Jürgen Behr
FRIEDHOF
Birken im Wind. Die unteren Blätter sind schon gelb.
Septemberwind. Körperwarm.
Wind – wie das leise Lachen
S o p h i e s .
S o p h i e trägt
ein strohgelbes Sommerkleid; es macht sie noch blasser. Darüber eine schwarze
Stola, deren Franzen im Wind flattern.
Schwarz lässt S o p
h i e noch zerbrechlicher erscheinen.
M a g d a l e n a
giesst die Blumen auf dem Grab ihres Grossvaters.
-
Vergiss das Grab nicht, Kind. Bei dem Wetter musst du
mindestens zweimal die Woche
giessen.
Sie bewegt sich über die Randsteinfassung und liest ein paar
Blätter von der schwarzen Erde auf das nächste Grab. Dann ordnet sie die Nelken
in der Vase, die in der Erde steckt, plastic-grün und genormt. Ein Rest Wasser in der Giesskanne. Die Vase ist
gefüllt.
M a g d a l e n a
klappt den Deckel des Wassergefässes hoch – leer, vertrocknet.
Schwungvoll und schnell gefüllt.
Sie stellt die Kanne beiseite und betrachtet ihr Werk.
Absurd, absurder noch als ein Schrebergarten, solch ein Grab. Sie hat die
Arbeit getan wie ihre Grossmutter, überzeugt von ihrer Wichtigkeit, aber im
Auftrag ihrer Grossmutter. Die betet dann immer noch – oder schlägt zumindest
das Kreuz. Was weiss M a g d a l e n
a von ihren Gedanken?
Gedankenverloren zieht
M a d a l e n a ein Zigarillo
aus der Brusttasche ihres Overalls und zündet es an, zieht lange, öffnet den
Mund, hüllt sich und S o p h i e , die
nun hierhergetreten ist, in eine Wolke von Rauch. Feinster Brasil-Tabac.
Brasilien. Lianen dicht an dicht wie der Efeu an der Friedhofsmauer. Schöne,
blasse, vornehme Frauen.
S o p h i e!
Eine Hängematte aus weissem Segeltuch, aufgespannt zwischen
den Birken. Dort sich wiegen im Septemberwind.
S o p h i e!
Ein Wärter kommt vorbei.
M a g d a l e n a erschrickt
ein wenig, kommt wieder zu sich.
Ist es schicklich, auf dem Friedhof zu rauchen?
Bei den Indianern vielleicht, aber keinesfalls in
Mitteleuropa.
M a g d a l e n a
raucht trotzig weiter. Was kümmert es sie, was der Wärter denkt. Und
überhaupt, sie hat ihre Pflicht und Schuldigkeit getan.
Der Friedhof ist ein Platz der Ruhe.
Sie sieht sich nach
S o p h i e um, diese sitzt auf
einer Bank, plasic-grün und genormt, die Augen geschlossen und den rosenroten
Mund leicht geöffnet.
M a g d a l e n a
geht zu ihr.
Wer zu den Gräbern geht, geht zu sich selbst.
Sie schweigen.
Nicht, weil es nicht schicklich wäre zu reden, sie
schweigen.
Es ist so friedlich, so warm, so förderlich der Faulheit.
Einfach sitzen bleiben. Und vor allem keinen in den Friedhof reinlassen. Sitzen
bleiben und rauchen, in Ewigkeit. Amen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.02.2006.
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