Thorsten Krieger

Aufbruch


Vielleicht bist du ja ein guter Mensch, eine gute Frau, ein guter Mann

und auf dieser Welt so unerwünscht wie man unerwünscht sein kann.

Bitte stumpf nicht ab! Halt die Ohren auf!

Denn Rettung naht gewiss aus einem hohen Haus.
(Xavier Naidoo: „Seelenheil“)

 
1.

 
„Zwei mal Klebeband.“ Der Kassierer tippte einen Betrag in
seine Kasse. „Das ist alles?“ Der große Mann mit dichtem Haar und einem
ausgefallenen Schnurrbart schaute über den Rand seiner dicken Brille hinweg.
„Ja, das ist alles.“
„Das macht dann 7,80, bitte.“
Das Geld wurde passend auf den
Tresen gelegt, und der Mann verschwand aus dem Eisenwarenladen. Er schwang sich
auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zu seinem nächsten Ziel, welches
in der Innenstadt lag. Er fuhr heute mit dem Fahrrad, weil er es von seiner
Wohnung bis in die Stadt nicht sehr weit hatte. Außerdem tat ihm die frische
Luft sehr gut.
            In der
Apotheke musste er lange warten, da zu wenig Apothekerinnen für zu viele Leute
verantwortlich waren. Apotheken haben
immer diesen eigenartigen Geruch, dachte er. Genauso wie Krankenhäuser, Kirchen oder ähnliche öffentliche
Einrichtungen. Aber dieser Geruch störte ihn nicht. Er warf einen Blick auf
die Bonbons, die an dem Tresen befestigt waren und in allen erdenklichen Farben
strahlten. Als Kind hatte er diese sehr gerne gegessen. Er fragte sich, ob die
Bonbons immer noch so gut schmecken würden. Er blickte sich in der Apotheke um,
aber blieb nicht lange bei den Leuten haften, da sie ihn nicht interessierten.
Nachdem er endlich an der Reihe gewesen war, ging er hinaus in die Kälte. Er
hielt für einen kurzen Moment inne und atmete tief ein. Anschließend setzte er
sich wieder auf sein Fahrrad und fuhr noch in die Stadt. Trotz der Mittagszeit
waren an diesem Tag noch nicht sehr viele Leute unterwegs. Aber das wunderte
den Mann nicht.

 
2.

 
Irgendwo im Zimmer summte ein Wecker. Nach langem Warten
tastete eine Hand in der Dunkelheit nach der Quelle des Störgeräusches. Es war
eindeutig zu früh. Die Hand drückte den Knopf, der das Summen in die Schranken
verwies.
            Martin
richtete sich auf und sah sich in dem Zimmer um. Kaltes Licht, das vereinzelt
durch die Rollladen des Fensters fiel, durchbrach die gähnend miefige
Dunkelheit in dem Zimmer. Martin knipste die Lampe, die sich auf dem Nachttisch
neben seinem Bett befand, an. Er musste blinzeln, da sich seine Augen erst an
die neue Lichtsituation gewöhnen mussten. Er fror. Er schüttelte sich, lehnte
sich noch einmal zurück und zog die Bettdecke bis zu seinem Kinn hoch. Der
kalte Geruch des Schlafes und verbrauchte Luft drang in seine Nase. Er fühlte
sich unwohl. Aber es war ein Ritual, das er schon seit Ewigkeiten durchmachte.
            Dann stand
er endlich auf und ging zum Fenster, das gegenüber von seinem Bett lag und ließ
graues Licht hinein. Er zog die Rollläden aber nur bis zur Hälfte hoch. Zu viel
Licht konnte er an diesem frühen Morgen noch nicht ertragen, auch wenn das
Wetter mehr als trist war und das Licht doch nur sehr schwach schien. Er ekelte
sich, wobei ihm eine Gänsehaut den Rücken heraufkroch. Die Gänsehaut kroch über
seinen Rücken die Arme entlang und verharrte da. Martin drehte sich um und zog
die Schublade einer Kommode auf. Er kramte nach passenden Boxershorts und einem
frischen Paar Socken und machte sich dann über den kalten Flur auf ins
Badezimmer. Auf dem Weg dorthin standen seine Brustwarzen vor lauter Kälte
steil von seinem Körper ab, und er fragte sich, ob ein Mädchen das auch mal bei
ihm so hinbekommen würde. Aber was bilde
ich mir denn ein? Als er im Bad war, versuchte er möglichst nicht mit den
Füßen auf den kalten Fliesen zu landen, sondern von Teppich zu Teppich zu
hüpfen. Es waren nicht wirklich Teppiche, sondern eher Fuß- bzw. Badematten.
Aber sie waren plüschig und warm.
            Als er in
den Spiegel schaute, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Sein
Haar klebte wie altes Fell an seinem Kopf. Hier und da standen fettig ein paar
Büschel ab. Die Augen waren wässrig und rot. Ein dreckig wirkender Bart zierte
sein Gesicht. Er schaute lange in den Spiegel. Tränen nässten seine Augen.

