Der Hausbote sass am Tisch mit Wachstuchdecke seines spärlich möblierten Zimmers im ersten Stock. Die unangenehme Sache lag vor ihm auf dem Tisch.
In seinen Aufgaben war er immer sehr gewissenhaft. Es gab nichts Schlimmeres für ihn als Geld oder Sonstiges zu unterschlagen. Doch diesmal wurde er stutzig, als er gestern zufällig ein Gespräch zwischen Herrn Regierungsdirektor K. und einer ihm unbekannten Person mitbekam, da die Tür zum Arbeitszimmer einen Spalt weit offen stand. Das Gespräch wurde von der unbekannten Person mit den Worten: „Der Brief kommt am nächsten Tag“.
Pünktlich wie immer trat der Hausbote am nächsten Tag seinen Dienst an und sortierte zunächst die eingegangene Post. Auch der Brief an Herrn Regierungsdirektor K. war eingegangen. Immer wieder musste der Hausbote an das zufällig mitbekommene Gespräch von gestern denken. Dieser Brief liess ihm keine Ruh.
Mit zitternder Hand steckte er ihn rasch in seine rechte innere Jackentasche. Schweiss lief ihm über die Stirn.
Danach begann er die Post zu verteilen.
Auf dem langen Flur im zweiten Stock des Regierungsgebäudes lief ihm der kahlköpfige Herr Regierungsdirektor K. entgegen und sagte: „Bitte kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer“.
Innerlich erregt dachte der Hausbote: - Nun kommt es bestimmt zu einer Szene - und ging mit ins Arbeitszimmer hinein.
„Sie haben bestimmt Post für mich“.
„Aber nein, Herr Direktor, heute habe ich keine Post für Sie“.
Herr K. ging zum Schreibtisch, griff nach einem Dokument und übergab es dem Hausbote:
„Also Schön, liefern Sie mir bitte das Schreiben ab“.
„Jawohl, Herr Direktor“.
„Und übrigens, Herr Schön, können wir uns gratulieren, Sie zu haben“.
Bescheiden wehrte Herr Schön ab und verliess sichtlich erleichtert das Arbeitszimmer.
Nach Dienstschluss fuhr Herr Schön mit seinem Fahrrad direkt nach Hause.
In seinem Zimmer zog er gleich den Brief aus der rechten Innentasche seiner Jacke hervor und öffnete diesen mit aller Sorgfalt am Tisch mit Wachstuchdecke.
Der Inhalt des Briefes war eine Wahlrede für Adenauer, worin zwei SPD-Funktionäre beschuldigt wurden, Geld für den Wahlkampf zum zweiten Deutschen Bundestag aus dem kommunistischen Osten erhalten zu haben.
Adenauer sollte diese Wahlkampfrede erst kurz vor der Wahl halten, damit der CDU ein deutlicher Wahlsieg in die Hände fällt. Dass es sich hierbei um eine trügerische Falschinformation handelte, solle erst viele Wochen später mit Bedauern als üble Machenschaft eines Nachrichtenhändlers abgetan werden.
Sorgfältig schloss er den Brief, um am folgenden Tag diesen dem Herrn Regierungsdirektor K. zu übergeben.