Silvia Pree

Geborgtes glück

Der Sarg wurde langsam ins Grab gelassen.
Tina starrte ihm nach.
Ihre Augen schwammen in Tränen.
Sie hatte versucht stark zu sein.
In der Kirche hatte sie gezittert.
Und ihre Fingernägel in den Handballen gebohrt.
Um sich mit diesem Schmerz abzulenken.
Um nicht laut los zu schreien.
Es war ihr gelungen.
Aber nun, wo sie es fast geschafft hatte.
Konnte sie doch die Tränen nicht unterdrücken.
Es war egal.
Sie hatte Carsten verloren.
Warum sollte sie nicht ihren Gefühlen freien Lauf lassen?
War es nicht ihr Recht?
Sie war seine Witwe.
Und immerhin waren sie fast drei Jahre zusammen gewesen.
In guten wie in schlechten Tagen…
Es waren wenige gute Tage gewesen.
Viel zu wenige.
Aber wenn...
Dann war sie glücklich gewesen wie ein Schmetterling im Sommer.
Im prallen Sonnenschein.
Und das war an ihm gelegen.
An Carsten.
Er war ihr Glück gewesen…

Tina starrte ins Grab.
Sie warf eine weiße Callas ins Grab.
Keine Rosen, keine Nelken.
Eine weiße Callas.
Damals hatte er sie bei ihr gekauft.
Einen ganzen Strauß davon.
Für eine Freundin zum Geburtstag…
Nachdenklich ging Tina vom Grab weg.
Hörte die monotonen Beileidsbekundungen.
Und doch nicht.
Sie sah ihn wieder in dem Geschäft.
Sie hatte dort gearbeitet.
Carsten hatte sie gemustert…
Und plötzlich hatte Tina sein Gesicht wieder ganz deutlich vor sich.
Wie damals.
Mit den dunkelblonden Haaren.
Und den blauen Augen.
Sie hatte seinen Blick erwidert.
Und ihr war aufgefallen.
Er wirkte so melancholisch.
Carsten war damals schon krank gewesen.
Er hatte es kurz zuvor erfahren.
Lymphdrüsenkrebs im Anfangsstadium.
Aber erzählte ihr nichts davon.
Kein Wort.
Nicht bei den ersten Treffen.
Den gemeinsamen Essen.
Ihr war aufgefallen, dass er immer nur wenig aß.
Und sie oft nur anstarrte.
Ohne ein Wort.
Sie hatte das Gefühl gehabt, dass etwas nicht mit ihm stimmte.
Bewusst wurde es ihr aber erst bei der ersten gemeinsamen Nacht.
Als er die Perücke ablegte.
Durch die Chemotherapie hatte er alle Haare verloren.
Er sah so verletzbar aus.
Und er nahm sie ganz fest in den Arm.
Als wolle er sie nicht mehr loslassen…

Tina schnäuzte sich.
Er hatte sie auch nicht mehr losgelassen.
Carsten war todkrank.
Er wusste es.
Sie wusste es.
Carsten hatte kein Geheimnis daraus gehabt.
Der Krebs konnte zurückkommen.
Jederzeit.
Tina hatte die Angst um ihn die Kehle zugeschnürt.
Carsten hatte sie im Sturm erobert.
Ohne große Worte.
Über Gefühle hatte er nie gesprochen.
Niemals.
Kein „Ich liebe dich.“
Aber wenn er im Spital lag, weinte er bisweilen.
Wenn sie ging.
Nach der Besuchszeit.
Seine blauen Augen sagten ihr alles, was sie hören wollte.
Manchmal weinte auch Tina.
Aber so, dass er es nicht merkte.
Ihr letzter Freund hatte sie oft geschlagen.
Carsten hingegen behandelte sie wie eine Prinzessin.
Mit jeder Geste.
Mit jeder Berührung.
Aber seine Krankheit begrenzte ihr gemeinsames Glück.
Von Anfang an.
War das fair?
Carsten würde sterben.
Der erste Mann, der je gut zu ihr war…

Willst du mich heiraten?
Carstens Frage stand mit einem Mal im Raum.
Sie hatte ihn angesehen.
Und hatte den Kopf geschüttelt.
Wozu?
Wozu?
Erst später hatte sie begriffen.
Carsten war ein paar Tage zuvor beim Arzt gewesen.
Der hatte ihm nur noch ein paar Monate gegeben.
Und die wollte er nicht nur mit ihr verbringen.
Fast exzessiv.
Er wollte sie auch abgesichert wissen.
Tina hatte ihre Arbeit aufgegeben.
Seinetwegen.
Um bei ihm zu sein.
Wenn er nachts Schmerzen hatte.
Um seine Hand zu halten.
Um ihm die Tränen abzuwischen.
Oder ihn einfach zu halten.
Wenn er sterben wollte.
Weil er die Schmerzen nicht mehr ertrug.
Und sein elendes Dasein.
Aber auch um zu lachen mit ihm.
An den guten Tagen.
Wenn Carsten sich stark fühlte.
Stark genug, um den Krebs in Schach zu halten…

Der Friedhof war leer.
Die Leute waren längst weg.
Tina stand wieder am Grab.
Mit den vielen Kränzen.
Der Wind ließ sie frösteln.
Tina blickte um sich.
Heute war ein schöner Herbsttag gewesen.
Vielleicht hätte sie mit Carsten einen Ausflug gemacht.
Oder sie wären am Balkon gesessen.
Und hätten die warme Oktobersonne genossen.
Aber Carsten war vor fast einer Woche gestorben.
Nach zwei schlimmen Tagen.
Der Arzt kam.
Carsten war halb wahnsinnig vor Schmerzen gewesen.
Bis er in der Nacht friedlich eingeschlafen war.
Tina wischte sich die Tränen weg.
Kramte nach einem Taschentuch.
Carsten war bei der Trauung schon im Rollstuhl gesessen.
Er hatte nicht mehr gehen können.
Metastasen in der Wirbelsäule.
Sie hatten es gewusst.
Beide.
Viel Zeit würde ihnen nicht bleiben.
Das gemeinsame Glück war nur geborgt.
Aber sie hätte um keinen Preis darauf verzichtet…

Vivienne

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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