 
Vier DM hatten Zigaretten damals noch gekostet. Die beiden
Jungs schauten sich aufgeregt nach allen Seiten um und warfen dann die Münzen
ein. Sie zogen kräftig und schwitzend am Ausgabefach und hielten stolz – aber
auch ängstlich – eine Schachtel HB in den Händen.
„Und wo rauchen wir jetzt diese
Zigaretten?“ wollte Martin wissen.
„Lass uns zum Spielplatz fahren. Da steht ein alter
Eisenbahnwagen. Da gehen wir rein und rauchen ungestört eine. Da sieht uns
niemand“, entgegnete Jens. Martin kannte Jens schon seit dem Kindergarten. Sie
waren – wenn man das so sagen kann – die besten Freunde. Stimmt, der alte Eisenbahnwagen. Daran hatte Martin gar nicht
gedacht. Er war zu sehr damit beschäftigt, dass ihn niemand mit den Zigaretten
in der Hand sah. Seine Eltern durften das auf keinen Fall erfahren. „Ja, dann
lass uns abhauen.“
            Die beiden Jungs fuhren
ungefähr fünf Minuten mit dem Fahrrad zum Spielplatz. Dort angekommen,
versteckten sie ihre Räder hinter ein paar Büschen und gingen zu dem alten
Eisenbahnwagen. Der Wagen war groß und geheimnisvoll. Er war mit einem
NATO-grün angestrichen worden. An einigen Stellen kam schon der Rost zum
Vorschein. Es sah aus, als würde der Wagen aus ein paar Wunden bluten. Rings um
den Wagen wucherte Gras. Nur ein kleiner Sandweg führte zum Eingang. Bis da
wusste Martin noch nicht, dass er hier in ein paar Jahren liegen würde. Mit
einem Mädchen und einer Hand in ihrer Hose, den Slip zur Seite schiebend. Aber
das dauerte noch. Der Wagen hatte keine Tür. Innen roch es alt, modrig und nach
einer Menge Urin. Flecken, die sich von den Wänden bis zum staubigen Holzboden
gebildet hatten, deuteten auf Gelage irgendwelcher Penner hin, die sich in dem
Wagen besoffen und vergnügt haben müssen. An die Wände des Wagons waren Sitzgelegenheiten
angebracht. Martin und Jens setzten sich und holten die Zigaretten heraus und
schauten sich an.
„Wollen wir?“
„Ja klar.“
Beide nahmen sich eine Zigarette
und steckten sie sich in den Mund. Wie man diese anmacht, hatten sie schon bei
ihren Eltern gesehen. Jens fingerte in seinem Anorak nach Streichhölzern, brach
eines aus der Reihe ab und entzündete es. Martin drang der Schwefelgeruch des
Streichholzes in die Nase. Er hielt seine Zigarette an das Feuer und nahm einen
tiefen Zug. Dann verschwand alles rings um ihn.
Martin und Jens fanden sich beide
in der Kirche wieder. Sie hingen mit den Köpfen im Weihwasserbecken und tranken
gierig das heilige Nass. Ihre Münder und Kehlen brannten von dem
Zigarettenrauch, dem Teer, dem Nikotin und von all dem, was sonst noch in so
einer Zigarette ist. Nachdem sie mit dem Trinken fertig waren, schauten sie
sich in dem Gotteshaus um. Eigentlich gab es nichts sonderlich Interessantes zu
entdecken, da sie regelmäßig samstags in die Kirche gingen, oder besser gesagt
in die Kirche gehen mussten. Doch wenn man so ganz alleine war, war es doch
schon eine weitaus aufregendere Sache. Sie gingen durch die Bankreihen und zu
den Opferkerzen. Doch beide hatten viel zu viel Ehrfurcht, um irgendetwas
anzustellen. Dann holte Jens die Streichhölzer raus. Neben dem Beichtstuhl
stand eine überdimensionale Vase mit einem weidenähnlichen Gewächs, welches so
groß war, dass es bis unter die Kirchendecke reichte. Er zündete ein
Streichholz an und hielt es an das Weidengewächs. Sofort fing dieses Feuer.
„Was machst du? Bist du bescheuert?“
Das Feuer breitete sich rasch aus
und kroch schnell Richtung Kirchendecke. „Scheiße! Martin, hilf mir!“ schwitze
Jens.
„Was soll ich denn machen?
Martin stand hilflos da und schaute, wie sich das Feuer
weiter ausbreitete. Jens schubste in Panik Martin zur Seite, brach einen großen
Wedel von dem Gewächs ab und fächerte damit in Richtung Feuer. Und plötzlich,
so schnell wie das Feuer entfacht war, ging es auch wieder aus. Jens schaute zu
Martin, der immer noch wie versteinert dastand.
            „Komm, lass
uns schnell abhauen!“
Und schon rannte Jens an Martin vorbei, vorbei und hinaus
aus der Kirche. Dann erholte sich auch Martin von dem Adrenalinschock und
rannte ebenfalls hinaus. Das helle Sonnenlicht stach Martin in die Augen.
            Von dem Tag
an hörte Martin nur noch einmal von seinem Freund. Da versuchte er die
Grundschule des Ortes anzuzünden.

 
Martin musste sich endlich duschen. Er konnte nicht länger
in den Spiegel schauen. Er zog seine Boxershorts aus und stieg in die Badewanne
– Schrägstrich – Dusche. Er zog den Vorhang zu, stellte das Wasser an und
pinkelte lange in den Abfluss. Er stellte das Wasser heißer und stärker ein und
stellte sich dann mit geschlossenen Augen unter den dampfenden Strahl. Er hatte
keine Lust zu masturbieren. Er fühlte sich nicht danach, und unter der Dusche
machte es ihm eh keinen Spaß.
            Als er
fertig war und sich angezogen hatte, fühlte er sich schon deutlich wohler in
seiner Haut. Er ging zurück in sein Zimmer, räumte ein paar Dinge an die richtigen
Stellen und packte anschließend seinen Rucksack. Nachdem er seinen Geldbeutel
gefunden hatte, verließ er die Wohnung. Mittlerweile bekam er Hunger. Da er so
lange geschlafen hatte, fühlte er sich schlaff, und es brauchte seine Zeit bis
sein Kopf wieder zu dem Rest seines Körpers sprach.
            Zunächst
musste er zu einem Geldautomaten, denn ohne Scheine würde er heute nicht weit
kommen. Er fuhr erst einmal mit dem Bus zur Bank in die Innenstadt. Als er in
der Bank in der langen Schlange stand, die durch eine ältere Frau, die sich
sehr wahrscheinlich mit den neuen Bankautomaten noch nicht so gut auskannte,
entstanden war, überlegte Martin, was er zuerst erledigen sollte.

 
3.

