Siegmund Natschke

1001

Ich stand vor dem palastähnlichen Gebäude der Universität. Hinter mir lagen die Hochhäuser der Wohnviertel. In einem lebte ich. Noch. Es war angekündigt worden, dass dieser Komplex abgerissen werden sollte, schon seit einem Jahr bestand Einsturzgefahr. Vielen Leuten erging es jetzt wie mir. Sie verloren ihre Wohnung, weil es zu gefährlich worden war, in den alten, heruntergekommenen Hochhäusern zu leben. Von den Behörden wurden dann Abrißbefehle erteilt. Da keine neuen Wohnungen gebaut wurden, blieb den Leuten nur die Obdachlosigkeit. Sie zogen dann meistens an den Stadtrand. Dort entstanden ... ja, früher hätte man "Slums" gesagt. Das Wort gab es jetzt aber nicht mehr. Nein, offiziell gab es keine Probleme. Wenn man, wie ich jetzt, nur den Stadtkern sah, in dem sich alle Regierungsgebäude, Verwaltungskomplexe und die Wohnhäuser der Besserverdienenden befanden, dann hätte man das auch wirklich glauben können.
Ich ging in die Universität hinein und suchte Hörsaal 303. Er musste sich wohl im Ostflügel befinden, denn alle anderen Studenten, die ich sah, gingen auch dorthin. Kaum einer sprach ein Wort - das war normal. Ich folgte der Masse, die sich in die Richtung drängte, in die ich auch wollte. Aus Seitengängen kamen immer mehr dazu. Ich sah in der Ferne, dass die Hörsaaltür offen stand. Gott sei Dank , dass das Gedränge dort sich nicht endlos fortsetzen würde.
Der Hörsaal war angenehm kühl, irgendwie fühlte ich mich dadurch erleichtert. Die vielen Studenten verteilten sich gleichmäßig im Saal, alle schienen gespannt zu sein, was kommen würde, ich war es auch. Der Bildschirm vor mir blieb aber noch dunkel. Warten. Nach 10 Minuten kam ein Professor, den ich kannte. "Guters" hieß er und war bei den Studenten sehr beliebt. Er war so groß, dass er oft nicht ohne sich zu Bücken durch die Hörsaaltüren kam. Das war dann oft der Beginn einer lustigen Vorlesung. Guters ging nach vorne, setzte sich locker auf das Pult und ein Lächeln huschte über das von einem schwarzen Vollbart halb verdeckte Gesicht. "Meine Damen und Herren, nachdem ich ganz gut durch die Tür gekommen bin ..." Lachen bei den Studenten "... glaube ich, dass auch Sie heute lösbare Aufgaben vor sich haben. Die Klausur ist so gestaltet, dass wohl jeder hier sie bestehen kann, wenn er einigermassen gelernt hat. Also, viel Glück!" nickte er und setzte sich dann hinter das Pult. Alle schienen jetzt ein bißchen aufzuatmen, man hatte sich auf die schwierigsten und schrecklichsten Aufgaben eingestellt, doch was jetzt auf dem Bildschirm erschien, war wirklich genau Gegenteil:
 
                    Alt-Gesellschaft-Geschichte/ Abschlußklausur vom 20.2.2090
 
1. Wie funktionierte das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik ? Wann wurde es durch ein neues ersetzt ?
 
2. Warum scheiterte ebenso das sozialistische System der "DDR" ?
 
3. Wie kam es zum Sieg von "1001" ?
 
4. Wie beurteilen Sie das jetzt bestehende System ?
 
          
                                                  Viel Glück
                                                  Prof. Guters
 
 
Das konnte ich in- und auswendig. In der vierten Frage war noch meine eigene Meinung gefragt. Da konnte man wohl nichts falsch machen.
Ich schrieb:
 
"4. Das System "1001" ist demokratisch. Alle 4 Jahre finden Wahlen statt. Die führende "1" wählt seine 1000 Mitregierenden des Landes und der Städte. Diese 1000 wählen das Volk. Insofern ist wohl nichts an diesem System auszusetzen ..."
 
                                                *
 
" ... gibt es Probleme, die unverkennbar sind: die fortschreitende Verarmung der Bevölkerung, die Anzahl der Morde in unserem Land, nicht zu vergessen die Raubzüge der umherziehenden Unterschichten. Außerdem ..."
"Soll ich weiterlesen?" Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, es war Guters. Ich wußte nicht, wie lange ich hier schon war - 2, 3, 5 Tage ? Oder waren es nur Stunden ? Meine Beine spürte ich nicht mehr, meinen rechten Arm konnte ich nicht mehr bewegen, vielleicht war er gebrochen, ich weiß es nicht. Guters sprach zu mir im sanftem Ton: "Ich glaube, Sie haben eingesehen, dass Sie einen Fehler gemacht haben. Ich glaube wohl." Und schnell fügte er hinzu: "...Oder?" Ich blickte mich um. Ein Keller. Jetzt konnte ich mich -teilweise- wieder an etwas erinnern. Man führte mich aus meiner Wohnung ab und schleppte mich in dieses Gebäude - dem Ministerium für Erhaltung des inneren Friedens. Irgendetwas hatten sie mir vorgelesen - eine Anklageschrift. "Undemokratisches Denken" wurde mir vorgeworfen. Guters beobachtete mich: "Trotz Ihres guten Willens, denen wir Ihnen doch nicht absprechen möchten, brauchen Sie eine Strafe ! Wir haben einen Urlaub für Sie arrangiert." Ich konnte weder sprechen noch denken. "Sie fahren zum verlassenen Kontinent." Er lächelte freundlich. "Das machen wir öfter mit solchen Leuten - aber keine Angst." Sein Tonfall wurde tröstend. "Die Überlebensrate von denen lag, nach unseren Statistiken, bei 10 % nach 3 Jahren. Und Sie wissen ja: Nach 5 Jahren dürfen Sie zurück." Er schaute auf seine Uhr . "So, jetzt habe ich aber keine Zeit mehr. Ich hoffe wir sehen uns wieder. Leben Sie wohl! " Guters verbeugte sich fast vor mir und ging lächelnd heraus.
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Siegmund Natschke).
Der Beitrag wurde von Siegmund Natschke auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Siegmund Natschke als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Tagebuch "Nr. 13" von Brigitte Wenzel



Lebensgeschichte, Erwartungen und Träume waren bisher planbar bis an einen bestimmten Punkt…

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Science-Fiction" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Siegmund Natschke

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Zauberer von Siegmund Natschke (Spannende Geschichten)
"Strg+Alt+Entf" von Johannes Schlögl (Science-Fiction)
Frankreich sollte ein neuer Anfang sein...Teil.3. von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen