Marcela Langenbach

Ein Tag im Sommer


Es war eine warme Sommernacht. Das kleine Mädchen lag in seinem
Bettchen und bemühte sich einzuschlafen. Aber eine ungewöhnliche Unruhe
und Nervosität erfüllte diese Nacht.
Seit Tagen schon benahmen sich die Großen so merkwürdig. Ständig
redeten sie ganz aufgeregt über Dinge, die das kleine Mädchen nicht
verstehen konnte. Lediglich die Angst, die in allen Gesprächen
mitschwang, konnte es sehr deutlich spüren. In dieser Nacht wurde aus
der Angst Panik.
Das kleine Mädchen klammerte sich an seinen Stoffbären und versuchte
der unangenehmen Geräuschkulisse, die seine Mutter und seine Großmutter
verursachten, zu entfliehen. Ohne Erfolg. Mittlerweile klang selbst die
Stimme des Nachrichtensprechers ängstlich. Das Fernsehgerät lief in
diesen Tagen ununterbrochen, Tag und Nacht. Die Großen saßen davor,
lauschten ganz angestrengt, redeten plötzlich alle durcheinander, um
sich dann wieder völlig auf den Nachrichtensprecher zu konzentrieren.
Wenn auch das kleine Mädchen die Geschehnisse nicht verstehen konnte,
so drang aber ein Wort immer häufiger in sein Bewußtsein: Gefahr.

Im Morgengrauen - das erste Gezwitscher der Vögel erfüllte die Luft
und alles erschien so friedlich - weckte die Mutter das kleine Mädchen.
"Komm schnell, du mußt dich anziehen, wir fahren weg!" Die Mutter
zitterte, ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie packte hastig ein paar
Anziehsachen in eine kleine Tasche, nahm ihre Tochter auf den Arm und
lief mit ihr aus dem Haus.
Mit dem Fahrrad fuhren die Beiden durch die menschenleeren Straßen der
Stadt. Schon oft hatten Mutter und Tochter gemeinsam Ausflüge
unternommen. Waren gemächlich an blühenden Sommerwiesen vorbei geradelt
zum Badesee oder in den Wald. Immer ein fröhliches Lied auf den Lippen,
lachend und voller Freude.
Dieses Mal war der Ausflug aber vollkommen anders. Niemand lachte,
niemand sang. Die Mutter hetzte schweigend durch die Straßen. Trotz des
strahlend blauen Himmels schien alles irgendwie düster, und in der
Ferne war Donner zu hören. Das kleine Mädchen saß verschreckt in seinem
Kindersitz, völlig übermüdet von der schlaflosen Nacht, und begriff
immer noch nicht, was eigentlich passierte.
Während die Sonne immer höher kletterte, verließen Mutter und Tochter
die Stadt. Eine unnatürliche Stille umgab die Beiden, nur unterbrochen
von einzelnen Schluchzern der Mutter und dem Geräusch des sich
nähernden Donners.

Die Sonne stand im Zenit, als das kleine Mädchen plötzlich
aufschreckte. Ein mörderisches Krachen und Grollen erschallte von
überall her. Schwarze Rauchwolken stiegen auf. Vor sich sah das Mädchen
ein gewaltiges, metallenes Ungetüm auf sich zurollen.
So etwas hat es noch nie gesehen. Das Ungeheuer deutete mit seinem gewaltigen Finger genau auf Mutter und Tochter.
Die Mutter schrie auf und riß das Fahrrad herum. Die Beiden stürzten
einen Hang hinab und blieben in den Büschen liegen. Die Mutter drückte
mit ihrem Körper das Kind auf den Boden. "Nicht bewegen!" hauchte sie
mit zitternder Stimme. Regungslos lauschte das kleine Mädchen dem
vorbei rollenden Ungeheuer, und immer wieder ertönte dieser
ohrenbetäubende Krach. Nein, das war kein Donnergrollen vom Gewitter
... das waren Schüsse. Dessen war sich das Kind nun absolut sicher.
Es hörte, wie das Ungetüm ganz nah an ihm vorbeirumpelte. Es spürte die
Erde unter seinem kleinen Körper beben während das metallene Monster
sich schleppend weiter fortbewegte und immer wieder schoß.
Nach einer halben Ewigkeit - so schien es dem kleinen Mädchen - hatte
sich das Getöse so weit entfernt, dass es wieder Ähnlichkeit mit einem
Gewitter hatte.
Mutter und Tochter rappelten sich auf, schoben das leicht lädierte
Fahrrad wieder auf die Straße und setzten ihre unglücksselige Reise
fort. Nun wußte die Kleine, wovor die Großen so eine furchtbare Angst
hatten. Es waren diese lärmenden Monster, die schossen und Menschen
töten wollten. Eine beklemmende Angst machte sich in der Kleinen breit;
eine Art Angst, wie sie sie in ihrem kurzen Leben bisher noch nie
gefühlt hatte.

Am späten Nachmittag erreichten die Beiden einen Bauernhof. Das
kleine Mädchen war nicht oft hiergewesen, aber die Menschen waren ihm
auch nicht ganz fremd. Es wußte, die Frau war eine Art Tante, die zwei
Kinder hatte. Die beiden Jungs waren viel größer als das Mädchen.
"Du bleibst jetzt hier bei deiner Tante. Ich muß wieder zurück nach
Hause." erklärte die Mutter. Ein eisiger Schrecken überkam die Kleine.
Sie sollte hier bleiben, bei den Menschen, die sie kaum kannte? Ohne
ihre Mama? Weinend klammerte sie sich an ihre Mutter. Nein, nein, sie
wollte nicht hier bleiben!
"Es ist doch nur für ein paar Tage. Hier ist es sicherer." tröstete die Mutter, "Du bist doch ein großes, tapferes Mädchen."
Sie drückte ihre Tochter der Tante in die Arme und ging ohne noch ein Wort zu sagen, fort.
Nach einer Weile setzte die Tante die Kleine ab und schickte die Kinder nach draußen zum Spielen.


Es dämmerte bereits als die Kinder sich beim Spielen auf dem Feld so
weit vom Bauernhaus entfernt hatten, dass es wie ein Puppenhaus wirkte.
Das Feld war auf zwei Seiten begrenzt von dichten, dunklen Wäldern. Von
dort waren auch immer wieder Schüsse zu hören. Bei jedem Knall zuckte
das kleine Mädchen zusammen.
"Das sind die Russen!" sagte einer der Jungen.
Aha, so heißen die metallenen Ungeheuer also - Russen, dachte das Mädchen.
"Die fahren in die Stadt. Die kommen nicht hierhin. Du brauchst keine Angst zu haben!" behauptete der Junge voller Überzeugung.
Keine Angst haben?, wunderte sich die Kleine. "Hast du die Russen gesehen?" fragte sie.
Nein, der Junge hatte die Russen noch nicht gesehen.
Deshalb hat er auch keine Angst, dachte sie, ich habe aber schon einem
Russen gegenüber gestanden, und der wollte mich totschießen.
Während die Jungen, unbeeindruckt von den Geschehnissen, auf dem Feld
herumtobten, spielte das kleine Mädchen still vor sich hin. Verträumt
wie immer, unterhielt es sich mit Marienkäfern, pflückte Gänseblümchen
und versuchte die Erlebnisse des Tages aus dem Gedächtnis zu streichen.
Fast wäre es der Kleinen gelungen, an einen friedlichen Sommerabend zu
glauben wenn nicht mit einem Mal wieder das gewaltige Krachen und
Poltern so laut gewesen wäre. Die Russen mußten ganz nah sein. Die
Kleine riß den Kopf hoch und suchte voller Panik nach den metallenen
Monstern. Es war aber kein Russe zu sehen. Es war überhaupt niemand zu
sehen. Nicht einmal die beiden Jungs waren mehr in der Nähe. Eine
eisige Klaue schloß sich um das kleine Herzchen des Kindes. Es war ganz
allein auf dem Feld. Ganz allein, und die Russen kamen! Bis zum
sicheren Bauernhaus war es viel zu weit. Das Mädchen hätte über das
ganze Feld laufen müssen. Viel zu weit. Zu keinem klaren Gedanken mehr
fähig, suchte es Schutz hinter einem Felsbrocken in der Hoffnung, dort
würden die Russen es nicht finden. In Todesangst blieb die Kleine dort
zusammengekauert liegen, erfüllt von nur einem einzigen Gedanken: 'Die
schießen mich tot'!

Es war bereits dunkel als die Tante das kleine Mädchen endlich in
seinem Versteck fand. Niemand konnte sich erklären, warum das Kind auf
dem Feld geblieben war, anstatt ins Haus zu kommen. Das Kind konnte es
auch nicht erklären, es war nur zu einer einzigen Aussage fähig, immer
und immer wieder: "Die schießen mich tot ... die schießen mich tot ..."


Dieser Tag war das Ende des "Prager Frühlings".
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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