Jenseits
des Spiegels
Ein
Wort, ein Buch, ein Autor sind nichts als einzelne
Wassertropfen.
Alle zusammen ergeben den Strom, der alles
hinwegreisst
und
den keine Kraft zurückfliessen lassen kann.
Adalbert
de Chamisso,
deutsch-französischer
Dichter und Naturforscher (1781 bis 1838)
Prolog
Die
Schreibblockade
Eine
lange Zeit, sie kam mir damals wie eine halbe Ewigkeit vor, war das
Schreiben mein Leben. Der einzigste Weg in eine andere Welt
einzutauchen und somit meine Probleme zu verarbeiten oder mich Ihnen
zu entziehen. Es war egal was für Probleme und Sorgen ich hatte.
Das Schreiben hatte mir immer geholfen. Sogar nach der plötzlichen
Trennung von meiner damaligen freundin.
Doch
jetzt saß Ich da, mit einem Bleistift bewaffnet und vor mir
liegend ein leeres Blatt Papier. Es war mehr als nur eine
Schreibblockade. Plötzlich hatte Ich das Gefühl nicht nur
das Blatt sei leer sondern auch mein Körper. Meine Gedanken,
meine Emotionen,... Ich fühlte mich wie ausgelaugt. Statt auch
nur einen Satz zu stande zu bringen blickte Ich ununterbrochen auf
die Uhr an meiner Wand. Tick... Tack... Tick... die Zeit
verflog. Dieser Augenblick der „Schreibblockade“ schien
länger anzudauern als die Zeit in der das Schreiben mein Leben
zu sein schien. Was mir damals noch wie eine Ewigkeit vorkam, kam mir
nun nur noch vor wie einige, wenige Sekunden. Vielleicht eine,...
oder zwei... Tick... Tack...
Das
Schreiben,
und
wenn man auch nicht ans Druckenlassen denkt,
ist
ein wahrhaft diätetisches Stärkungsmittel, dass in unserer
überbildeten Zeit
sich
ohnehin fast jeder bedienen kann. Man befreit sich von einem
quälenden Gedanken,
von
einer drückenden Empfindung am besten, indem man ihn klar
niederschreibt,
indem man sie rein darstellt. Der Krampf der Seele
löst sich,
und
der Wiederkehr ist vorgebaut.
Ernst
Freiherr von Feuchtersleben,
österreichischer
Popularphilosoph, Arzt, Lyriker und Essayist (1806 – 1849)
Ich
wachte auf. Ich war wohl am Schreibtisch eingeschlafen. Noch immer...
Tick... Tack... ein erster Blick auf die Uhr. Es war Nacht.
Vier Uhr. Tick... Tack... Sonst war alles Still. Die
typischen, tag täglichen Geräusche auf den Straßen,
sie schienen wie erloschen. Nichts als das Ticken meiner Uhr. Ich
wusste nicht ob ich diese Stille als unberuhigend oder doch als eher
befriedigend empfinden sollte.
Ein
merkwürdiges Gefühl überkam mich. Ich wusste ich würde
nicht wieder einschlafen können, daher entschied ich mich dafür
ins Badezimmer zu gehen und mir den Schlaf aus den Augen zu waschen.
Ich beugte mich über das Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf,
griff mit beiden Händen, zu einer Schale geformt, in den
herausfließenden Strom von Wasser und wusch mir das Gesicht.
Ich fragte mich was mit mir los war, oder ob überhaupt etwas
los war. War nicht alles wie immer? Das Wasser lief weiter. Endlich
wagte ich einen Blick auf den Spiegel. Bin das wirklich Ich? Ich
schaute mich um... und dachte an das leere Blatt Papier. Bin das
wirklich Ich? Und war das wirklich mein Leben? Erneut
befeuchtete ich mein Gesicht, mit einem großen Schwall von
Wasser und wagte anschließend einen weiteren Blick in den
Spiegel. Dieser Blick dauerte einige Zeit an, bis ich schließlich
zu einer Erkenntnis gelang, die den weiteren Verlauf meines Lebens
drastisch ändern würde... Das bin nicht Ich!
Wer
bin Ich?
Was war es was sich in letzter Zeit so
verändert hatte? Ich versuchte mich an die letzten Tage
zurückzuerinnern, wo noch alles in Ordnung zu sein schien. Was
tat ich dass ich nun an meinem Leben zweifelte? Wie auch jetzt in
diesem Augenblick, machte ich mich, fast täglich, auf dem Weg
zur Arbeit. Wie gewöhnlich tat ich das mit dem Bus... Alles
Rutine. Diese Zeit erschien mir plötzlich wie ein Film vor
Augen...
