Hans-Peter Zürcher

Eisprinzessin

 
23. Januar 2006
                
Bitterkalt aber sehr trocken war dieser Januartag gewesen und die Nacht versprach noch kälter zu werden. Keine Wolke zierte den dunkelblauen Himmel. Der Abendstern funkelte wie ein Diamant. Der Horizont im Westen leuchtete in einem tief orange - roten Ton, als würde die westliche Erdhälfte in Vollbrand stehen. Die kahlen, laublosen Bäume am Horizont streckten gespenstisch ihre Äste aus und boten so einen schwarzen Kontrast zum leuchtenden Firmament. In den warmen Stuben wurden die ersten Lichter angezündet. Dunkelheit überzog nun schnell die Landschaft, nur der Vollmond verbreitete sein kühles, fahles Licht. Das Orange - Rot am westlichen Horizont wich einem tiefen Schwarz. Immer mehr Sterne begannen zu glitzern und zu Funkeln. Aus Osten trieb der Biswind sein schauerliches Spiel. Die munteren Räuchlein, die da und dort aus Kaminen aufsteigen glichen einer wehenden Fahne, alle horizontal gegen Westen weisend, um sich dann nach wenigen Metern aufzulösen. Die Luft roch nach Kälte und verbranntem Holz. Seit Wochen hielt diese Wettersituation nun schon an, Weiher, Tümpel und träg fließende Bäche haben sich eine eisige Decke zugelegt. So war auch der eigens angelegte Eisweiher am unteren Ende des Dorfes mit einer schönen Eisschicht belegt, die so manchen zum Eislaufen einlud.
 
In solch kalten Nächten blieb, wer nicht zwingend raus musste, in seiner warmen Stube. Da und dort sah man einen Hund oder eine Katze umherstreunen. Die Vögel hatten sich längst ihre Schlafplätze aufgesucht, sich aufgebläht und so ihr Federkleid über ihre Zehen gezogen. Selbst die Käuzchen sind in letzter Zeit stumm geblieben. Nur der Wind und die Schläge der Kirchenlocken, die alle halbe Stunde die Zeit ansagen, liessen ihre Melodie durch die Nacht tragen. Noch etwas begleitete diese Melodie, hell klingende Schleifgeräusche und leises Kacken auf dem Eis des Eisweihers. Ein Mädchen zog unermüdlich ihre Runden über die Eisfläche. Pirouetten, Sprünge und Wirbel, jeder der dies hätte erleben können, hätte sich über dieses Mädchen seine hellste Freude gehabt. Wie im Traum schwebte sie über das Eis, selbstsicher, wie wenn sie diese Übungen schon von klein auf erlernt hätte. Ihr Atem dampfte in die Kälte der Nacht, das fahle Mondlicht, die Bäume um den Weiher herum und die alte Hütte verzauberten das Ganze in einen Märchentraum.
 
... Eine wunderschöne Musik spielte auf und auf dem Eis drehte ein ebenso wunderschönes Paar ihre Runden. Das Mädchen schien etwas grösser als der Bursche zu ein, beide in schöne warme Kleider gehüllt vollführten sie tänzerisch zur Melodie der Musik ihre Pirouetten, Sprünge und Wirbel. Grosse, brennende Holzspäne rund um den Weiher beleuchteten die Eisfläche und zusammen mit dem fahlen Vollmondlicht glitzerte und funkelte es, als währe das Eis mit tausenden von Diamanten übersäht. Die alte Hütte war beleuchtet und aus dem schiefen Kaminrohr stieg Rauch auf. Schnur gerade stieg er hoch und entwickelte sich, je höher er stieg, zu einer imposanten Rauchsäule, die im Licht der Fackeln einen rötlichen Schimmer erhielt und mit zunehmender Höhe durch das Mondlicht sich langsam weißlich verfärbte. Keine Menschenseele war zu erblicken außer den beiden innig miteinander tanzenden Kindern. Ein einzigartiger Zauber lag über dem Eisweiher, von Kälte keine spur und trotzdem stiegen aus den überhitzen Kinder je eine grosse Atemdampffahne, die sich zu einem fast mystischen Nebel über die ganze Eisfläche legte.    
 
Auf der kleinen Bank, die dicht am Eis, direkt neben dem Eingang zur Hütte stand, hatten sie ihre Mäntel deponiert. Die wären ihnen bei all den Figuren, die sie tanzten doch nur im Wege gewesen. Drinnen in der Hütte sah man, durch die teils angelaufenen oder mit Eisblumen überzogenen Fenster, einen reich gedeckten Tisch, in dessen Mitte ein schöner Kristallleuchter mit sechs brennenden Kerzen stand. Auf dem Gusseisernen Ofen stand ein dampfender Teekessel.
 
