Silvia Pree

Ich denke oft an dich

Ich hasse Neujahr.
Ich hasse es jedes Jahr wieder.
Mir ist schlecht.
Mein Bauch schmerzt.
Obwohl ich gesund bin.
Kerngesund.
Und ich bin übersensibel.
Ich habe gestern wieder geweint.
Heimlich.
Als ich am Nachmittag auf der Couch lag.
In ein paar Kissen gekuschelt.
Fünf Jahre.
Und es tut noch immer weh.
Und die Erinnerung ist manchmal übermächtig.
Reißt mich mit.
Dass ich mich oft frage:
Wie schaffe ich es Fassung zu bewahren?
Dass die anderen nichts merken?
Oder fast nichts?
Es war das einzig Richtige.
Ich hatte keine Wahl.
Oder nur zwischen unendlichem Leid.
Und einem momentanen Unglück.
Sagte ich damals.
Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher…

Ich denke oft an dich.
In diesen Tagen.
Wie von selbst.
Unter dem Jahr verdränge ich dich.
Ich blicke nur betreten zur Seite.
Wenn ich eine Schwangere sehe.
Oder kleine Kinder.
Und ich stelle mir dich vor.
Wie du aussehen würdest.
Fast viereinhalb Jahre alt.
Eine kleine Löwin wärst du geworden.
Ein Löwenmädchen.
Wärst du…
Aber ich habe dich nicht behalten.
Und das schlechte Gewissen zerfrisst mich.
Wenn ich dir das so sage.
In Gedanken.
Als gäbe es dich wirklich.
Als wärst du geboren worden.
Dein Vater war ein Gauner.
Es tut nicht mehr weh.
Dass er mich in so ein Schlamassel ritt.
Die Schulden sind abbezahlt.
Ich habe einen Job.
Eine Wohnung.
Und Gregor liebt mich.
Er wäre dir ein guter Vater geworden.
Ganz sicher.
Aber ich lernte ihn zu spät kennen.
Erst vor zwei Jahren…

Ich weiß es, als ob es gestern erst wäre…
Dritter Jänner.
Der Tag, als ich in die Klinik fuhr.
Ganz früh.
Um dich wegmachen zu lassen.
Ich war wie betäubt.
Und am Abend brachten sie mich wieder heim.
Ich habe Tage nur geweint.
Geschrieen nach dir.
Ich dachte, ich würde verrückt.
Aber irgendwann versiegten die Tränen.
Was blieb, war die Traurigkeit.
Sie wurde mein Gefährte.
Saß auf meiner Schulter.
Und verzog den Mund.
Wenn ich einmal leise lächelte.
Sie hat mich nie mehr ganz verlassen.
Auch nicht, als Gregor kam.
Aber ich wagte es wieder zu lächeln.
Immer wieder.
Immer öfter.
Manchmal träume ich von dir.
Ich erkenne dich sofort.
Obwohl ich gar nicht beschreiben könnte, wie du aussiehst.
Ich weiß es einfach.
Und du bist mein Kind.
Noch immer.
Auch wenn ich dich weggeschickt habe…

Dritter Jänner.
Ich musste zum Arzt.
Eine Verkühlung.
Ich fühlte mich nicht gut.
Schlapp.
Und kraftlos.
Sie sind schwanger!
Der Arzt grinste mich freundlich an.
Ein Bild tauchte vor mir auf.
Verwischt und unklar.
Auch damals hatte ein Arzt zu mir dasselbe gesagt.
Und mir fehlten die Worte…
Damals begann ich zu weinen…
Der Arzt heute war fürsorglich.
Jetzt sind Sie aber überrascht.
Ganz blass sind Sie geworden.
Bleiben Sie liegen.
Sollen wir Ihren Freund anrufen.
Dass er Sie holt?
Ich bin schwanger.
Wie vor fünf Jahren.
Fast ein Zeichen…
Oder seltsamer Zufall?
Bist du in mein Leben zurückgekehrt?
Kleine Löwin.
Ja.
Ich glaube es fast.
Auch diesmal wirst du ein Löwenkind sein.
Diesmal wirst du wirklich.
Diesmal schicke ich dich nicht wieder weg.
Mein Löwenbaby.
Diesmal bleibst du bei mir.
Und bei Gregor.
Du hast mir verziehen, ja?
Nach so vielen Jahren…
Ich verspreche dir:
Du wirst es gut bei mir haben.
Ich werde es besser machen.
Ganz sicher.
Was ich dir damals nicht geben konnte.
Jetzt wirst du es bekommen.
Doppelt und dreifach.
Und alle Liebe und Fürsorge von mir…
Kein Platz mehr für Traurigkeit.

Vivienne

PS: Dieser Geschichte liegen keine realen Erfahrungen der Autorin zugrunde.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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