„Schönen guten Tag... Wie
kann Ich Ihnen helfen... Das macht dann... Darf Ich Ihnen eine Tasche
anbieten... Schönen Tag noch...“
Alles Rutine... Doch irgendwas war
anders.Ich schaute aus dem Fenster. Ich sah wie das ganze Leben an
mir vorbeizuziehen schien. Das ganze Leben was stets Rutine für
mich war zog just in diesem Moment schlagartig an mir vorbei. Doch es
kümmerte mich nicht. Warum noch aktiv am Leben teil haben wenn
man nicht weiß wo man im Leben seinen Platz hat?! Dieses ganze
Leben schien mir plötzich so fremd... Der Bus hielt an einer
Haltestelle. Genug Zeit um sich die Leute genauer anzusehen. Viele
Jugendliche kleideten- und benahmen sich wie Ihre Idole, die Sie aus
dem Fernsehen her kannten. Bauen sich Ihr Leben nach Ihnen auf, statt
auf Ihrer eigenen Identität. Sie versuchen das Leben eines
anderen zu leben. Wie erbärmlich... Der Bus fuhr weiter und
dieser Gedanke zog an mir vorbei, wie das Leben, außerhalb der
Febsterscheibe des Busses, wieder an mir vorbeizuziehen schien. Was
redete Ich da? Ich tat so als wäre Ich etwas Besseres als die
Anderen, nur weil sie keine eigene Identität hatten. Nur weil
sie nicht wussten wer sie wirklich waren. Wusste Ich denn wer Ich
war? Ich war keinen Dolch besser als die. Die Wahrheit war sogar,
dass ich viel ärmer dran war... Sie hatten die Leben Ihrer Idole
auf denen Sie Ihr eigenes aufbauen konnten. Ich hatte nichts... Ich
wusste nicht wo mein Platz im Leben war.
Beinahe versäumte Ich es ,an
meinem Ziel angekommen, aus dem Bus zu steigen. So vertieft war ich
in meine Gedanken.
„Schönen guten Tag... Wie
kann Ich Ihnen helfen... Das macht dann... Darf Ich Ihnen eine Tasche
anbieten... Schönen Tag noch...“
Alles Rutine... Ich fuhr nachhause.
Kaum hatte Ich meine Kleider abgelegt, fiel mein erster Blick wieder
auf den Spiegel. Der heutige Tag lief ab wie jeder Andere... doch
irgendwas war anders.
Wenn Ich so darüber nachdachte kam
es mir beinahe so vor als hätte Ich an diesem Tag den Tag eines
Anderen gelebt. Ich ließ diesen Tag noch einmal Revue
passieren.
Ich sah Ihn aus der Sicht einer dritten
Person. Ich sah das Leben dass Ich heute gelebt habe, doch wieder
diese Erkenntnis. Das war nicht mein Leben.
Ich brach zusammen... Fiel auf die
Knie. Nur meine Handflächen konnten den Sturz einigermaßen
dämpfen. Ich brach in Tränen aus... Ich hatte Angst. Angst
nicht zu wissen wer Ich bin und davor dies nie wieder zu erfahren.
Früher, in meiner Kindheit, hatte Ich Angst vor dem Tod... Sie
war damals vermutlich auf den Tod meines Großvaters
zurückzuführen.
Heute ist diese Angst wie verflogen.
Wahrscheinlich weil Ich zu dem Entschluss gekommen war das mir dies
nicht so schnell passieren könne, denn immerhin war mein
Großvater, durch den täglichen überreichlichen
Konsums hochprozentigen Alkohols, doch selber Schuld an seinem Tod.
Nicht
in der Erkenntnis liegt das Glück,
sondern im Erwerben der
Erkenntnis.
Edgar
Allan Poe,
amerikanischer
Schriftsteller (1809 – 1849)
Zwischen zwei Welten
Langsam kehrte Ich in die realität
zurück. Tick... Tack... Es war schon komisch an was man
sich aus seiner Kindheit noch erinnern konnte...
Ich lebte mit meinen Eltern in einer,
bescheidenen und recht rustikalen, Drei-Zimmer Wohnung in einem der
berüchtigsten Vierteln unserer Stadt. Vergilbte Tapeten, die
sich langsam von den Wänden lösten, waren nur eines der
wenigen Problemzonen dieser Wohnung. Etwas besseres konnten wir uns
damals nicht leisten. Und trotz Allerdem waren wir glücklich.
Heutzutage kann ich mir das schon gar nicht mehr vorstellen.
