Silke Bork

Der Weltenbummler (für Gundi)

 

Die blaue Latzhose war abgewetzt, das weiße T-Shirt am Kragen eingerissen. Schuhe hatte er nie getragen. Die linke Augenhöhle war leer. Das zugehörige braune Glasauge trug er in der Brusttasche seiner Latzhose. Sein rechtes Auge drohte auch bald heraus zu fallen. Doch er sah trotzdem gut, behauptete er zumindest. Lächelnd. Er lächelte immer. Dabei wirkte die leere Augenhöhle wie ein zusammen gekniffenes Auge. Als würde er beim Lächeln schelmisch zwinkern. Er duftete nach Fernweh. Nach weiten Savannen, Schnee bedeckten Gipfeln, nach tropischen Inseln, einsamen Sandstränden, türkisfarbenem Meer. Er hatte viele Orte gesehen. Er hatte viele Namen. In Afrika hieß er "Polepole", in Südostasien "Same same", in Australien "VB". Aber eigentlich hieß er einfach nur "Der Weltenbummler".

Männer besitzen keine Stofftiere. Höchstens als Kind. Aber selbst da doch mehr Spielzeugautos. Trotzdem hatte Finn ein Stofftier, obwohl er längst kein Kind mehr war. Oder doch. Tief in seinem Innern war er immer noch der kleine Junge, manchmal jedenfalls. Huckleberry Finn. Das hatte seine Freundin zumindest gemeint. Es hatte nicht begeistert geklungen. Sie war es auch, die ihm zum Abschied den Weltenbummler geschenkt hatte. Damals, als er das Studium geschmissen hatte. Als er alles geschmissen hatte und aufgebrochen war. Ja, wohin eigentlich? Um was zu finden? Er wusste es nicht mehr. Er hatte sie seitdem nie wieder gesehen. Aber der Weltenbummler war stets bei ihm und begleitete ihn. Hing immer außen an der Schnalle des kleinen Rucksacks, den er stets bei sich trug.

Bei den Australiern hat es ihnen gefallen. Waren immer freundlich und gut gelaunt. Klemmten sich ihre Bodyboards unter den Arm und sprangen ins Meer. Veranstalteten Barbecues, wo immer offenes Feuer erlaubt war. Spendierten großzügig das eine oder andere Bier. Victoria Bitter oder VB, wie sie es nannten. Der Weltenbummler war immer mit dabei. Begleitete ihn durch das flirrende, rote Outback bis zum Uluru. Hochgestiegen sind sie nicht. Aus Respekt, darin waren sie sich einig. Saßen zusammen an der Oper in Sydney, die ihnen aus der Nähe so gar nicht mehr gefallen wollte. Darin waren sie sich auch einig. Fuhren gemeinsam die Ostküste hoch mit John, dem Aborigine, der so viele Geschichten zu erzählen wusste.

In Saigon hätte Finn um ein Haar seinen kleinen Rucksack in einem Cyclo vergessen. Völlig übermüdet und reizüberflutet. So viele Mopeds, so viele Menschen. Der Geruch von Räucherstäbchen. Dort hatte der Weltenbummler auch sein linkes Auge eingebüßt. Zum Glück fand Finn es auf dem Boden wieder. Steckte es ihm in die Brusttasche. Fortan war es sein „inneres Auge“ und funktionierte besser als zuvor. Saigon. Erst spät nachts kehrte Ruhe ein in der kleinen Straße mit den vielen kleinen Backpackerhotels. Doch mitten in der Nacht wurden sie stets aufs Neue geweckt von dem Jungen, der auf der Straße pho verkaufte. Er schlug zwei Metallstücke gegeneinander, um auf sich aufmerksam zu machen. Ring-ding-ding, ring-ding-ding. Unermüdlich. Sie wollten keine Suppe essen, schliefen stattdessen weiter bis kurz vor Sonnenaufgang. Dann öffnete der CD-Laden gegenüber und beschallte die Straße mit dröhnender Musik. Die Nacht war zu Ende. Vietnam hat ihnen gefallen, darin waren sie sich einig.

Und immer wieder lange Busfahrten. Vorbei an Tempeln, Pagoden und Reisfeldern, durch kleine Dörfer und das Mekong-Delta. Gemeinsam bestaunten sie die Tempel von Angkor Wat. Gemeinsam staunten sie darüber, wie viele Schlaglöcher eine Straße haben kann und wie lange man für 150 Kilometer benötigen kann. Wie lange ein Grenzübertritt dauern kann. In brütender Hitze. Dass der Mekong an einer bestimmten Stelle in der Regenzeit 14 km breit werden kann und es dort einen Ort namens Si Phan Don gibt. „Viertausend Inseln“. Das hatten sie im Reiseführer gelesen. Aber in Wirklichkeit war es dort noch viel schöner, als im Buch beschrieben. Kein Lärm, freundliche Menschen, kein elektrischer Strom. Nur der ruhig vorüber ziehende Mekong-Strom. Doch, Laos und Kambodscha würden ihnen unvergesslich bleiben, darin waren sie sie sich einig.

