Jürgen Behr

SCHERBEN

Die grüne Vase stand auf dem Tisch - ohne Blumen und grün. Er saß vorgebeugt in seinem Sessel und schaute auf die Vase, die da auf dem Tisch stand und im Licht, dessen fahle Finger durch das kleine Fenster in den düsterdunklen Raum krochen, durch das auch der Windatem der frostigen Kälte hereindrang.
Er hatte sich einen Mantel übergeworfen und fror und wusste nicht, weshalb er nicht aufstand und das Fenster schloss; irgendwie schien ihm das der Mühe nicht wert.
Sein Blick wanderte durch das Zimmer, legte sich auf das ungemachte Bett und wurde unsagbar müde. "Vielleicht sollte ich einen Whisky nehmen", sagte er zu sich und zu der Flasche, die auf dem Nachttisch neben der Türe stand und darauf wartete, ausgetrunken zu werden, und zu einem Glas, das er nicht sah; doch wozu auch ein Glas? Was war schon an diesem Tag so besonderes, das ihn hindern sollte, aus der Flasche zu trinken?
Auch die Vase, die da grün auf dem Tisch stand, ekelte ihn an und er wischte sie mit einer Handbewegung vom Tisch, wie man sich den Schweiß aus dem Gesicht wischt, oder Tränen; mit trockenem Bersten ging sie in Scherben und er war traurig. Was war an diesem Tag, dass er Dinge zerstörte, die er liebte? Er hätte sagen können: "Ich will einen Strich unter alles machen", oder, "ich hasse die ganze Welt", aber beides wäre eine Lüge gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er ganz einfach wusste, dass er es heute tun würde, hier und heute. "Warum?", hätte jemand fragen können: was sollte er zur Antwort geben? "Ich habe es satt, fremde Wörter fremder Menschen zu hören, Glückwunschworte, Dankworte, Grussworte, Wetterworte, die irgendwo für einen abfallen, wie Asche von einer Zigarette.
"Ich bin müde der abgetragenen samtweichen Lächelgesichter, die wie Sonntagskleider aus dem Schrank geholt werden, und der feuchtwarmen Abschiedshände, wie für Hunderücken geschaffen, Pudelstreichelhände, Pinscherstreichelhände, oder aber zum Trinken und Rauchen, Gläserhände, Zigarrenhände".  Wie gut das klang, überzeugend und beeindruckend und vielleicht ein bisschen wahr.
Er betrachtete die Türe, die ihm gegenüber an der Wand hing, wie ein zu gross geratenes Bild. Alt sah sie aus - die Türe mit ihrem gelblichweissen Lack, der aussah wie ein feines Mosaik, weil ihn Millionen feinster Risse durchliefen, die sich mit anderen Sprüngen kreuzten und dann weiterrannen, bis sie irgendwo versiegten. "Du tust mir leid, Türe", wandte er sich an sie, die dort schweigend hing, "dein Leben lang von fremden Händen angefasst, aufgemacht und geschlossen, nie gelebt und nie gestorben".  Er sagte es und wusste nicht, ob seine Worte nicht Gedanken waren.
Sein Teppich, fiel ihm auf, hatte auch schon wieder ein paar neue Löcher; es war beruhigend, sich keine Sorgen um das Geld für einen neuen mehr machen zu müssen. "Ein Loch, das ist ein Nichts mit Rand". - Vielleicht hätte er über diesen Ausdruck lächeln sollen, aber er konnte es nicht; er wusste auch nicht, wer ihn wann und wo geäussert hatte; wozu auch?
Plötzlich entschloss er sich aufzustehen. Es war ein momentaner Gedanke und er wusste, dass er ihm folgen würde. Der Weg zu seinem Spiegel erschien ihm heute weiter als sonst und was er ihm zeigte, wirkte auf ihn noch ein wenig trostloser als gewöhnlich; wenn das überhaupt möglich war.  Was er sich da gegenüberstehen sah, war ein alter, schon gekrümmter Kleiderständer, über den man einen schäbigen Mantel gelegt hatte, vielleicht nur, damit er nicht zu sehr verstaubte. Und wenn man genau hinsah, aber es musste schon ganz genau sein, dann bemerkte man, dass da auch ein Mensch war, dort in dem grauen Mantel, der hatte leere Augen, als seien sie ausgelaufen und hohle Wangen, ausgezehrt und so, wie sie die Toten haben. Und als der Mantel ihm von den Schultern glitt, hielt er ihn nicht, er schaute wieder in den Spiegel und da war nichts mehr, nur die hohlen Wangen, die sich zusammen mit den Augen langsam, wie im Schmerz, zu einer garstigen Fratze verzogen, und dann brach das Lachen aus dem heraus, was von dem Gesicht noch übrig war und frass das Gesicht auf, und die Fratze, bis nichts mehr war, dann starb es leise. Was blieb war eine zusammengesunkene Hülle, ein Mantel, und daneben ein paar Scherben, die waren ganz grün.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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