Vermutlich ist das dadurch zu erklären das unsere, oder
zumindest meine, Ansprüche damals noch nicht so hoch gestuft
waren wie heute.
Die Kacheln meines Badezimmerbodens
waren blutverschmiert und ich wachte mit leichten Kopfschmerzen auf.
Anscheind war Ich eingeschlafen und schlug mit dem Kopf auf dem Boden
auf. Ein Schmerz der noch einige Tage andauern sollte. Ich stand
mühseelig auf und bewegte mich in Richtung Wohnzimmer. Tick...
Tack... Die Uhr funktionierte noch. Es war Drei Uhr in der Früh.
War mir das Ticken der Uhr damals
eigentlich auch so intensiv vorgekommen? Eine völlig
überflüssige Frage, da ich mich sowieso nicht daran
erinnern konnte, doch irgendwie schien die Uhr auf irgendeine Art und
Weise eine größere Rolle in meinem “neuen“ Leben zu
spielen, das ich erst vor kurzem entdeckte. Eine lange Zeit starrte
Ich einfach nur auf die Uhr... Tick... Tack... Sie beunruhigte
mich. Ein kalter Schauher überrante mich nach jedem einzelnen
Sekundenschlag. TICK... TACK...
Ich griff nach der Uhr und schleuderte
sie mit einem weitausgeholten Wurf einmal quer durch das Zimmer.
Plötzlich schien alles ruhig.
Ich brauchte Ruhe das war es... Ich
musste mich irgendwie ablenken, daher beschloss Ich trotz der Uhrzeit
einen Spaziergang zu unternehmen. Egal wohin.Ich würde mich
einfach von einer höheren Macht leiten lassen, sofern es denn so
etwas wie eine höhere Macht gab. Was Ich jedoch bezweifelte. Ich
ging aus dem Haus und die Straße entlang. Immer geradeaus. Es
fiel mir schwer mich zu beruhigen, da Ich den Versuch nicht lassen
konnte eine Antwort auf all das Mir, in letzter Zeit, wiederfahrene
zu finden.
Doch Ich fand sie nicht. Ich schaute
mich um und merkte dass Ich schon ganzschön weit gegangen war
und überlegte ob es nicht ratsamer wäre wieder umzukehren,
da meine Gedanken sowieso zu aufgewühlt waren als dass Ich mich
ohne weiteres beruhigen könnte. Doch irgendwie war es als würde
mich tatsächliche eine übermenschliche Kraft immer weiter
an ein Mir noch unbekanntes Ziel führen. Ich überquerte die
Stadtgrenze und blieb plötzlich mitten auf der Autobahn stehen.
„Das Leben wäre soviel
einfacher wenn jetzt ein Auto angerast käme... Nur zwei
Möglichkeiten.
Es trifft-, oder verfehlt mich!
Nichts weiter.“
schoss es mir durch den Kopf, was mir
eine große Furcht einflößte. Doch Ich konnte mich
nicht von der Stelle rühren. Mein jetziger Standort war
gefährlich. Nicht nur weil er mitten auf einer Autobahn war,
sondern auch weil er zwei Welten voneinander trennte. Eine neue, mir
noch unbekannte und die alte, mir bekannte, welche sich jedoch als
immer fremder erwies. Wo war also mein Platz? Welcher Weg ist der
richtige? Ich schaute den Weg zurück den Ich gekommen war. Ich
wusste es war keine tolle Stadt. Wieso hatte Ich es aber dann so
lange dort ausgehalten? Warum habe Ich nicht schon viel früher
darüber nachgedacht ob es nicht vielleicht besser wäre die
Stadt zu verlassen? Ich versuchte mich zurück zu erinnern. Was
war es was mich in der Stadt gehalten hatte? War es wirklich eine
übermenschliche Macht welche meinen Weg bestimmte? Die Häuser
schienen mir alle ziemlich rustikal. In einem ebenso rustikalen Haus
wohnte Ich damals mit meinen Eltern. Kein einziger Gedanke von
Flucht. Weder von meinen Eltern noch von mir. Wir waren glücklich...
Es gab nur zwei Möglichkeiten und
dennoch viel es mir schwer mich überhaupt für eine zu
entscheiden. Ich versuchte mich auf eine Antwort zu konzentrieren,
doch dann kamen wieder Gedanken über meinen Standort hinzu.
„Würde ich mich nicht bald
entscheiden konnte wirklich ein Auto kommen...“
Ich presste die Augen zusammen, mein
Atem wurde schwer... Ich wollte nicht sterben... Panik stieg in mir
auf, durch meine Angst vor dem Tod. Plötzlich ein Bild von
meinem Großvater...