 
Mechthild liebte ihren Mann. Das stand völlig außer Frage.
Es waren derzeit nur einige Unannehmlichkeiten zwischen den beiden. Sie machte
sich selbst dafür verantwortlich. Sie wusste, dass sie durch ihren neuen Job
nur wenig Zeit für Frank übrig hatte. Aber sie hatte auch keine Ahnung, wie und
wann sich dieser Zustand ändern sollte. Ihr Job ging erst einmal vor und Frank
wusste das. Nur konnte er das auch
verstehen? Mechthild war sich da nicht mehr so sicher. Als sie vor Monaten
noch zu hause geblieben ist, auf ihr einjähriges Kind aufgepasst hatte, sich um
die Wohnung gekümmert hatte, da war die Welt noch in Ordnung. Aber Frank
verdiente mittlerweile in der Firma so viel Geld, dass sie sich locker eine
Haushälterin leisten konnten. So hatte sie die Möglichkeit, vormittags arbeiten
zu gehen und nachmittags für ihr gemeinsames Kind da zu sein. Wo war das Problem? Diese Frage stellte
sie sich immer häufiger. Sie hatte nicht das Gefühl, eine schlechte Mutter zu
sein. Ganz im Gegenteil. Sie würde ihr Leben für ihr Kind geben. So sehr liebte
sie es.
            Sie stand
wie jeden Morgen in der Küche und deckte den Frühstückstisch. Sie musste sehr
viel früher als Frank aufstehen. Doch es machte ihr nichts aus, den Tisch für
ihn vorzubereiten. Sie schaltete das Radio ein und lauschte der Musik. Sie
hatte den Oldie-Sender eingespeichert. Der bereitete ihr schon morgens gute
Laune. Während sie leise vor sich hinsummte riss sie einen Zettel von dem
Notizblock an der Wand ab und schrieb Frank eine kurze Nachricht.
Guten Morgen mein Liebling! Ich wünsche Dir einen schönen Tag und freue
mich auf heute Abend. Ich liebe Dich! M.

Sie las sich die Notiz noch
einmal durch und legte sie dann auf Franks Platzdeckchen. Dann schaute sie sich
noch einmal in der Küche um, um sich zu vergewissern das alles sauber war und
machte sich dann daran, sich für die Arbeit fertig zu machen. Sie wusste, dass
Frank es nicht mochte, wenn im Haus – und erst recht in der Küche – Unordnung
herrschte. Alles sieht gut aus,
dachte sie, nahm ihren Anorak vom Kleiderhaken und zog die Haustür hinter sich
zu.
Draußen schlug ihr ein kalter
Wind entgegen. Sie zog den Reißverschluss des Anoraks ganz bis nach oben, um
den Wind nicht noch weiter an ihre Haut zu lassen.
„Guten Morgen, Mechthild!“ rief
die Nachbarin über den Jägerzaun zu ihr rüber.
„Ach, guten Morgen Hanna. Ich habe dich gar nicht gesehen.
Wie geht es dir?“ entgegnete Mechthild. Vor einem Jahr war Hannas Mann
gestorben, und seitdem lebte sie alleine in dem großen Haus nebenan. Ihr Sohn
war schon vor Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie hatte
praktisch niemanden mehr.
            „Mir geht
es gut. Es ist ja so ein herrlicher Morgen. So frisch. Ich liebe es“, sagte sie
zu Mechthild. Irgendwie sah Hanna heute Morgen aber alles andere als glücklich
aus. Macht sie mir nur etwas vor? dachte
Mechthild. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“

            „Aber ja doch. Mach dir keine
Sorgen.“
„Was hältst du davon, wenn ich dich heute Abend zu mir
einlade und wir es uns gemütlich machen? Wir können uns einen Film anschauen.
Du weißt doch, dass Frank eine ganze Sammlung an Filmen hat. Und da ist bestimmt
etwas Spannendes oder Lustiges – ganz wie du magst – für uns dabei. Was sagst
du? Ich würde mich riesig freuen.“
            Mechthild
hoffte, dass sie Hanna überzeugen konnte. Sie brauchte Abwechslung. Da war sie
sich ganz sicher. Hanna war viel zu oft alleine zu hause.
            „Meinst du
denn, dass das wirklich in Ordnung ist? Ich meine, du weißt schon...“ zögerte
Hanna.
„Aber ja doch“, sagte Mechthild,
„komm einfach so gegen acht.“
 „Na, wenn du meinst.
Aber ich bringe das Popcorn mit“, strahlte Hanna.
            Und diesmal
wusste Mechthild, dass Hanna sich wirklich freute. Jetzt musste sie aber auch
wirklich los, denn sonst würde sie noch zu spät auf der Arbeit erscheinen. Sie
verabschiedete sich von Hanna und holte ihr Fahrrad aus dem Fahrradschuppen.
Sie legte ihre Tasche mit ihren persönlichen Dingen vorne in ihren Korb und
machte sich auf den Weg in die Stadt. Bis in die Drogerie war es ein gutes
Stück. Sie musste ordentlich in die Pedale treten, um nicht zu spät zu kommen.
Der Wind peitschte ihr ins Gesicht weshalb sie sich immer wieder die Tränen von
den Wangen wischen musste. Es schmerzte. Ihr schien, als friere ihr Gehirn ein.

 
4.

 
Martin ließ sein Fahrrad an der Bank stehen und ging zu Fuß
weiter in die Stadt. Mittlerweile wurden die Straßen lebendiger. Immer wenn er
sich Menschen in der Stadt ansah wurde er leicht melancholisch. Wo er
hinschaute sah er nur böse Gesichter. Nicht ein einziges Gesicht lächelte,
nicht ein einziges Gesicht war ihm einen freundlichen Blick zu. Sie mögen dich nicht. Sie verachten dich,
dachte er. Er blickte auf den Boden und setzte einen Fuß vor den anderen. Er
hatte das Gefühl, dass ihn tausend Augen anstarrten. Er traute sich nicht
aufzuschauen. Dann stürzte er an der Ampel in eine Masse von Menschen.
„Entschuldigung“, stammelte er leise vor sich hin und schaute auf die Leute. Pass auf, warnte er sich. Die Masse
reagierte spöttisch und wendete sich dann wieder von ihm ab. Siehst du? Sie beachten dich nicht einmal.
Für sie bist du nur Luft. Martin musste schlucken. Grün. Er ging über die
Straße. Dann fiel ihm wieder ein, dass er Hunger hatte. Er entschied sich
dafür, erst seine Besorgungen zu erledigen und dann essen zu gehen. Wohin, das
wusste er schon genau.
In einem Schreibwarenladen suchte
Martin sich eine Karte mit einer Katze drauf aus. Die ist wunderschön, dachte er sich. Martin liebte Katzen. Er hatte
auch mal eine, aber das war schon lange her. Sie hatte einen Tumor und musste
eingeschläfert werden. Damals hatte er bitterlich geweint. Sein Vater hatte ihn
damals in den Arm genommen und ihn getröstet. Martin konnte stundenlang neben
ihr – Kitty war ihr Name – auf dem Teppich liegen und sie beobachten während
sie schlief. Nach einer Weile schlief er dann auch ein und wachte erst wieder
auf, wenn Kitty ihm über das Gesicht leckte. Sie hatte eine so raue Zunge.
Etwas so wie Schmirgelpapier. Ja, er hatte diese Katze geliebt. Leider konnte
er sich in seiner jetzigen Wohnung keine Katze halten. Außerdem musste er
studieren und konnte so nicht ständig für sie da sein.
Der Hunger wurde nun richtig
groß, und deshalb ging er jetzt zu Burger King, um sich ein paar Pommes und
einen Whopper zu kaufen. Er liebte fast food. Aber er hasste es, wenn aus
’fast’ eine Ewigkeit wurde. Während seine Bestellung vorbereitet wurde,
besorgte er sich Salz, Servietten und einen Strohhalm aus dem Spender. Er
brauchte immer haufenweise Servietten, da er sich nach dem Essen so schmutzig
und klebrig fühlte. Er spürte das Essen und den Geruch an seinen Fingern, und
das brachte ihm jedes Mal Übelkeit ein.
            Als er
endlich sein Essen erhalten hatte, setzte er sich in eine abgelegene Ecke und
begann zu essen. Nach dem Mahl und nachdem er sich gründlich gereinigt hatte,
fingerte er in seinem Rucksack nach einem Kugelschreiber und der Karte.
Vorsichtig entfernte er die Folie, die der Karte als Schutz diente und legte
sie auf das zugemüllte Tablett. Er nahm den Kugelschreiber in die Hand und
überlegte eine Weile bevor er anfing zu schreiben.

 
5.

 
Frank wachte sofort auf, als der Wecker klingelte. Er
schwang sich schnell aus dem Bett und marschierte ohne das Licht einzuschalten
zur Schlafzimmertür. Er ging ins Badezimmer und pinkelte im Stehen in die
Kloschüssel. Nachdem er sein allmorgendliches Geschäft beendet hatte,
betrachtete er sich im Spiegel und lächelte zufrieden. Plötzlich verspürte er
Lust auf Sex. Leider war Mechthild schon aus dem Haus und sie würden sich erst
abends wieder sehen. Schade, dachte
er und zog seine Boxershorts aus und stellte sich unter die Dusche.
            Vor dem
Frühstückstisch stehend las er die Notiz, die Mechthild ihm hinterlassen hatte
und freute sich auch auf den gemeinsamen Abend. Er schenkte sich einen Kaffee
ein, trank diesen im Stehen und warf noch einen schnellen Blick auf die
Zeitung. Ja ja, sprengt euch doch alle in
die Luft und haut euch gegenseitig die Köpfe ein, dachte er als er von neuen
Selbstmordanschlägen las. Manchmal fragte er sich, wie viel Elend noch auf
dieser Welt vor sich gehen musste. Angewidert machte er sich schließlich auch
auf den Weg zur Arbeit. Er begegnete niemandem vor dem Haus. Er setzte sich in
seinen BMW und fuhr den Hof runter auf die Straße. Dann gab er Gas und war weg.

 
6.

 
Es hatte gerade die zweite Halbzeit des Champions-League-Spiels
begonnen als Stefan das Wohnzimmer seiner Großeltern verließ. Stefans
Großmutter beschäftigte sich in der Küche mit dem Abwasch des Geschirrs vom
Abendessen, und sein Großvater bemühte sich, seine Augen aufzuhalten und auf
den Fernseher zu richten. Das Spiel stand auf Messers Schneide und war spannend
bis aufs Äußerste. Viele Menschen saßen vor dem Fernseher und verfolgten das
Halbfinale.
            Stefan
verbrachte viel Zeit bei seinen Großeltern. Er lebte mit seiner Mutter in einer
kleinen Mietswohnung am Rande der Stadt. Vor vielen Jahren hatten sich seine
Eltern getrennt, und Stefan litt noch heute darunter. Nicht das er es jemals
vor seinen Freunden in der Schule zugegeben hätte. Aber nachts lag er oft lange
wach und dachte an seinen Vater. Er hatte schon seit Ewigkeiten nichts mehr von
ihm gehört. Anscheinend hat er eine neue Familie in einer anderen Stadt
gegründet. Seine Mutter sprach kaum über Stefans Vater. Aber das fand Stefan
sogar gut, denn er wollte nicht, dass jemand seine Tränen sah. In der Schule
lief es zurzeit auch nicht so gut. Irgendwie konnte er sich in den letzten
Tagen nicht konzentrieren. Er hatte aber keine Ahnung woran das liegen konnte.
Denn das war nicht immer so. Eigentlich war er sonst ein durchschnittlicher
Schüler gewesen.
            Stefan ging
durch den spärlich und sehr alt – wie man es von Großeltern kennt –
eingerichteten Flur. Die Wände waren mit mehreren Hirschgeweihen und
Wildschweinhauern geschmückt. Allesamt Trophäen. Stefans Opa war Jäger. Totes an den Wänden . . . welch Ironie,
dachte er. Stefan blieb vor einer kleinen Kommode stehen und zog die oberste
Schublade auf. Sie klemmte ein wenig, und Stefan bemühte sich nicht so viel
Lärm zu machen. In der Lade lag ein kleiner Schlüssel, den er an sich nahm und
in die Hosentasche verschwinden ließ. Dann schloss er die Kommode und ging zu
einer schiefen Tür. Er öffnete diese und ging eine spartanische Holztreppe
hinunter in den Keller. Dort unten roch es alt und modrig. Spinnenweben zierten
die Ecken unter der Decke. Er bog nach links ab und blieb vor einer Glasvitrine
stehen. Sie besaß ein kleines Schloss an der Tür. Er zog den Schlüssel aus
seiner Tasche und benutzte ihn, um die Vitrine zu öffnen. Er holte eine kleine
Schachtel aus der Vitrine und griff anschließend nach einem Jagdgewehr. Es
glänzte von der Politur und lag schwer in Stefans Hand. Er öffnete die
Schachtel und steckte die Munition in die Ladekammer des Gewehrs und
entsicherte das Gewehr. Anschließend setzte er sich auf einen Stuhl neben die
Vitrine und schoss sich in den Mund.

