Marion Knaus

Zu spät für mich... (ein Versuch zu Leben)

Die Sonne ist bereits untergegangen und die Straßen haben sich in ein tiefes Schwarz verwandelt. Ich habe es nicht bewusst wahrgenommen, zu sehr war ich in Gedanken versunken.
Die Laternen lassen lange Schatten der Häuser entstehen. Sehe mich um und fühle mich wohl. Fühle mich geborgen in den dunklen und kalten Straßen. Viele können es nicht verstehen, stempeln mich als pessimistisch, böse und traurig ab aber sie verstehen nicht. Sie sehen nicht, was dahinter steckt. Sie wollen es auch nicht verstehen, das ist ok, ich will auch nicht verstanden werden.
 
Höre jeden meiner Schritte auf dem kalten Boden. Gehe ohne Plan und Ziel weiter. Weiß nicht, wohin mich mein Weg führt aber eine gewisse Macht leitet mich, jemand versucht mich wohin zu führen. Bin zu schwach mich zu wehren, zu schwach um meinen Willen durchzusetzen, gebe der Kraft nach und folge ihr.
Es ist kalt geworden doch das macht mir nichts aus. Ich liebe das Gefühl von Kälte, sie gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit, fühle mich von ihr beschützt und verstanden. Plötzlich sind sie wieder da. Die Gedanken, die man nicht haben darf. Die Gedanken, denen man unter keinen Umständen nachgeben darf. Man muss stark sein und kämpfen. Man will doch nicht als Feigling abgestempelt werden, so viele schaffen es, warum also nicht auch ich? Vielleicht schaffen sie es, weil sie etwas haben, wofür es sich lohnt zu kämpfen. Wofür es sich lohnt zu leben. Doch was habe ich? Nichts, außer die Kälte und die Finsternis, denen ich in der Straße begegnet bin.
 
Ich gehe weiter, es hat sich schon eine dünne Schneeschicht auf dem Asphalt gebildet und der Schnee knirscht unter meinen Schuhen. Eigentlich ein schönes Geräusch. Ach was… ist doch lächerlich. Wie kann man das Knirschen des Schnees nur schön finden? Ist doch schwachsinnig. Kann jetzt schon eine Brücke vor mir erkennen, sie führt direkt über eine viel befahrene Straße. Ich greife nach dem Päckchen in meiner Jackentasche… ziehe es heraus…
 
Die Kraft führt mich immer noch, weiß nicht wohin aber jedenfalls in die Nähe der Brücke. Erkenne die Umrisse eines Menschen. Meine Beine werden schneller! Wieso bin ich plötzlich so unruhig? Die Umrisse stehen auf dem Geländer der Brücke, habe Angst, dass sie springen. Aber wieso? Wieso kann mir so etwas Angst machen? Das ist doch genau das, was ich auch will. Wieso sollte ich jemanden von dieser äußerst klugen Entscheidung abbringen wollen, wenn ich es doch absolut nachvollziehen kann? Was ist das, das da in mir zu sprechen beginnt!?
 
Ich laufe schneller, erkenne, dass es ein junges Mädchen ist, das da auf dem Geländer der Brücke steht. Ich stehe nun fünf Meter von ihr entfernt und sie sieht mich an. Ich kenne diesen Blick, die Augen starr auf ihr Ziel gerichtet, ohne Ausdruck, ohne Tränen, ohne Leben. Ich kenne diesen Blick nur zu gut, habe ihn schon viel zu oft im Spiegel gesehen.
 
„Tu es nicht“, schreie ich ihr entgegen. „Du weißt doch gar nicht wie das ist, du weißt nicht im Geringsten was ich fühle“, antwortete sie mir. Ich zog die Packung Schlaftabletten aus meiner Jackentasche und sie verstand. Sie wusste, dass ich sie doch verstehe, doch sie konnte nicht nachvollziehen, wieso ich sie dann davon abbringen wollte. Ich dachte nur, dass sie doch noch so verdammt jung ist, dass sie doch noch ihr ganzes Leben vor sich hat, dass sie doch sicher noch einen Sinn für sich finden wird. Das Mädchen war drei Jahre älter als ich…
 
Wieso kann man für jemand anders Hoffnung schöpfen, das Licht am Ende des Tunnels sehen und für sich selbst nicht?
Ich wusste nur, dass ich sie da runter bekommen muss, egal wie, sie durfte nicht springen, ich weiß nicht wieso, ich wusste nur sie darf nicht.
Ich versuchte mit ihr über den Sinn des Lebens zu reden, über die Liebe und über Gott. Sie sagte sie würde nicht an Gott glauben. Ach wie gut konnte ich sie verstehen… Sie war mir so ähnlich. Ich versuchte sie umzustimmen, in der Sache wegen Gott. Am Ende hatte ich sie soweit, dass sie drüber nachdenken wollte, ob es Gott nun wirklich gibt oder nicht.
 
Sie versprach mir von dieser Brücke zu steigen, wenn ich ihr versprach, die Tabletten von der Brücke zu werfen. Ich hatte Angst…
Konnte es dieses Mädchen tatsächlich schaffen mich umzustimmen?  Konnte sie es schaffen, mich am Leben zu halten? Sie war jedenfalls knapp davor. Ich warf die Tabletten von der Brücke…
 
Sie stieg herunter und wir gingen ein paar Schritte weg vom Geländer. Sie sagte, dass sie durch mich neue Kraft gewonnen habe, dass sie sich nicht mehr sich er sei, sterben zu wollen und dass sie einen Sinn für sich finden wird. Und dass sie mir dankbar sei…
 
Ich ging auf das Geländer zu, stieg hinauf und sprang…
Was war das, das mich hoffen ließ? „Es war dein Herz, die Liebe und ein Funke Hoffnung auf Leben“, antwortete Gott, als ich neben ihm stand und auf das Mädchen hinunter blickte, als sie traurig und geschockt von der Brücke sah…
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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