Blitzartig öffnete Ich die Augen.
Warum habe Ich das all die Jahre nicht gesehen? Mein Großvater
war selber Schuld an seinem Tod. Hätte er das richtige getan
hätte er ihm entgehen können... Ich wollte nicht genau so
enden. Dachte daher Angst vor dem Tod zu haben. Doch jetzt erst sehe
Ich das es schon viel früher anfängt. Sterben müssen
wir alle einmal. Der Unterschied ist in der Art wie wir sterben. Für
meinen Großvater hätte die Zeit noch nicht kommen müssen.
Er hatte den Tod herausgefordert. Meine eigentliche Angst bestand
also eigentlich weniger in dem Tod, als darin Fehler zu begehen die
sich in ähnlich großen Ausmaß auf mein Leben
auswirken könnten. Jahre lang habe Ich in dieser rustikalen
Stadt gelebt und war dennch glücklich da Ich das Leben dort als
richtig erachtet hatte. Nun wo mir seid meiner Schreibblockade irgend
etwas anders, oder falsch, vorkommt. Kehrt die Angst zurück. Ich
stehe hier zwischen zwei Welten mit der Wahl zwischen richtig und
falsch, kein Wunder also für mein Verhalten. Ich konnte mir ein
Lachen nicht verkneifen. Es war einfach zu komisch dass Ich das
Offensichtliche jahrelang übersehen habe. Jahre lang war ich in
dieser Rustikalen Stadt glücklich, warum sollte Ich also
altbewerte Gewohnheiten auf den Kopf stellen? Ich machte von der
Autobahn kehrt und ging mit der Überzeugung, das mein Entscheid
sich als richtig erweisen würde, wieder nachhause.
Die Brücke
Am nächsten Tag fuhr Ich nicht zur
Arbeit. Nachdem Ich es am Abend zuvor, seit langem, wieder geschafft
hatte einen Blick in meine Kindheit zu erhaschen, wollte Ich einfach
etwas unternehmen um die Möglichkeit, in die Vergangenheit
blicken zu können, weiterhin aufrecht zu erhalten. Ich hatte es
endlich geschafft mit meiner Vergangenheit konfrontiert zu werden und
meine Ängste, ohne Hilfe eines Psychaters, endlich richtig zu
deuten. Doch was war wenn ich diese Deutung nur als richtig empfand,
sie jedoch total falsch war? Was war wenn dies, sofern sich meine
Deutung als falsch erwies, öfter passierte und Ich mich Mal für
Mal tiefer in dem Glauben, das was ich tat wäre richtig,
verirrte, sodass Ich dann schließlich doch einen Psychater
bräuchte?
Ein Schwall von Angst überkam
mich... Ich presste die Augen so fest zusammen das Tränen von
Blut mir über die Wange liefen... „Ich wollte nur dass das
alles endlich ein Ende nahm...“
Plötzlich sah ich eine Brücke
vor Augen. Sie war aus Holz und führte über einen kleinen
Bach. Sie lag weit entfernt von sämtlichen Geräuschen die
man täglich in unserer Stadt hörte.
Ausser von dort spielenden Kindern, wie
mir, wurde diese Brücke kaum benutzt.
Plötzlich schlugen meine Augen
wieder auf. Gab es diese Brücke noch? Ich machte mich kurzer
Hand auf dem Weg. Von einem höhergelegenden Hügel im Wald
hätte Ich die brücke sehen müssen, doch der Nebel war
an diesem Tag zu dicht als dass man irgendetwas hätte erkennen
können. Ich konnte die Erkenntnis einfach nicht abwarten ob die
Brücke noch existierte oder nicht. Also beschloss Ich den
schnellst Weg dorthin zu nehmen. Bergab. Langsam tastete Ich mich den
Abhang hinunter. Schritt für Schritt hätte der Morast unter
meinen Füßen nachgeben können. Ich wäre gestürzt
und hätte mir vermutlich etwas gebrochen. Einen Arm, vielleicht
sogar das Bein. Wer hätte mich schon an diesem abgelegenden
Örtchen finden sollen? Ich schaute mich um und bemerkte wie
verwachsen alles, im Vergleich zu früher, war, entschied mich
dann aber meinen Blick wieder auf den Boden zu konzentrieren. Die Art
wie vorsichtig ich meine Füße auf dem rutschigen
Untergrund bewegte erinnerte mich an ein weiteres Erlebnis aus meiner
Kindheit. Immer wenn ich in der Stadt spazieren ging bemühte ich
mich nicht auf die Fugen zwischen den Platten des gehwegs zu treten.
