Anna Schwegmann

Der traurige Baum und die verlorene Seele

Es war einmal vor vielen Jahren,da kamen regelmässig 2 kleine Mädchen her zu mir. Sie legten ihre Arme um meinen Stamm und fühlten sich geborgen. Meist standen sie lange da, ohne zu reden. Sie waren so unterschielich wie Menschen nur sein können, dennoch hatten sie eine Gemeinsamkeit. Ihre tiefe, grenzenlose Traurigkeit. Wenn ich ihnen in die Augen sah, war ich sicher, ganz tief auch in ihre kleinen Seelen blicken zu können. Es schmerzte sehr zu sehen, wieviel Leid die beiden kleinen Mädchen mit sich herum trugen.

Maria war ein Mädchen aus reichem Hause. Sie hatte alles was ihr Herz begehrte, naja fast alles. Denn die Liebe ihrer Eltern fehlte ihr sehr. Ihr Vater war ein angesehener Rechtsanwalt und ihre Mutter betrieb eine gutgehende Arztpraxis. Jeder Wunsch wurde Maria von den Augen abgelesen. Ihr Kinderzimmer glich einem Spielzeugladen. Hausangestellte kümmerten sich um ihr leibliches Wohl. Doch ihre Eltern selber hatten sehr selten Zeit für sie. Nahmen ihre Traurigkeit und ihre Sehnsucht nach Liebe, Wärme und Geborgenheit nicht wahr.

Pele,ihre einzige Freundin, kam aus armen Verhältnisen. Auch ihre Eltern hatten wenig Zeit für sie. Die Sorge um das tägliche Brot trieb sie immer wieder aus dem Haus. Ihr Vater hatte vor langer Zeit seine Arbeitsstelle verloren und es schien so, als wenn er keine Neue finden sollte. Um halbwegs das Überleben sichern zu können, hatte ihre Mutter verschiedene Putzstellen angenommen. Da sie auf dem Lande wohnten, war es ein riesiger Zeitaufwand diese Putzstellen zu erreichen und wieder heim zu kehren. Doch wenn dann abends alle beisammen saßen, dann verbrachte man soviel Zeit wie möglich miteinander. Pele wußte und konnte spüren, wie sehr ihre Eltern sie liebten. Dennoch war sie tieftraurig, weil sie sah, wie unglücklich ihre Eltern waren. Es tat ihrem Herzen weh, zu erkennen, wie mühsam das Leben für ihre Eltern war.

Pele und Maria lernten sich bei einem Schulfest kennen. Seitdem waren sie unzertrennlich. Sie teilten die Leidenschaft durch die Wälder zu streifen und einfach ihre Seelen baumeln zu lassen. Bei einem ihrer Streifzüge begeneten sie mir. Es war ein heisser Sommertag, damals. Die beiden Freundinnen waren schon eine ganze Weile unterwegs und die Sonne hatte bereits ihre ersten Spuren auf ihren Körpern hinterlassen. Mein Blattgrün und mein breiter Stamm boten den Beiden einen guten Schutz vor der Sonne, ohne ihnen die Wärme zu nehmen. Seit diesem Tage kamen die Mädchen fast täglich zu mir.

Für sie wurde ich soetwas wie ihr stilles Tagebuch. Es verging kein Tag, an dem die Beiden mir nicht von ihren Sorgen, Ängsten und Nöten berichteten. Immer wieder legten sie ihre Arme um meinen Stamm, lehnten ihren Kopf an mich und lauschten meinem Rat, den ich ihnen immer wieder gab. Oft auch nur Trost, ein stilles Verstehen. Ich liebte diese Mädchen und sie liebten mich. Es war wunderschön zu erleben, daß wir miteinander reden konnten, uns verstehen. Etwas, das die meisten Erwachsenen verlernt haben. Die Seele dieser Kinder war so frei und rein, daß es nichts gab, was unsere Verständigung hätte stören können. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag.

Ich erfuhr natürlich so auch im Laufe der Zeit, das Maria sehr krank war. Unheilbar krank um genau zu sein. Welche Erkrankung sie quälte, hat sie nie ausgesprochen. Nur, daß es so ist und sie es wußte. Erstaunlich, wie tapfer die beiden Mädchen damit umzugehen wußten. Pele war ständig besorgt um Maria, behütete sie so weit es ihr selber möglich war. Diese tiefe Verbundenheit rührte mich sehr.