 
Martin konnte sich nicht mehr so recht daran erinnern, wie
viele Leute damals auf Stefans Beerdigung waren. Er wusste nur, dass er viele
seiner alten Klassenkameraden, die er lange nicht mehr gesehen hatte, getroffen
hatte. Es war schon komisch, zu so einem Anlass alte Bekannte wieder zu sehen.
Gedankenverloren schaute er sich das Ergebnis seiner Einladungskarte an:

 
Liebe Mechthild,

ich werde demnächst für eine

längere Zeit ins Ausland gehen und

lade Dich und Frank zu einem
Abschiedsessen zu mir nach hause ein.

Ich würde mich sehr freuen, wenn

ihr kommen könnt.


 
Freitag, 20 Uhr


 
Liebe Grüße,

Martin


 
Zufrieden steckte er sich eine Zigarette an und inhalierte
tief den Rauch. Er war sich sicher, dass die beiden kommen würden, schließlich
hatte er seine Schwester seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Er freute sich
auf ihren Besuch. Er lehnte sich zurück und rauchte seine Zigarette weiter.

 
7.

 
In der Universität hatte Martin wieder diese Kopfschmerzen.
Er hatte das Gefühl, dass sein rechter Arm nicht mehr zu ihm gehörte. Sein
Gehirn pochte dumpf unter der Schädeldecke. Es musste irgendetwas geschehen. Er
hatte keine Chance, sich zu konzentrieren. Der Dozent stand vor dem Kurs und
erzählte von linken und rechten Gehirnhemisphären. Wie passend! Martin konnte nichts verstehen. Er wusste ja selbst
nicht, was in seinem Gehirn vor sich ging.
„Die linke Gehirnhälfte ist
verantwortlich für die Kontrolle der rechten Hand. Des Weiteren spielt sich in
der Hälfte das logische Denken ab, das Zahlengedächtnis sowie die
wissenschaftlichen Fähigkeiten sind hier verankert. Außerdem ist die linke
Gehirnhälfte für das Schreiben und für die Sprache zuständig. Die rechte
Gehirnhälfte – wie sollte es anders sein – kontrolliert die linke Hand. Diese
Hälfte ist für alles Künstlerische verantwortlich: Einsicht, Musik,
Raumorientierung, Vorstellungskraft und so weiter.“
Langsam verschwand die Welt um
Martin. Er bekam einen Tunnelblick. Ihm wurde schwindelig, und er hatte das
Gefühl, dass er sich übergeben müsste. Er stürzte schwitzend aus dem
Seminarraum, rannte dabei einen Stuhl um und war dann draußen auf dem Flur. Er
rannte nach rechts Richtung Toilette. Er nahm die Blicke, die an ihm hafteten
gar nicht mehr wahr. Sein Kopf schien zu zerspringen. Auf der Toilette
stolperte er in eine Kabine und erbrach sich ohne abzuschließen in die
Schüssel. Die lächerlichen Bemerkungen, die von der Kabine nebenan kamen,
drangen nicht einmal in Martins Gehör. Tränen rannen ihm aus den Augen. Als er
fertig war, sackte er erschöpft neben die Kloschüssel und hoffte, dass das
schmerzende Pochen endlich aufhörte.
Jetzt war er ein Schauspieler,
der mit seiner eigenen Melancholie spielte. In seiner Phantasie konnte er
Mensch sein, in seiner Phantasie konnte er weinen. Küsschen und Rosen flogen zu
ihm auf die Bühne. Er verbeugte sich. Der Adrenalinspiegel in Martins Körper begann
zu sinken. Er hatte die beste Vorstellung seines Lebens gegeben. Dann schloss
sich der Vorhang.
In der Klasse war die erste
Präsentationsgruppe an der Reihe. Es wurden Bilder von chirurgisch entfernten
Gehirnen gezeigt, und es wurde erklärt, was für Schäden im und am Gehirn die
Sprache des Menschen beeinträchtigen. Martin saß mit seinen roten wässrigen
Augen auf seinem Stuhl. Ganz hinten in der Ecke und schämte sich für sein
Auftreten. Der Unterricht dauerte aber noch eine Stunde, und die musste er wohl
oder übel noch absitzen. Mittlerweile konnte er auch das Getuschel seiner
Kommilitonen wieder wahrnehmen. Natürlich
reden sie über dich! Über wen denn sonst?
            Stühle
schieben, Rucksackgeraschel, und die Stunde war zu Ende. Und was war daran jetzt schlimm? Ach, fahr doch nach hause! Auf dem
Weg zu seinem Fahrrad sah Martin überall kleine Gruppen von Studenten, die
Pläne für das bevorstehende Wochenende schmiedeten. Aber heute machte er sich
keine Gedanken darüber. Dieses Szenario hatte er schon so oft erlebt. Doch heute
konnten die Gesichter noch so viele Pläne schmieden, endlich hatte auch er
einen Plan. Der heutige Freitag würde endlich eine Veränderung in seinem Leben
bringen. Er freute sich sehr. Nun würde er aber erst einmal essen fahren. Und
schließlich hatte er ja auch noch eine Menge zu erledigen, damit der Abend
perfekt werden würde.


 
„Derek Jarman arbeitete in der Tradition von Pasolini, Genet
und Anger und arbeitete an der gesellschaftlich-politischen Homosexualität in
seinen Filmen.“ Die Referentin stand in schwarz vor dem Rednerpult. Ihre
blonden Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht.
            „Sein
letzter Film war BLUE ... 1993 ... und damit beende ich das Referat.“
Darauf folgte ein lautes Klopfen auf Tischchen, die an
Stühlen befestigt waren. Dieser Lärm riss Martin aus dem Nebel seines
Gedankenwirrwarrs. Dann Gelächter. Höre
ich meinen Namen? Immer noch Gelächter. Sink
tiefer in deinen Stuhl und beweg dich nicht. Martin sank in seinen Stuhl.
Irgendjemand im Raum redete.