Ungefähr so achtete Ich nun darauf nur über die festen,
ebeneren Stellen des Untergrundes herabzusteigen.
Als Ich unten war schien mir sämtliche
Mühe umsinst gewesen zu sein. Die Brücke war weg!
Wie lange war es schon her dass Ich
aufhörte mein eigentliches Leben zu führen und an einen
anderes, neues Leben, anknüpfte? Und wie konnte mir diese
Verknüpfung so lange verborgen bleiben, wo sich diese beiden
Wege doch so enorm unterschieden? Vielleicht habe Ich mich schon zu
sehr an mein neues Leben gewöhnt gehabt als dass mir diese
Veränderung hätte auffallen können. So sehr dass Ich
mein altes Leben vernachlässigt, oder sogar vergessen habe?!
Langsam schien sich der Nebel
aufzulösen... Um mich herum und in meinem Kopf...
Alles wurde mir allmälig klar. So
klar wie schon lange nicht mehr. Ich wusste nun dass die ganze letzte
Zeit nicht mein Leben war. Die Frage war nun nicht mehr ob das
wirklich mein Leben ist oder wer Ich eigentlich bin, sondern
wann genau Ich anfing von meinem Leben abzuweichen. Vor meinem
geistigen Auge betrachtete Ich nun die Brücke. Obwohl sie schon
seit einer halben Ewigkeit nicht mehr da sein sollte, schien sie mir
realer als alles andere was ich in letzter Zeit erlebt hatte. Ich sah
sie...
und mit Ihr... tausende,
verorengeglaubte Erinnerungen an meine Kindheit.
Damit begannen die Träume...
Leben ist,
was einem begegnet,
während
man auf seine Träume wartet.
John
lennon,
Musiker
(1940 – 1980)
Tagträume
Schweissüberströmt wachte Ich
auf... Hatte Ich einen Alptraum? Wo war Ich? Ich war wieder Zuhause,
doch wie war ich hier her gelangt? Ich erinnerte mich nicht an meinen
Rückweg von der Brücke. Das letzte an das Ich mich noch
erinnern konnte waren Stimmen... hatte Ich diese vielleicht nur
geträumt? Was sagten mir diese Stimmen und zu wem gehörten
sie? Ich wusste es nicht. Eine starke Migräne überkam mich
sodass Ich mir beide Hände, zu Fäusten geballt, an den Kopf
drücken musste, um diese Schmerzen wenigstens halbwegs ertragen
zu können. Tausende von Gedanken schienen gleichzeitig, meinen
Kopf zu überfluten.
Meine Beine wurden wackelig also setzte
Ich mich an den Schreibtisch. Zu viele Gedanken, die Ich nicht Ordnen
konnte. Mit zitternden Händen griff Ich nach meinem Bleistift
und kritzelte so viele der Gedanken wie möglich auf ein Blatt
Papier. Langsam vergingen die Kopfschmerzen und die Worte, die Ich
auf das Papier schrieb, ergaben langsam einen Sinn. Ich schrieb
weiter. Die Zeilen würden perfekt in mein Manuskript passen,
welches Ich wegen meiner plötzlichen Schreibblockade noch nicht
vollenden konnte.
Ich schrieb, Satz für Satz.. Zeile
für Zeile... als wäre Ich vom Teufe besessen. Die Zeit
verging wie im Fluge... Tick... Tack... Mein plötzlicher
Aufschwung an Inspiration erlosch nicht, daher nutzte Ich die Zeit
weiter aus. Denn wer wusste schon für wie lange Ich meine Kunst
zu Schreiben noch behalten würde, bis die nächste
Schreibblockade auftrat? Tick tack... Mehrere Stunden waren
vergangen. Vor Schmerz ließ ich den Bleistift fallen. Nur
mühsehlig verließ er die Fläche meiner rechten Hand.
Als hätte er sich eingebrannt. Es schien mir als hätte er
einen Abdruck hinterlassn in den er perfekt hinein passte. Ja, er
hatte seinen Platz gefunden. Und auch Ich war wieder da wo ich sein
wollte.
Ein erneuter Migräneanfall überkam
mich... vielleicht hatte Ich mich überarbeitet?!