Bangkok. Unzählige Autos, Straßen und Menschen. Verkehrslärm, Verkehrsstaus, Autoabgase. Altehrwürdige Tempel, moderne Konsumtempel, Wolkenkratzer und Hochbahnen. Dazwischen Garküchen, fliegende Händler, der Geruch von Räucherstäbchen. Eine Frau blieb vor ihrem Tisch stehen. Sie trug eine orangefarbene Nemo-Mütze und hielt noch mehr davon in ihrer Hand. Sie lachten und Finn kaufte ihr eine ab. Die Frau lächelte strahlend zurück. Bangkok. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und doch waren sie froh, als sie der Stadt entkamen. Sie wussten, dass sie zurückkehren würden.
Im Süden zogen sie gemeinsam von einer Insel zur nächsten. Heute Robinson Crusoe an einem verlassenen Strand, morgen auf Shoppingtour in einem Touristenort. Und abends im Rotlichtviertel, Sextouristen gucken. Sie haben viel gelacht. In einem Souvenirladen kaufte Finn sich ein T-Shirt. Quer über der Brust stand „Same same …“. Auf der Rückseite: „… But different“. Der Spruch, der sich wie ein roter Faden durch ihre Reise durch Südostasien zog. Thailand hat ihnen gefallen, darin waren sie sie sich einig.

Aber auch Afrika hat ihnen gefallen. Auch wenn das matatu wieder hemmungslos mit Menschen voll gestopft wurde und eine vermeintlich kurze Fahrt wieder Stunden dauerte. Polepole, langsam, sagten die Kenyaner lachend. Gemeinsam stiegen sie auf den Kilimanjaro, balancierten auf dem Äquator, hörten bei Nacht die Löwen brüllen, die Grillen zirpen. Der Geruch von Holzkohle, überall, selbst in Nairobi. Einer der Busse, in dem sie durch das Rift Valley fuhren, war voller Massai. Sie waren in rote Tücher und rot karierte Decken gehüllt. Ihre Ohrläppchen waren grotesk in die Länge gezogen. Einer
hatte eine Filmdose hindurch gesteckt. Er benutzte sie für die Münzen, mit denen er sein Ticket bezahlte. In der Hand hielt er ein Handy, zu seinen Füßen lag eine Ziege.
Am Lake Tanganyika stand im Morgengrauen ein Junge auf einem Stein und angelte. Der See war ganz glatt. Der Morgennebel tauchte die Bergkette am anderen Ufer in bläuliches Licht. Dort begann der Kongo.

Schließlich erreichten sie Südafrika, das Kap, das Ende der Welt. EIN Ende der Welt zumindest, wie sie inzwischen wussten. Eines der schönsten, darin waren sie sie sich einig. Sogar Pinguine gab es. Und sie bestiegen den Tafelberg. Vor allem aber lernten sie die kleine Hope kennen. Sie war gerade mal fünf Jahre, hat große, schwarze Augen und ein unwiderstehliches Lächeln. Das Haar war in kleine Zöpfchen geflochten, die lustig in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden. Ihr T-Shirt schien aus mehr Löchern als Stoff zu bestehen. Sie lebte auf der Straße. Der Weltenbummler hat ihr sofort gefallen.

Die ehemals blaue Latzhose ist abgewetzt, das einst weiße T-Shirt am Kragen eingerissen. Der rötliche Staub Afrikas hat ihn eingefärbt. Er trägt die Farben Afrikas. Schuhe hat er sowieso nie getragen. Die linke Augenhöhle ist leer. Das zugehörige braune Glasauge trägt er in der Brusttasche seiner Latzhose. Sein rechtes Auge droht auch bald heraus zu fallen. Doch er sieht trotzdem gut, behauptet er zumindest. Lächelnd. Er lächelt immer. Besonders dann, wenn Hope lacht. Dabei wirkt die leere Augenhöhle wie ein zusammen gekniffenes Auge. Als würde er ihr schelmisch zuzwinkern. Er duftet noch leise nach Fernweh. Nach weiten Savannen, Schnee bedeckten Gipfeln, nach tropischen Inseln, einsamen Sandstränden, türkisfarbenem Meer. Doch inzwischen mehr nach dem Geruch der Straße. Er hat viele Orte gesehen. Er hat viele Namen. Doch eigentlich heißt er einfach nur Der Weltenbummler. Finn ist weiter gereist. Hoffentlich findet er, was er sucht. Der Weltenbummler ist bei Hope geblieben. Doch seine Reise ist noch nicht zu Ende. Jetzt begeleitet er sie auf ihrer Reise. Versucht, ein kleines Mädchen glücklich zu machen.

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Silke Bork, 2006
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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