Eines Tages nun kam Pele alleine zu mir. Lange stand sie vor mir, stumm und erstarrt. Ihr Blick glitt ins Leere. Ich fühlte eine unendliche Trauer zu mir emporsteigen. In ihrem Schweigen lag ein Flehen, ich möge doch verstehen, helfen, heilen! Lange stand sie so wortlos vor mir. Dann kam sie näher, legte ihre kleinen Arme um mich und weinte bitterlich. Ihre Seele schrie so laut, daß ich unweigerlich meine Zweige zu ihr hinab senkte, meine Blätter sinken ließ um sie so sanft und vorsicht zu wiegen, wie eine Mutter ihr Kind im Arm wiegen würde. Nach einer Ewigkeit des Schweigens sah sie mich an und sprach:

Du, mein lieber, treuer Freund, ich muss dir etwas erzählen. Maria, sie ist zu den Engeln heim gegangen. Sie hat mich einfach so alleine hier zurück gelassen. Was soll ich denn nun ohne sie machen? Ich brauche sie doch so sehr! Sag, mein Freund: Hat sie mir ihre Seele hier gelassen? Wird sie weiterhin mit mir hier bei dir sein können? Ich kann nicht ohne sie leben, mein Freund! Habe doch sonst niemanden auf der Welt! Heftige Weinkrämpfe schüttelten diesen kleinen Körper.

Während ich sie so sanft mit meinen Blättern hielt sprach ich leise und beruhigend auf sie ein. Doch was war das? Zum allerersten Mal, seit ich sie kannte, konnte Pele mich nicht mehr verstehen. Daraufhin wurde ich so traurig, daß selbst mein Blattgrün all seine Farbenpracht verlor. Die Blätter wurden braun, und ich merkte wie ich an Kraft verlor. Ich, der große, alte Baum, wurde zum ersten Mal in meinem Dasein schwach. So sehr dauerte mich das Schicksal und das Leid meiner kleinen Freundin Pele. Ich spürte wie wichtig auch sie für mich war. Pele konnte ich nicht mehr erreichen, hatte diese kleine Seele verloren. So blieb mir nur, mit ihr gemeinsam um verlorene Seelen zu weinen und zu trauern. Später, als meine kleine Frendin längst heim gegangen war, musste ich nachdenken was geschehen war. Warum nur konnte sie mich nicht mehr hören, nicht mehr verstehen? Es dauerte sehr lange bis ich Pele wieder sah. So groß meine Freude darüber auch war sie zu sehen, so tief traf mich der Schmerz, erkennen zu müssen, daß seit jenem Tag alles anders war.

Wenn Pele nun zu mir kam, was inzwischen eher selten war, dann saß sie stumm da, streichelte meinen Stamm oder meine Blätter. Doch gesprochen hat sie Jahrelang nicht mehr mit mir. Ich war immer derjenige, der sie ansprach, sie bei ihrem Namen rief, sie anflehte, wieder mit mir zu reden. Doch ich konnte sie nicht mehr erreichen. Kein einziges Wort von mir, drang jemals wieder in ihre Seele.

Eines Tages kam sie zu mir, streichelte mich wie immer und sagte: Mein lieber, treuer Freund, ich bin gekommen, um dir heute Lebewohl zu sagen und dir zu danken, für alles was du mir gegeben hast. Doch ich kann einfach nicht wieder her kommen. Die Erinnerungen und der Schmerz sind zu groß. Kann es nicht ertragen. Leb wohl, mein Freund. Ein letzter Blick, dann drehte sie sich um und ging wortlos von mir.

Seit diesem Tage habe ich Pele nicht wieder gesehen. Wie sie heute ausschaut, daß weiß ich nicht. Wo sie ist, oder was aus ihr geworden ist. Und nie wieder in meinem langen Leben, gab es eine Seele, die mit mir sprach, so wie sie. Seither suche ich die verlorene Seele. Bis Heute.

Nun sitzt DU da oben mit deinen Freundinnen in meiner Baumkrone. Du tollst herum, kannst dich freuen wie ein Kind. Du streichelst meine Blätter, flüsterst mir herrliche Dinge zu. Sag, DU, jaaaaaa, Du da oben, kannst du mich hören? Kannst du mich verstehen?

Ohne Mühe kletterte ich am Baum hinunter. Es war, als würde er seine Zweige und Äste so stellen, daß sie mir eine Leiter seien. Auf dem Boden angelangt, sah ich ihn lange an. Dann legte ich meine Arme um ihn.

Mein lieber Freund, ich habe dich wieder gefunden. Deine verlorene Seele ist heim gekehrt.

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