Manfred Rebele

Castelsardo


Zeitreise

 
Immer dunkler wird der graue Naturstein der eng zusammengerückten Häuser, Nacht fällt  in die mittelalterlichen Gassen der Stadt auf dem Berge. Keine moderne Beleuchtung schreit aus den Fenstern -  mit den Glühbirnen und Neonröhren ist das ganze 20. Jahrhundert ausgeknipst; das dunkle Zeitalter springt aus den Mauern. Der schimmernde Nachthimmel ist eingerahmt von dem dicken, undurchdringlichen Schwarz der Hauswände.
Nun werden Fackeln an den Hauswänden angezündet. Straßenecken, golden erleuchtet, werden ausgeschnitten aus dem Labyrinth der Dunkelheit. Flackernde Schatten durchqueren diese Inseln des Lichts auf dem Weg zur Kirche, bevor sie wieder mit den Gassen verschmelzen.
Ketten klirren. Sie gehören zu einem Gespenst, das, sich dem Lichtkreis nähernd, immer heller wird:  eine weiß gekleidete Gestalt, mit einer spitzen Ku-Klux-Klan-Haube; die Schlitze in der Haube sind so dunkel, wie die Gasse, aus der die Gestalt kam. Am Gürtel hängen die Ketten, die bei jedem Schritt an die Beine schlagen und die Erscheinung aus der Dunkelheit ankündigen.
Das Gespenst tritt in den Lichtkreis und zeigt uns – die Hand, eine übergroße, lederne, auf einem Stock in die Höhe gehobene – stumm, bedeutungsschwer und unverständlich, bedrohliche Gegenwart der Gottheit, ein Symbol aus einer anderen Welt.
Den Schrecken begleitet liebliche Unschuld: Mädchen, auch sie in weißem Kleid, halten Kerzen in den Händen. Ein Windschutz bewahrt deren verletzliche Flamme vor den zugigen Gassen und reflektiert ihr Licht in die Gesichter, die sich mit Ernst dem Bewahren der Flamme widmen, mit zurückhaltender Neugier die Umstehenden mustern oder in sich gekehrt die Größe des Augenblicks und ihre Rolle darin empfinden.
Dann tauchen andere Gespenster auf – mit Marterwerkzeugen, andere mit christlichen Symbolen, wiederum eingerahmt von zwei Paaren dunkler, ernster Kinderaugen.
Kaum haben wir den Spuk als Karwochenprozession eingeordnet, tritt an der Station des Kreuzwegs ein Sängerquartett auf. Jeder von ihnen hält eine Kerze in der Hand, deren Licht das Gesicht des Sängers aus der Dunkelheit treten lässt wie auf einem Bild von Rembrandt. Schon nach drei Takten stößt uns der Gesang aus dem Mittelalter in noch viel tiefere Schichten der Geschichte. Der Bass intoniert einen Grundton, die anderen drei fallen ein – klagend, monoton, in noch nie gehörten Harmonien, archaisch wie das Konzert von Katzen, harmonischer natürlich und doch wieder so fremdartig, dass es wehtut in den Ohren. Ob so die antiken Hirtengesänge geklungen haben?

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