 
8.

 
Und dann herrschte für einen Moment Stille. Martin ging
hinaus in die Nacht. Es war kalt. Am dunklen Himmel standen ein paar Sterne.
Sie leuchteten klar und schön am Himmel. Hier
unten leuchtet meine Laterne. Martin zog den Kragen seiner Jacke hoch und
blickte um sich. Niemand war zu dieser späten Stunde noch unterwegs. In den
Pfützen auf der Straße spiegelten sich die Laternen. Die Gehäuse der Laternen
schummerten in einem schmutzigen Gelb. Sie waren dreckig und viele Falter
befanden sich auf dem Boden. Falter, die vom Licht angezogen wurden und dann
ihr Leben an der summenden Birne ausgehaucht hatten. Wenn man sein Leben aushauchen kann, dann muss ja irgendein Leben in
einem stecken. Tief in einem. Habe ich auch so etwas? Ein tief sitzendes
Leben? Kann man da schon von einer Seele sprechen? Was ist überhaupt eine
Seele? Ich glaube, ich habe eine Seele, denn ich fühle, und das ist doch
anscheinend ein gutes Zeichen. Zumindest spüre ich, dass etwas Gutes in mir
sein muss. Umso weiter Martin die Straße ging, umso stärker kroch die
unheimliche Kälte unter seine Jacke und bedeckte sein Körper.


 
9.

 
Freitag, 18:30 Uhr. Der Tisch war schön gedeckt. Für drei
Personen. Martin schaute sich alles noch einmal genau an und entschied, noch
zwei Kerzen aufzustellen, um den Abschied noch ein wenig romantischer zu
gestalten. Er blickte auf die Uhr und stellte fest, dass er noch genügend Zeit
hatte, bis seine Gäste eintrafen. Er ging noch einmal in die Küche, um nach dem
Essen zu sehen. Der Braten konnte bald in den Backofen gestellt werden. In
einem Fach über dem Kühlschrank fand er passende Kerzen für den Abend. Er
mochte den roten Wachs und wie es sich in seiner Hand anfühlte. Dieser
magnetisch, leicht klebrige Stoff. Er drehte sie in seinen Händen und steckte
sie dann aber an ihren Platz auf den Tisch im Esszimmer. Duschen! Bevor du gehst willst du dich doch noch einmal von deiner
besten Seite zeigen. Martin fischte aus seinem Schrank die besten Klamotten
und ging in das Bad. Es war noch eine Menge zu erledigen. Außerdem wollte er
nicht nach Essen riechen. Ja, es wird ein
perfekter Abend. Einmal, dachte er. Habe
ich an alles gedacht? Besteck, Messer, Gabel, Kerzen, Geschirr? Zufrieden
nickte Martin mit dem Kopf. Ach, Getränke
habe ich vergessen. Wir müssen doch auf meinen Abschied anstoßen. Er hatte
einen teuren Rotwein, Bier und nicht-alkoholische Getränke besorgt. Für jeden
sollte etwas dabei sein. Ein letztes Mal wollte er ein guter Gastgeber sein. Ein letztes Mal, dachte er, wann war ich
schon einmal Gastgeber? Martin freute sich. Seine Hände zitterten ein wenig
vor Aufregung. Mach heute Abend einmal
alles richtig in deinem Leben! Das werde ich. Beweise ihnen, dass du doch etwas
Besonderes bist. Der Abend gehört dir. Ein Lächeln huschte über Martins
Gesicht. Er war zufrieden.

 
Mechthild und Frank liebten sich in ihrem Schlafzimmer. Sie
hatten unsagbare Lust aufeinander. Schon den ganzen Tag. Frank warf Mechthild
auf das große Bett und stürzte sich sofort auf sie und machte sich daran, die
Knöpfe an ihrer Hose aufzureißen. Mechthild half ihm, ihre Hose auszuziehen,
indem sie ihr Becken anhob. Er zerrte ihre Hose über ihre Knie und anschließend
über ihre Füße, um sie dann irgendwo ins Zimmer zu schleudern. Frank zog sich
selbst sein T-Shirt aus. Mechthild richtete sich auf und machte sich an seinem
Reißverschluss zu schaffen. Sie konnte kaum damit beginnen, da warf Frank sie
zurück auf das Bett und beugte sich über sie. Er begann, sie am ganzen Körper
zu küssen. Er schob ihren schwarzen Slip zur Seite und küsste sie sehr
intensiv. Mechthild stöhnte vor Verlangen auf.
            „Ja ...
küss mich ... hör nicht auf!“ keuchte sie. Frank riss an ihrem Slip und warf
ihn hinter sich.
            „Komm
schon! Zieh deine Hose aus!“ Frank zog seine Hose aus und zog ihren Kopf an
sich heran. Nachdem sie ihn mit dem Mund befriedigt hatte, legte er sich auf
sie und drang schwitzend und schnaubend in sie ein. Ein Telefon klingelte
unten. Frank bewegte sich immer wilder. Nachdem er fertig war, rollte er sich
von ihr runter. Mechthild lag einfach so da. Nach einer Weile ging sie ins Bad,
um eine Dusche zu nehmen.

