Er liegt neben mir im Gras. Ich kenne ihn schon lange. Gedankenverloren zieht er an seiner Zigarette und bläst den Rauch genüsslich in die dunkle Nacht hinein.
"Siehst du die Sterne?" fragt er und deutet mit dem Finger nach oben in den Himmel.
"Ja." sage ich.
"Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, stehe ich auf und setze mich ans Fenster." sagt er, "Dann sitze ich einfach nur da, lehne den Kopf gegen den Rahmen und schaue hinauf."
Ich drehe meine Gesicht ein wenig und betrachte ihn. Leichte Bartstoppeln zieren sein Kinn.
"Kannst du oft nicht einschlafen?" frage ich.
"Ja." sagt er.
"Ich schlafe auch ziemlich selten." sage ich.
"Warum?"
"Meine Eltern streiten immer so viel."
"Meine auch."
"Am meisten nachts." sage ich, "Weil sie sich nachts sehen müssen. Und immer wenn ich sie bitte leise zu sein, sagen sie ich solle mich verpissen. Das ginge mich nichts an."
"Mein Vater schläft mit anderen Frauen." sagt er.
"Mein Vater verprügelt meine Mutter, weil sie immer so viel säuft."
Ich greife nach der halbvollen Wodkaflasche, die zwischen uns im Gras steht und nehme einen kräftigen Schluck.
Er nimmt auch einen.
"Meine Mutter weint oft." sagt er und verzieht beim Trinken das Gesicht.
"Meine auch." sage ich, "Sie weint, wenn sie mich ansehen muss, weil ich so aussehe wie er."
"Meine Eltern sagen ich sei schuld an ihren Problemen. Einfach weil ich geboren wurde. Meine Mutter meint oft, wenn ich nicht da wäre, hätte sie Karriere gemacht."
"Meine Eltern sagen das auch." erwidere ich.
Er wendet seinen Blick wieder dem Himmel zu.
"Am liebsten wäre ich ganz weit weg." sagt er, "Bei den Sternen oder so. Ich glaube, da oben könnte es mir gefallen."
"Es wäre hell." entgegne ich.
Einen Moment schweigen wir.
Das Feuerzeug flammt.
Ich zünde mir 'ne Kippe an.
"Warum hauen wir nicht einfach ab?" frage ich irgendwann.
Er zuckt mit den Schultern.
"Wir sind zu jung." entgegenet er, "Sie würden uns suchen."
"Wenn wir alt genug sind, die Schuld an ihrem Elend zu tragen, sicnd wir auch alt genug um abzuhauen." widerspreche ich.
Er sieht mich an und streicht stumm über meine kalte Wange.
"Wir könnten ans Meer." sagt er.
"Irgendwo im Süden." sage ich.
"Wo die Sonne scheint."
"Wo es hell ist."
Mein Herz rast. Seine Augen glänzen.
Die Zeit vergeht. Wir liegen im Gras.
Rauchen,trinken Wodka.
Ich muss nach hause, meine Mutter verarzten, denke ich.
Ich muss nach hause, meine Mutter trösten, denkt er.
Wir trinken den Wodka leer und stehen auf.
Sehen uns nicht an.
Gehen nach hause.
Wie immer.
Auch wenn sie es uns nicht danken werden.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2002.
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