Manfred Rebele

Ende der Kindheit

 

 

 

Heute reitet er in Sonntagskleidung und mit Schuhen an den Füßen. Ganz vorne zwei Erwachsene, dann ein Packpferd, dann er auf seinem schwarz-weiß  gefleckten . Mit der einen Hand führt er sein Packpferd, das wie das Pferd vor ihm einen großen Quader getrockneten Tangs den Hohlweg hinaufschleppt. Tief haben sich die Tierhufe und die Sturzbäche von Generationen in das weiche Lockermaterial eingegraben, so tief, dass die Wände ihn überragen, obwohl er auf dem Rücken seines Pferdes doch größer als ein Erwachsener ist!

Farne streichen an ihm entlang, über ihnen schließen sich die Kronen der immergrünen Bäume zusammen.. Oben auf der Kuppe des Berges öffnet sich der Wald und er kann einen Blick die Klippen hinab werfen zu den weißen immerfort anrennenden Widdernacken, deren an- und abschwellendes Rauschen  ihn in den letzten Wochen in den Schlaf begleitet hat. Dann nehmen den Pfad wieder die begrünten Wände in die Mitte und das Halbdunkel des Blätterdachs schließt sich über ihnen.

Gestern noch ist er auf seinem  Manchado  ohne Schuhe, ohne Steigbügel, nur mit einem Schaffell als Unterlage über den morastigen Waldpfad zur Bucht geritten, wo die Erwachsenen den getrockneten Tang zu den Paketen verschnürten, die sie heute über die Berge nach Süden transportieren. Er hatte zugeschaut, sie hatten ihn weggeschickt, weil er ihnen nicht helfen konnte, war zum Saum des Meeres gegangen, wo neue große, braune Tangarme in der Brandung winkten. Er hatte die Möven beobachtet, um von ihnen zu lernen, denn sie waren klug, sie hatten die Menschen das Fischen gelehrt. Aber ihm zeigten sie nichts Neues; wo die Muscheln zu finden waren, wusste er schon und so machte er sich auf die Suche nach seinen Spielkameraden. Auf dem Weg zum Hof begegneten ihm ein Paar fremd aussehender Menschen, die von Balken zu Balken im morastigen Untergrund balancierten, bemüht, ihre Schuhe nicht allzu schmutzig zu machen. So neugierig, wie er sie anschaute, so musterten sie ihn., sein Pferd, sein geflochtenes Zaumzeug.

Die Spielkameraden sind nun zurückgeblieben. Sicher streifen sie auch heute wieder durch das grüne Dunkel, halten Ausschau nach dem Lachvogel, verstecken sich in ihrem Lianenzelt, suchen nach dem Ehrwürdigen unter den Bäumen – so, wie er es gestern noch getan hat. Nun trägt jeder Schritt seines Pferdes ihn davon weg. Leicht wie eine Flaumfeder streift ihn eine Ahnung: nie wieder wirst du eintauchen in dieses bergende Dunkel voller Geheimnisse, durchwirkt mit abenteuerlichen Pfaden.

Doch für diese Feder der Traurigkeit  ist nicht viel Zeit, denn mittlerweile haben sie den Wald verlassen, am großen Sandstrand warten schon seine Mitschüler auf den Jeep, der sie zum Schulinternat bringen soll. Die Eltern sind da, die jüngeren Geschwister, die ihre Pferde im Galopp durch die seichte Furt eines Baches jagen, dass das Wasser nur so hochspritzt. Auch die beiden Fremden aus dem Wald warten hier. Der Mann hat eine Kamera, er will sein Bild mitnehmen, aber Papa verbietet es ihm.

Aus dem Brandungsdunst schält sich der Jeep, dreht eine Schleife und nun können die Ballen von Cochayuyu vom Rücken der Pferde auf den Anhänger getragen werden. Die Kinder stürmen das Auto, nur er bekommt dort keinen Platz mehr und muss mit den beiden Fremden auf dem Tang Platz nehmen. Und schon geht es ab, die Erwachsenen verschwinden hinten im Dunst, zur Rechten ziehen sich bis in die Unendlichkeit die weißen Brandungsreihen, unter den Reifen knirschen die Muschelschalen.

Und mit dem Jeep stürmen seine Gedanken nach vorne. Er ist begierig zu lernen. Am Ende des vor ihm liegenden Jahres wird er den Namen seiner Heimat BUTA WAPI CHILWE schreiben können. Aber noch sehr viel mehr brennt er darauf, hinter das Geheimnis der Erwachsenen zu kommen. Wenn sie über Conaf redeten, die ihnen zuerst den Zugang zu Wäldern des Hinterlands genommen habe und jetzt den Zugang zur See, dass sie eingesperrt in ihrem eigenen Land seien, dann spürte er, dass es um etwas sehr Ernstes ging, aber er verstand es nicht.  Waren nicht der Wald und die See zwei Seiten von Nuque-Mapu, der Erdmutter, die für sie sorgte und immer um sie war – wie sollte es möglich sein, von ihr getrennt zu sein? Und was hatte es mit den fremden Ungeheuern zu tun, die bewirkten, dass dort, wo gestern noch ein Wald stand, am nächsten Tag schon ein ödes Feld sich ausdehnte, aus dem Nuque-Mapu vertrieben war ?  Der Ernst, der hinter diesen Fragen lag, war so ganz anders als der Ernst der ihn und die Bewohner des kleinen Weilers überkam, wenn sie beim abendlichen Feuer Zaumzeug für ihre Pferde flochten und sich dabei Geschichten und Mythen, die sie von ihren Vorfahren gehört hatten, weitererzählten. Er hat das sichere Gefühl, dass da eine Gefahr hinter den Bergen lauert und er will endlich wissen, was es mit ihr auf sich hat.

Der Fremde ist mittlerweile zurückgekehrt in seine Heimat. Er hat die Berge von Holzspänen gesehen, zu denen die Wälder Chiloes zermalmt werden, um für wenig Geld den japanischen Papierfabriken in den Rachen geworfen zu werden. Er hat mit seinem Computer Zugang zum „globalen Dorf“, doch die kleinen Weiler im Wald Chiloes kommen darin ebenso wenig vor wie hunderttausend andere, die vom nächsten Internetcafe vielleicht nur einige Kilometer entfernt sind und doch so unendlich fern, dass sie auf dem Mars liegen könnten. Und daher wird den Jungen mit den dunklen neugierigen Augen meine e-mail nie erreichen: „Wenn du schließlich weißt, was du so sehr zu wissen begehrst, wirst du nicht glücklicher sein. Du wirst erkennen, wie mächtig deine Gegner sind und ich wünsche dir, du kannst sie dir vom Leibe halten. Dein Leben wird ein Kampf sein. Und nie wieder werden dir die Dinge  von innen heraus leuchten.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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