 
Martin musste an viele Dinge denken, die ihm in seinem kurzen
Leben schon widerfahren waren. Es gab schöne Dinge, aber auch traurige.
Menschen, die ihm etwas bedeuteten, haben ihn enttäuscht und wehgetan. Er
wollte Freunde haben. Lachen, glücklich sein, sich verabreden. Doch dieses
Glück war ihm nie gegönnt. Sobald er das Gefühl hatte, gemocht zu werden, wurde
ihm früher oder später vor den Kopf gestoßen und deutlich gemacht, dass dies
nicht der Fall war. Er hoffte, dass mit dem Abschied endlich alles anders
werden würde. Etwas Neues sollte beginnen.
            Martin saß
mit seinen nassen Haaren am Fenster und blickte hinaus. Mittlerweile hatte es
wieder angefangen zu regnen. Ein paar Leute eilten mit gesenktem Kopf durch den
Regen, um schnell nach hause zu kommen. Hin und wieder wurde sein Blick durch
vorbeifahrende Autos gestört. Er mochte, wenn es regnete, wie es dann roch.
Trotz der Dunkelheit und des Regens waren noch Kinder auf der Straße. Die
Kinder studierten Tricks auf ihren Skateboards ein. Sie lachten und jauchzten
vor Freude.
            Martin
hatte auch mal ein Skateboard. Aber das war Jahre her. Er fuhr alleine die
Straße entlang. Den ganzen Tag über war es schon sehr kalt gewesen und der
morgendliche Tau war noch gefroren. Und dann sah er ihn von weitem kommen. Der
Schrecken der Nachbarschaft. Tilo war sein Name, und er war fünf Jahre älter
als Martin. Tilos Mutter war eine Alkoholikerin und sein Vater war ein Versager
auf ganzer Linie. Er arbeitete in einem kleinen Elektronikladen und wurde beim
Stehlen von Batterien erwischt. Man hatte ihn gefeuert und seitdem hing er zu
hause auf dem Sofa rum und verprügelte in regelmäßigen Abständen den Rest der
Familie. Martin spürte Angst in sich aufsteigen, wollte es aber auf keinen Fall
zeigen. Er versuchte ruhig zu bleiben und seinen Weg nach hause fortzusetzen.
Es waren nur noch zweihundert Meter. Doch dann wurde Tilo auf ihn aufmerksam.
            „Hey du
Blödmann!“ Tilo steuerte auf ihn zu. Martin starrte ihn an.
„Ja, ich meine dich. Halt doch mal!“ Martin tat so, als
verstünde er nicht. Dann war Tilo vor ihm und stoppte das Skateboard mit dem
Fuß. Martin stürzte zur Seite und schaute ängstlich zum Haus.
            „Was soll
das? Ich muss nach hause.“
„Ach, das kleine Baby muss nach hause ins Bett.“ Tilo lachte
und kickte das Skateboard zur Seite.
            „Spinnst
du?“ fragte Martin. Er hatte das Skateboard gerade neu bekommen und wollte
nicht, dass es zerstört wurde.
            „Was hast
du gesagt?“ Tilo ging auf Martin zu und schmiss ihn erneut auf den Boden.
Martin jaulte auf. Das ließ Feuer in Tilos Augen aufblitzen. Er trat ihn in die
Seite, bis Martin Tränen in die Augen stießen.
            „Sieh mal“,
schrie Tilo, „jetzt weint das kleine Baby.“ Martin konnte nichts mehr sagen. Er
war gelähmt vor Angst und Schmerzen. Er musste zusehen, wie Tilo das Skateboard
an sich nahm.
            „Bitte mach
es nicht kaputt! Das habe ich gerade erst zum Geburtstag bekommen.“ Tilo bückte
sich am Straßenrand und hob etwas auf.
            „Ach, du
hattest Geburtstag!? Na, dann muss ich dir doch noch mein Geschenk geben.“ Tilo
kniete sich mit dem Skateboard in der Hand neben Martin und bekritzelte mit
gefrorener Hundekacke das Skateboard. Wie mit Wachsmalkreide zog er Kreise auf
der Trittfläche. Dann ließ er den Kot fallen und machte sich lachend davon.
            „Viel Spaß
mit deinem Skateboard, du Penner.“
Martin stand langsam auf und nahm mit Tränen in den Augen
sein Skateboard in sich. Obwohl er nichts dafür konnte, wusste er nicht, wie er
es seinen Eltern erklären sollte. Er fühlte sich gedemütigt. Er war der
Schwächere gewesen. Wieder einmal. Er mochte seinem Vater nicht in die Augen
schauen. Es war ihm peinlich und sein Herz brannte vor Scham. Martin mochte
seinem Vater nicht das schöne Geburtstagsgeschenk zeigen und was daraus
geworden war. Mit dem Skateboard unter dem Arm trat er seinen Leidensweg nach
hause an. Vielleicht hatte er noch Zeit, das Skateboard zu reinigen, bevor
seine Eltern von der Arbeit heimkamen.

 
10.

