Volker Schopf

Lena sucht den Sonnenaufgang

 

Die großen Wanderungen hatten noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, als auf Mesana, einem kleinen Planeten fern der üblichen Handelsruten, weit draußen in einem der sanft gebogenen Spiralarme der Solfanagalaxis Lejas Sehnsucht täglich unerträglicher wurde. Es verging kaum ein Tag, außer dunkle Regenwolken bevölkerten den Himmel, an dem sie nicht lange vor Sonnenaufgang aus dem Bett schlüpfte und, nur mit ihrem Schlafanzug bekleidet, am Fenster stand, um den roten Glutball in der Ferne auftauchen zu sehen. Gemächlich, so als hätte ihre geliebte Sonne noch gut ein Stündchen schlafen können, kletterte sie höher und höher ihrem Zenit entgegen und veränderte dabei kaum merklich ihr Äußeres. Nur wenig später musste Leja die Augen schließen, so hell und goldgelb strahlte sie jetzt auf das Dorf Feldheim herab, in dem sie seit ihrer Geburt lebte.

Leja seufzte tief und lang anhaltend. „Ach könnte ich doch zu jenem geheimnisvollen Ort gehen, an dem die Sonne aufgeht“, flüsterte sie wehmütig und schloss das Fenster. Sie kleidete sich für die Schule an und weil es noch ein wenig Zeit bis zum Frühstück war, kauerte sie sich auf dem Fenstersims zusammen und blickte über die bunten Dächer der Nachbarhäuser hinweg, vorbei an dem Getreideturm mit seiner windschiefen Spitze, der am Rande des Dorfes Wind und Wetter trotzte. Schon seit Leja denken konnte, überfiel sie zuweilen diese sonderbare Sehnsucht. Wenn sie beim Vater hinten auf dem Ochsenkarren mitfahren durfte und am Wegesrand die alte Scheune vom knurrenden Waldbauern auftauchte, dann wünschte sich Leja dort mit aller Macht hin, ohne selbst den Grund dafür zu kennen. Oder letzte Woche, als sie die Mutter ins Nachbardorf zu der Schneiderin begleitete und sie an der Pferdekoppel vorüber kamen, da glaubte sie, ihr Herz müsste in tausend Stücke zerspringen, wenn sie jetzt nicht zu den trinkenden Pferden an den Trog konnte. Es war, als riefe eine längst vergangene Zeit ihren Namen. So ging es Leja immer und immer wieder bei halb zerfallenen Gebäuden, Baumgruppen, ja allerlei Gelegenheiten, und mit jedem Jahr, das ereignislos verstrich, wuchs ihre Sehnsucht nach jenen fernen, aus früheren Zeiten stammenden Orten. Doch über all den rätselhaften Orten, die an ihrem kleinen Herzen zogen und lockten, thronte der Wunsch, den Ort des Sonnenaufgangs zu besuchen. Dieser große leuchtende Ball, der so viel Wärme verströmte und das oft bedrohliche Dunkel mit den drohenden Geräuschen, seinen uneinsehbaren Ecken, in denen ihre Fantasie die schrecklichsten Ungeheuer vermutete, vertrieb und mit strahlendem Licht füllte, dass Lejas Angst schnell wie der herbstliche Sturmwind verflog. Mit einem letzten Blick auf die Sonne, in dem sich Sehnsucht und Trauer zu gleichen Teilen mischten, verließ sie ihre Kammer und ging in die Küche hinab.

„Endlich, du Langschläfer!“, begrüßte sie ihre Mutter lächelnd und goss ihr kuhwarme Milch ein. „Ich bin schon lange wach,“ verteidigte sich Leja, „und habe der Sonne beim Aufstehen zugesehen.“ „Du und deine Sonne!“- „Irgendwann besuche ich sie, Mutter“, antwortete sie trotzig, trank hastig ihre Milch leer, nahm sich ein dickes Stück Honigkuchen und stand auf. „Vergiss deine Schulsachen nicht!“- „Nein!“, und ehe ihre Mutter noch etwas sagen konnte, war Leja aus dem Haus. Die Schule verging wie im Flug. Leja war eine gute Schülerin und was sie nicht wusste oder nicht auf das erste Mal verstand, erklärte Frau Sommerwald geduldig und mit Unterstützung ihres gesamten Körpers. Jeder Muskel trug seinen Teil dazu bei, ja, aus jeder Pore ihrer alabasterweißen Haut schien das Wissen nur so zu sprudeln, und bevor die lebhafte Buntheit ihrer Ausführungen den Kopf zu sprengen drohte, ebbte der Strom ihrer Fakten ab und Leja hatte begriffen und nickte dankbar.

Nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben spielte Leja mit den Nachbarskindern, bis ihre geliebte Sonne, müde vom langen Arbeitstag, sich in ihr fernes Bett sinken ließ. Dann wurde es auch für sie höchste Zeit, und nachdem sie ihren Eltern eine gute Nacht gewünscht hatte, stieg sie die schmale Holztreppe zu ihrem Zimmer hinauf und wenig später träumte sie von ihrer großen Reise zu dem wundersamen Ort, an dem die Sonne ihre Nacht verbrachte, ehe sie am Morgen ausgeruht ihr Tagwerk von neuem begann. Manchmal lag sie auch noch geraume Zeit auf dem Rücken und in diesen stillen Momenten, wo sie den Träumen bereits näher stand als dem aufgehenden Mond mit seinem bleichen Gesicht, da wünschte sie sich an den Ort des Sonnenaufgangs. „Dort“, so dachte Lena, „muss der wunderschönste Ort sein, den man sich überhaupt vorstellen kann.“ Und in ihrer Fantasie tummelten sich dort allerlei Fabeltiere und Feen, ja, liebliche Feen würden sie begrüßen und mit ihr den Aufgang der Sonne beobachten. Täglich malte sie den geheimnisvollen, in ihren Augen nur wenige Tagesreisen entfernten Ort in farbenprächtigerer Gestalt. So schlief sie ein und ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte der Traum. Dann lächelte Leja glücklich im Schlaf und drückte ihr Kuscheltier noch fester an die Wange.

So vergingen ein Jahr und ein Tag und gegen Abend verdunkelte sich der Himmel. Ein einzelner verwaister Blitz teilte den Himmel in zwei Hälften und, als habe es nur dieses Zeichens bedurft, setzte starker Regen ein. Als Leja am nächsten Morgen aus dem Bett sprang und ans Fenster eilte, konnte sie vor lauter Dunkelheit kaum den Baum unweit ihres Fensters erkennen. Kleine Seen hatten sich über Nacht gebildet, auf denen dicke Tropfen akrobatische Kunststücke vollführten. Doch dafür hatte Leja im Augenblick nicht das geringste Interesse. Sie machte sich Sorgen um ihre Sonne und mit jedem Tag, den der Regen ohne Unterlass niederprasselte, wurde sie größer, bis Leja wirklich Angst um sie hatte. „Wenn sie auch morgen nicht aufgeht, dann muss ich ihr zu Hilfe kommen. Dann“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, „ist etwas Schlimmes passiert.“ In dieser Nacht wachte Leja alle Stunde auf, hörte den Regen auf das Dach trommeln und sank erneut in einen unruhigen Schlummer. Böse Träume, in denen sie sich durch dunkle Wälder tastete, ohne zu wissen, wo sie sich befand und wohin die Sonne verschwunden sein könnte. So ging es bis zum Morgen, der eigentlich keiner war, weil die Sonne auch an diesem elften Tag hintereinander nicht am Himmel erschien.

Jetzt gab es für Leja kein Halten mehr. Sie packte schnell ein paar saubere Kleider in ihre Schultasche und schlich, mit den Schuhen in der Hand, die Treppe hinunter. In der Küche nahm sie noch ein paar Äpfel als Wegzehrung mit, und nachdem sie leise in ihre Stiefel geschlüpft und den Regenmantel übergestreift hatte, verließ sie mit einem flauen Gefühl im Magen das Haus. „Was wohl Vater und Mutter dazu sagen werden?“ Doch wenn sie das der Mutter erst einmal erklärt hatte, so wie Frau Sommerwald es immer tat, dann würde sie sicherlich nicht mehr böse auf sie sein und auch der Vater würde sich beruhigen und stolz auf seine so mutige Tochter sein, zumal dann ja auch die Sonne wieder scheinen würde. Außerdem würde sie bald zurück sein. Der Ort des Sonnenaufgangs schien zwar weit entfernt, doch Leja war eine gute Läuferin und hoffte in spätestens drei, vier Tagen wieder daheim zu sein.