Ich schaute auf das beschriebene Blatt
Papier, aus dem mittlerweile ein ganzer Stapel beschriebener Papiere
wurde. Irgendetwas war komisch. Einige Worte sprangen mir sofort ins
Auge. Sie schienen dicker geschrieben zu sein als andere Worte. Hatte
Ich sie absichtlich so dick geschrieben? Und wenn ja weshalb? Leben,
Tot, Glauben, Gut, Böse,.. Nur einige Worte die mir intensiver
vorkamen . Worte die irgendwie etwas miteinander zu tun hatten...
Doch was hatten sie mit mir zu tun? Ich schlug mit beiden Fäusten
auf den Tisch. Gerade schien Ich noch einige Rätzel meines neuen
Lebens gelüftet zu haben, als plötzlich ein neues Rätzel
auftaucht. Laut las Ich die Worte vor.
„Leben,... Tot,... Glauben,...
Gut,... Böse..“ Plötzlich
stimmte jemand Anderes mit ein.
„Leben,... Tot,... Glauben,...
Gut,... Böse..“ Blitzartig
drehte Ich mich zu der Ecke meines Arbeitszimmers um, von der die
fremde Stimme zu kommen schien, doch niemand außer mir befand
sich im Zimmer. Ich ging näher in die Richtung aus der die
Stimme zu kommen schien. Etwas lag im Schatten dieser Ecke.
Vorsichtig streckte ich meine Hände aus um danach zu greifen,
ließ es jedoch, wie von der Tarantel gestochen, wieder fallen,
als es zu ticken begann. Tick... Tack...
Es war die Uhr die Ich vor einiger Zeit mit einem ordentlichen
Schwung durch das Zimmer befördert hatte. Es schien mir wie ein
Wunder dass sie diesen Sturz beinahe unversehrt überstanden
hatte. Ich hatte sie als zerstört geglaubt. Schmerz durchlief
meine Schläfen...
„...Glauben...“
brüllte mir die Stimme ins Ohr.
„Wer bist du?“
rief Ich in den Raum, ohne wirklich
eine Antwort zu erwarten. Alles Einbildung. Meine Wahrnehmung musste
mir einen Streich gespielt haben. War es soweit? War Ich mich so weit
in meine Phantasiewelt vorgedrungen, dass Ich nicht mehr zwischen
Realität und Fiktion unterscheiden kann? Realität und
Fiktion... Wieder stand Ich zwischen zwei Welten. Ich erinnerte mich
daran dass die Worte Realität und Fiktion auch in
meinem Manuskript vorkamen. Hastig blätterte Ich einige Seiten
des Manuskripts um. Ich konnte es kaum glauben wie viel Ich an diesem
Abend geschrieben habe... Schließlich kam ich auf der gesuchten
Seite an und erblickte genau dass was Ich glaubte dort zu finden. Die
Worte Realität und Fiktion wahren dicker geschrieben als die
anderen Worte dieser Seite.
Der
dritte Pfad
Ich
versuchte mich von dem bisher Geschehenen abzulenken, es scheitterte
edoch dadurch dass die Stimmen in meinem Kopf mich immer und immer
wieder an die Worte erinnerten. Mittlerweile waren neue Worte
hinzugekommen. Worte wie Gott und Teufel veranlassten mich dazu mich
mit dem Kirchlichen glauben zu konfrontieren. Glaubte Ich an Gott?
Wenn es einen Gott gäbe, warum sah man dann weniger Gutes als
Böses selbst am Tage? Sollte das etwa heißen dass Ich eher
an den Teufel glaubte, bestückt mit der Macht des Bösen?
Nein, schon seit dem Ende meiner Kindheit glaubte Ich nur an das was
Ich sehen und rationell erklären kann. Ja, Ich glaube an Gut und
Böse. Aber muss Ich Gut und Böse gleich mit Gott und dem
Teufel in Verbindung setzen? Ich glaube nicht... Doch auch wenn Ich
den Glaube an Gott und Teufel ausschließe, stehe Ich dennoch
erneut zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein
könnten. Gut... und Böse.
„Zeit“...
„Wähle“... „Gut...“ „Nacht“ „Böse...“ „Tag“
Wieder
bekam Ich starke Kopfschmerzen an die Ich mich wohl nie gewöhnen
würde.
„Zeit“...
„Wähle“... „Gut...“ „Nacht“ „Böse...“ „Tag“
Wollten
die Stimmen mich zwischen eine Wahl stellen? Zwischen Gut und Böse?
Wie sollte Ich mich entscheiden? Wenn Ich mir die Welt so betrachte
würde Ich sagen dass das Böse dominiert. Das Böse
scheint so verführerisch... so einfach... Doch wäre diese
Wahl wirklich richtig?
„Zeit...
ZEIT!“
Die
Kopfschmerzen wurden imemr stärker. Gehst du den geraden Weg
fürchtest du Gott. Gehst du den krummen verachtest du Ihn...
Waren dass die Stimmen, oder bloß eine Erinnerung an frühere
Kirchengänge?
„Wähle“...
„Gut...“ „Nacht“ „Böse...“ „Tag“
Gut oder Böse, Ich konnte mich einfach
nicht entscheiden, zog es daher vor zu versuchen dieses Problem so zu
lösen wie Ich alle anderen bisher auch gelöst hatte. Mit
dem Schreiben. Ich griff nach einem Stift und einem Stück
Papier. Ich zeichnete zwei Wege und beschriftete sie mit Gut und
Böse. Ich ließ den Stift hin und her über das Papier
wandern und schloß die Augen.
Hin... und her... zwischen Gut... und Böse...
bis Ich den Stift schließlich ansätzte und die Augen
öffnete. Auf welchen Weg zeigte der Stift? Auf Gut oder Böse?
Ich richtete meinen Blick auf den Stift und bemerkte dass Ich
unbewusst einen Strich zwischen den beiden Wegen gezogen hatte.
Symbolisierte das einen dritten Weg? Meinen eigenen Weg jenseits von
Gut und Böse?
Einen der völlig neutral war? So musste es
sein, denn die Stimmen waren weg. Jetzt musste Ich nur noch lernen
diesen Weg zu gehen.
Nachtwandler
Wie schon des öfteren wachte Ich
mitten in der Nacht auf. Allmählig hatte Ich mich daran gewöhnt,
denn irgendwie hatte die Nacht etwas beruhigendes an sich. Ich ging
ins Badezimmer um mich zu waschen, denn vermutlich würde ich
wieder einen, mittlerweile gewohnten, nächtlichen Spaziergang
machen. Ich fuhr mit meinen beiden nassen Händen über mein
Gesicht. Ich nahm die Hände wieder weg un blickte in den
Spiegel. Langsam glaubte Ich mich wieder zu erkennen.
Als Ich schließlich hinaus ging
vielen mir einige wenige personen auf die wie Ich mitten in der
Nacht, alleine, spazieren zu gehen schienen.
„Gut...“
„Böse...“ „Tag“ „Nacht“
Durchlebten sie eine ähnlich
depremierende Phase wie Ich? Auch in den folgenden Nächten sah
Ich sie. Nacht für Nacht die selben Gesichter. Ich glaubte dass
auch Sie mich registriert hatten, mich als einen von Ihnen glaubten.
Am Tage sah Ich diese Menschen nie, daher nannte Ich sie mit Vorliebe
„die Nachtwandler“. Und vielleicht gehörte wirklich auch Ich
dazu...
Während Wir am Tage geduckt an
den „normalen“ Menschen vorüber ziehen, uns versteckt halten
und versuchen so wenig Aufmerksamkeit auf uns zu lenken wie möglich,
stolzieren wir in der Nacht, erhobenen Hauptes, durch die Straßen
der Stadt. Die Nacht ganz für uns alleine zu haben, scheinbar
die letzten Wesen auf Erden zu sein... Die Macht zu haben...
Oft erscheinen dunkle Gestalten, in
Kluften, aus schwarzem Stoff, umhüllt, in Wäldern und auf
Friedhöfen... mit ihren Büchern und Hexagrammen... sie
spielen mit Mächten die sie nicht verstehen!
Was ist Macht? Oft wird gesagt das
die großen Kriegsherrn aus vergessenen Zeiten Macht besaßen...
Ist Macht Menschen zu töten nur weil man es könnte, wo doch
die eigentliche Macht eher darin besteht etwas tun zu können,
dies edoch zu unterlassen oder zu verbergen?
Wir haben Macht, doch wir halten
sie, wie auch uns, im Verborgenen.
Wir haben Meinungen, doch äußern
diese nicht.
Unsere Inteligenz, meist
unterschätzt... oder gefürchtet...
Wir könnten überall
mitreden, doch wir unterlassen es. Unsere Meinungen unterscheiden
sich zu sehr von den “Gewöhnlicher“. Sie würden sie
nicht verstehen und versuchten uns umzustimmen, doch unsere Meinung
steht fest!
Wir könnten überall
mitreden, doch wir tun es nicht. Wir verbergen unsere Macht ohne
Krieg und Hexerei.
Die dunklen Gestalten... Sie lenken
die Aufmerksamkeit auf sich. Wir würden das nie tun und dennoch
werden wir immer wieder mit ihnen verglichen oder sogar verwechselt.