 
„Mechthild? Frank? Trinkt ihr lieber Bier oder Wein?“ rief
Martin aus der Küche.
            „Wir
trinken beide Rotwein“, antwortete Mechthild und schaute Frank an. Sie wusste,
dass er sich langweilte und es hasste, hier mit ihr und ihrem Bruder zu sitzen.
Plötzlich schaute Frank in Mechthilds Augen und schenkte ihr ein Lächeln.
            „Danke“,
flüsterte sie und legte ihre Hand in seine.
Martin kam zurück und stellte den Wein vor ihnen hin und
schenkte sich selbst ein Glas Wasser ein.
            „Danke,
dass ihr gekommen seid. Ich weiß das wirklich zu schätzen“, sagte er zu den
beiden.
            „Natürlich
sind wir gekommen. Frank?“ Mechthild schaute Frank flehend an.
„Ja, natürlich. Warum hast du uns eigentlich eingeladen? Du
hast etwas von einer Reise geschrieben, oder?“ fragte Frank.
            „Ja, eine
Reise. Eine lange Reise.“ Martin begann zu lächeln. „Ich erzähle euch von
meinen Plan. Aber lasst uns erst etwas trinken!“ Die drei saßen am Tisch und
hoben ihre Gläser.
            Als Frank
und Mechthild aufwachten, waren ihre Hände und Füße an ihre Stühle gefesselt. Sie
schauten sich benommen um und wussten nicht, was geschehen war. Martin stand
vor ihnen und schaute sie an. „Geht es dir gut, Mechthild?“ Martin ging um den
Tisch herum und berührte ihr Gesicht.
„Ich hoffe, ich habe dir nicht
wehgetan?“ Martin untersuchte das Klebeband. „Ich glaube nicht.“
            Noch bevor
Frank etwas sagen konnte, verschwand Martin in einen anderen Raum, kam aber
wenig später mit einem Seil zurück. Dann schrie Frank ihn an: „Hey du
Arschloch! Was machst du? Hast du sie nicht mehr alle?“
            Martin ließ
das Geschrei unbeeindruckt. Er legte das Seil auf seinen Stuhl.
„Bitte Martin ... was ist hier los? Bitte mach uns los!“
flehte Mechthild.
„Das kann ich heute nicht machen.
Tut mit leid.“
„Wieso kannst du das nicht. Wir können doch reden.“
„Du kannst heute nicht reden. Ich
kann heute reden.“
“Geht es dir nicht gut?“
„Doch, es geht mir gut. Sehr gut sogar. Aber das ist leider nicht immer so.
Kannst du
dir eigentlich vorstellen, wie es ist, Martin zu sein? Das
glaube ich wohl kaum. Soll ich dir mal erzählen, was das für ein Leben ist?“
Martin begann sich wieder vor ihnen hinzustellen und zog langsam seinen
Pullover aus, „Soll ich dich mal aufklären?“
            „Martin!
Hör bitte auf damit! Du machst mir Angst. Und was hast du da an deinem Körper?“
Martins Körper war übersäht mit blutigen, verkrusteten
Narben. Aber er ging nicht auf ihre Frage ein.
„Womit soll ich aufhören? Ich tu
dir doch gar nichts.“ Martin starrte seiner Schwester unausweichlich in die
Augen. Mechthild fühlte sich immer unwohler, aber sie konnte sich seinem
hypnotisierenden Blick nicht entziehen.
            „Martin ...
bitte ... ich habe Angst!“
Frank, der bis dahin nur an seinen Fesseln gezerrt hatte,
kam wieder ins Spiel: „Mit dir stimmt doch was nicht. Mach uns sofort los!“
            „Ich kann
Frank auch wegschicken. Dann sind wir ganz alleine und können unter vier Augen
miteinander reden. Wie wäre das?“ versuchte Mechthild Martin weiter zu
überzeugen.
Doch bevor Martin etwas erwidern konnte, war Frank erneut
dazwischen.
            „Wie kannst
du es wagen? Ich soll gehen?“
„Vielleicht ist es das Beste.“
            „Vielleicht
ist es das Beste?“ äffte Frank sie nach, „stehst du plötzlich auf der
Loser-Seite?“ Frank zerrte wieder an seinen Fesseln, doch die lockerten sich
kein Stück. Die Zeit verging.
            „Frank,
beruhige dich“, versuchte Mechthild ihn zu beruhigen.
„Halts Maul! Jetzt reicht’s! Ich beende jetzt das
Kinderspiel!“ Wieder versuchte Frank
krampfhaft, sich zu befreien, doch es war sinnlos. Die
Fesseln saßen fest um seine Handgelenke. Mit einem Satz war Martin plötzlich
hinter Frank und hielt ihm ein Fleischermesser unter die Kehle. „Wie redest du
denn mit meiner Schwester, häh? Wie wäre es, wenn ich dir heute Abend mal
zeige, wer die Fresse zu halten hat?!“
            „Martin!“
schrie Mechthild, doch es passierte nichts. Martin ließ von Frank ab. Aber dann
ganz plötzlich drehte er sich noch einmal um und schlug Martin mit der Faust so
lange ins Gesicht, bis dieser keinen Ton mehr von sich gab.
„Ich will dir doch nichts Böses.
Und ich will dir keine Angst machen.“
Martin drehte sich um, und schaute aus dem Fenster. „Ich will dir keine Angst
machen. Das war nie meine Absicht.“
            „Aber schau
was du mit Frank gemacht hast. Ich erkenne dich nicht wieder.“
“Hast du mich eigentlich gekannt? Ich glaube nicht. Niemand kann in mich
schauen. Niemand weiß, was in mir vorgeht. Und was Frank angeht, er hat mich
beleidigt und er verdient keinen Respekt.“ Dann drehte er sich wieder zu
Mechthild. „Aber heute ... ja heute ist mein Abend ... und an meinem Abend
möchte ich einmal in meinem Leben nicht beleidigt werden. Verstehst du? Heute
ist mein Abend.“ Langsam liefen Martin Tränen die Wangen hinunter. Trotzdem
blieb er standhaft und ließ sich nicht zurückdrängen. Er machte weiter, womit
er angefangen hatte. Er zog seine restliche Kleidung auch noch aus und stand
dann völlig nackt vor seiner Schwester.
            „Ich
dachte, wir würden heute zu Abend essen?“ schluchzte Mechthild.
Martin versuchte sie zu beruhigen: „Aber jetzt ist es zu
Ende und wir kommen zu dem eigentlichen Akt des Abends.“ Narben bedeckten auch
seine Beine und überhaupt seinen ganzen Körper. Mechthild konnte es nicht
länger mit ansehen. Ihr wurde schlecht.
            Du machst genau das Richtige. Mach weiter,
es ist deine Show. Martin nickte und nahm das Seil von dem Stuhl und warf
es über einen Balken unter der Decke.
            „Oh mein
Gott, oh mein Gott ... Martin! Tu es bitte nicht!“ Jenny schrie, „Martin,
beruhige dich und lass uns reden! Ich bitte dich ... hör mir zu!“ Aber Martins
Gedanken waren völlig außer Kontrolle. Was
ist Wirklichkeit? Symbole interpretiert von deinem Verstand. Der Raum um
ihn herum verschwand. Farben tanzten vor seinen Augen. Gleich ... Licht am Ende der Kanalisation. Er stieg auf den Stuhl
und legte sich das Seil um seinen Hals. Er sah nichts mehr. Er tauchte ein in
eine andere Welt. Die Rachegöttin steigt
empor. Er schwitzte nicht und atmete leicht. Heute Abend bist du der Mittelpunkt, du bist der Held, der Star des
Abends. Martin tastete sich vorwärts Richtung Stuhlkante. Linke Gehirnhälfte ... rechte Hand, rechte
Gehirnhälfte ... linke Hand. Ein Schritt vorwärts. Frieden. Aus. Martin
machte einen Schritt nach vorne und durch das gesamte Haus drang ein weiblicher
Schrei. Und zum ersten Mal in seinem Leben spürte Martin, dass sich jemand für
ihn interessierte. Er lächelte. Er war glücklich. Und da waren keine Stimmen
mehr. Nur ein bisschen Geweine einer Frau und das Knartschen eines Seils
erfüllten den Raum mit Leben.

 
ENDE
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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