Die beiden schwebten wie im Traum übers Eis. Die nahe Turmuhr hörten sie wohl schlagen, zählten aber deren Stundenschläge nicht. Zu sehr waren sie mit sich beschäftigt. Ab und zu küssten sie sich innig, zogen unermüdlich ihre Runden und schienen ihr Glück gepachtet zu haben. Weder Hunger, Durst noch Müdigkeit lockten sie in die warme Hütte, nein, unermüdlich vollführen sie ihren Eistanz...
 
Am anderen Morgen in der Morgendämmerung war bereits ein Gemeindearbeiter aus dem Dorfe auf seinem Arbeitsweg zum Wäldchen nahe dem Eisweiher unterwegs. Die eisige Kälte liess ihn, wacker in dicke Kleider eingepackt und den Kopf leicht eingezogen, strammen Schrittes seiner Arbeit entgegen schreiten. Auf dem großen Leiterwagen, den er ratternd hinter sich her zog, lagen sein Werkzeug samt seinem Rucksack, gefüllt mit einer Wärmeflasche heisser Tee und zwei Butterroten samt einem großen Stück Käse. Diese Kälte forderte weiteren Brennstoff. Erstaunt über die frischen Spuren im Eis blieb er kurz stehen, schüttelte seinen Kopf und lief etwas in sich brummend weiter.
 
Dieser Mann war ein einfacher fleißiger Wittwer, verlor vor zwei Jahren seine über alles geliebte Frau. Seit dem lebten er mit seiner einzigen Tochter und dessen kleiner Bruder in einem armseligen Haus mitten im Dorf. Er verdiente den Lebensunterhalt der für ihn großen Familie mit allerlei Arbeiten. Die Tochter besorgte den Haushalt, hütete nebst der Schule noch ihren kleinen Bruder und war so den ganzen Tag von früh morgens bis spät abends mit Arbeiten beschäftigt. Gerne wäre sie einmal mit den anderen Kindern zum Eislauf gegangen, oder auf eine Wanderung, aber die Situation bei ihr zu Hause liess dies nicht zu. Die wenig Freizeit die ihnen blieb, verbrachten sie gerne zusammen. So führten sie ein karges aber glückliches Leben. Sie hegte einen großen Traum, wollte einmal eine schöne Eisprinzessin werden, von einem Prinzen geführt übers Eis gleiten. Ja, das wäre schön. Von einem solchen Prinzen geheiratet zu werden, so dass sie alle Sorgen, die auf ihr und der kleine Familie lastet, ein Ende nehmen würden.
 
Von weitem hörte man die Holzschläge im Wäldchen. Die Sonne schien den immer noch sichtbaren Vollmond verjagen zu wollen, doch der Kampf war eben so aussichtslos, als wolle man mit Mondlicht Eis zum schmelzen bringen. Fischreiher, Krähen und andere Vögel versuchten im Gefrorenen der nahen Sumpflandschaft ihre Nahrung zu finden. Die Holzschläge wechselten ab mit dem dumpfen Gesang einer Handsäge. Ständig in Bewegung kamen keine Kältegefühle auf. Er freute sich auf die baldige Pause. Sein Frühstück wollt er bei der Hütte am Eisweiher einnehmen. Das machte er immer so. Besonders bei solch schönem Wetter war es eine Freude, dieses im Freien einzunehmen. Die kleine Bank zügelte er jeweils auf die Sonnenseite, so war es ihm möglich, geschützt und in der von der Sonne doch schon angenehmen Strahlungswärme etwas auszuruhen.
 
Auf dem Rückweg aus dem Wäldchen war er noch einige dutzend Meter von der Hütte am Eisweiher entfernt. Im Hintergrund zeichnet sich das Dorf im Gegenlicht mit ihrem markanten Kirchturm ab. Da der Biswind mit dem ersten Tageslicht etwas zurückgegangen war, stiegen die Räuchlein aus den vielen Kaminen senkrecht gegen den Himmel. Wie Dunst oder lichter Nebel lasten diese in der kalten Luft über dem Dorf. Auf der kleinen Bank neben der  Türe von der Hütte sah er ein Bündel liegen, das aussah wie ein Mantel. Dicht daneben ein solches, das aussah wie ein Mensch. Erschrocken liess er seinen mit Brennholz beladener Leiterwagen stehen, rannte zur Hütte und sah da ein Mädchen auf der Bank liegen. Seine geliebte Tochter, erfroren, mit einem Zettel in ihrer linken Hand. < Danke für den Tanz mein liebster Prinz... > stand auf diesem Zettel. Das Bleistift lag auf dem Eis, dort auf dem Eis wo der letzte Kreisel von ihren Schlittschuhen ins Eis geritzt war.
 
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