Doch wir beschweren uns nicht. Wir könnten es... doch wir tun es
nicht. Wir wissen es einfach besser.
Wir verbergen unsere Meinungen,
unsere Identität... und bleiben ein Geheimnis für dieenigen
die uns nicht verstehen und überall mitreden obwhl sie doch von
nichts wirklich ahnung haben.
Es heißt “alle Menschen sind
gleich“. Kennt man Einen, kennt man also Alle! Sie sind zu leicht
zu durchschauen. Wir kennen sie... zu genüge. Doch uns... Wir
bleiben für sie ein Geheimnis. Ein Mysterium. Und vielleicht
bedeutet gerade das Macht zu haben... und in diesem Punkt wären
wir den “Gewöhnlichen“ hoch überlegen...
Wir wissen es und dennoch schlendern
wir schweigend durch dunkle Gassen und verbergen unser Geheimnis.
Denn wir wissen...
...Irgendwann,... werden sie
verstehen...
Als Ich wieder nachhause kam setzte Ich mich sofort an meinen
Schreibtisch und kramte nach einem Stift. Erneut überflutete
mich eine Welle voller Inspirationen. Scheinbar hatte Ich endlich
meinen Platz in der Welt wieder gefunden. Die Nachtwandler... Ich war
wie Sie... Wir waren nicht verrück oder so nur weil wir eine
Andere Weltanschauhung hatten.
Wir waren einfach nur missverstanden. Noch in dieser Nacht würde
Ich auf die Straße laufen und mich mit einem von Ihnen
unterhalten. Ihm zeigen das Ich einer von Ihnen war. Das Ich Ihr
Freund war. Doch auch hier sollte es dasselbe sein wie mit anderen
Freunden, oder einer Geliebten,... Man glaubt man hätte jemanden
gefunden der jederzeit hinter einem stehen würde doch ehe man
sich versieht fallen sie einem in den Rücken. Ich konnte froh
sein dass Ich diese Nacht überlebte.
Ich schätzte Sie falsch ein nd kassierte dafür Prügel.
Doch außer einigen blauen Flecken, einer Migräne und einem
gebrochenen Ego fehlte mir eigentlich nichts. Ich hatte mich wieder
für den falschen Weg entschieden. Es war der Weg der
nachtwandler und nicht mein eigener.
Ich war wieder am Anfang. Ich stand vor meinem Spiegel und fragte
mich wer Ich war und wohin Ich gehörte. Wie gewohnt erwartete
Ich keine Antwort auf meine Frage. Was hatte mir die ganze Fragerei
denn auch schon gebracht? Ich habe wochenlang meine Zeit vergeudet
und meinen Job verloren. Das einzigste was mir geblieben war, war das
Schreiben... Wie gewohnt...
Auszüge aus den
Memoiren eines Dichters
Anfangs wird unser Leben von einem,
oder mehreren, Dichtern bestimmt. Meist sind es unsere Eltern die
unser Leben, wie nach Drehbuch, vorbestimmen. Wir sind Schauspieler
auf einer Bühne und bemühen uns darum alles möglichst
so zu machen wie es im Drehbuch steht. Es wirkt beinahe so als wäre
das Leben ein böses Marionettenspiel. Jede unserer Bewegungen
vorbestimmt. Doch irgendwann kommt die Zeit in der wir von unseren
Fäden erlöst werden oder uns von Ihnen befreien. Bei
einigen früher... bei anderen später. Wir sehen das Leben
nun aus den Augen anderer.
Wir können nun unseren Weg
selber wählen, doch nur der der es schafft einen eigenen Weg zu
erschaffen, anstatt einen der zur Wahl stehenden einzuschlagen, wird
eines Tages die Fäden selber in die Hand nehmen können und
ein Dichter werden...
Dieser Weg ist noch unergründet
und daher nur mit vorsicht zu genießen. Nur ein unüberlegter
Schritt und man könnte ins Verderben stürtzen...
Ich sah mein Leben
wieder aus der Perspektive eines Dritten. Wie erschöpft lag ich
auf meinem Manusskript. Erst als Ich genauer hinsah fiel mir auf....
Meine Geschichte war endlich fertig...
doch Ich... war tot.
Manchmal verbringt man
zu viel Zeit damit, nach dem Sinn seines Lebens zu suchen,
anstatt die Zeit dafür
zu nutzen sein Leben wirklich zu leben...
Doch irgendwann ist es
zu spät...
Michael Anger 24/02/06
Jenseits des Spiegels ©
2006; ~ 01/06 – 03/06 ©® Michael Anger,