkung: Stefan Vogelgesang wurde ein Jahr später wegen Mangels an Beweisen frei gesprochen. Von Sara Daniels fehlt bis zum heutigen Tag jede Spur.



*







 
Copyright Irmgard Schöndorf Welch 01. 02. 2006

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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