Tapfer kämpfte sich Leja durch den kalten Regen und schon bald blieb Waldheim hinter ihr zurück. Wie lange sie so dem grauen Band des Weges gefolgt war, wusste sie später nicht zu sagen und erst als ihr Magen bedrohlich zu grummeln anfing, legte sie eine kurze Rast ein. Geschützt durch das dichte Blätterdach einer uralten Eiche, aß sie zwei Äpfel, schüttelte ihren Regenmantel aus und lief dann weiter in die Richtung, wo die Sonne täglich ihren Arbeitstag begann. Plötzlich musste sie an den leckeren Honigkuchen ihrer Mutter denken. Sie war hungrig und zudem so müde wie seit letzte Weihnachten nicht mehr, als sie vor lauter Aufregung drei Tage hintereinander nicht schlafen konnte. Zum Glück tauchte kurz darauf eine winzige Hütte auf, deren morsche Tür sich mit einiger Anstrengung zumindest soweit öffnen ließ, dass Leja sich hindurchzwängen konnte. Der Duft von Heu stieg ihr in die Nase und ließ sie mehrmals niesen. Erschöpft legte sie sich auf den Boden und keine drei Herzschläge später war sie bereits eingeschlafen.

Traumlos verstrich die erste Nacht, in der sie nicht zu Hause in ihrem Bett schlief. Müde rieb sich Leja die Augen; nichts hatte sich geändert. Dunkle Regenwolken hielten die Sonne gefangen und so wie es aussah, kümmerte es keinen von den Erwachsenen. Sie hockten in den warmen Stuben, verließen sie nur kurz, um die Tiere zu versorgen und warteten auf besseres Wetter. „Wenn sie das nur wüssten“, dachte Leja, „dann würden sie sofort mit mir gemeinsam die Sonne aus den Fängen der Dunkelheit befreien. Und dann würde sie wieder in ihrem wundervollen Glanz am Himmel erstrahlen und ihr Herz erwärmen.“ Leja musste weinen, und nachdem ihr Mut wiedergekehrt war, spürte sie neue Hoffnung in sich aufkeimen. „Ich werde es schaffen! Auch ohne Erwachsene.“ Sie aß einen Apfel und verließ voller Zuversicht die schützende Hütte.

Den gesamten Tag über stürzte das Wasser auf das Land herab, als leere ein Riese seinen Badezuber aus – langsam und mit viel Vergnügen. Leja fühlte sich nicht wohl, und als sie gegen Nachmittag mit ihrem letzten Apfel den schlimmsten Hunger vertrieb, sank ihr Mut und mit jedem Punkt, den er sich dem Nullpunkt näherte, wuchs ihre Verzweiflung. „Nein!“, sagte Leja bestimmt in einem Ton, der alle Zweifel vertrieb. „Es kann nicht mehr weit sein bis zu dem Ort, an dem die Sonne aufgeht. Wenn ich sie von meinem Fenster aus beobachte – es können nicht mehr als zwei, drei Tage Fußmarsch sein.“

„Haha! Sie sucht den Ort, an dem die Sonne aufgeht. Haha! Was für ein dummes Kind!“ Leja blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Ja, sie wagte kaum zu atmen. Ganz sanft sog sie die feuchte Luft in ihre bebenden Lungen und blies sie ebenso behutsam wieder aus. „Dummes Kind! Dummes Kind!“, höhnte die Stimme, und so sehr Leja die Dunkelheit nach dem Fremden ausspähte, er blieb verborgen. Plötzlich hörte sie Flügelschlag, der rasch näher kam, und ehe Leja reagieren konnte, landete ein großer schwarzer Vogel auf ihrer Schulter. Sie schrie auf, schüttelte sich und ließ dabei den Vogel keine Sekunde aus ihren weit aufgerissenen Augen.

„Geh weg!“ -„Ist das eine Begrüßung?“, antwortete der schwere Federball in einem etwas beleidigten Tonfall, während er sorgfältig seine Flügel zusammenfaltete und auf dem Rücken verstaute. „Lassen Sie mich in Ruhe, wer immer Sie sind! Außerdem können Vögel nicht reden.“ Leja stampfte zur Bekräftigung ihrer Worte mit dem Fuß auf.

„Vielleicht bin ich ein verwunschener Königssohn.“ Der Rabe schien Leja belustigt zu betrachten, obwohl Raben - und das weiß auf Mesana jedes Kind- keinen für Menschen deutbaren Gesichtsausdruck besitzen. „Soll ich Sie jetzt küssen?“, erwiderte Leja immer noch verärgert über den Schrecken, den ihr der seltsame Rabe eingeflößt hatte. „Ich weiß nicht – nein, eigentlich nicht. Du suchst also den Ort an dem die Sonne aufgeht?“ Leja nickte und wurde dann plötzlich ganz traurig: „Ja, aber … ich müsste ihn längst erreicht haben. Von meinem Fenster aus gesehen ging sie gleich hinter der kleinen Lichtung auf.“ Der Rabe schüttelte mitleidig den Kopf. „Hast du in der Schule den überhaupt nichts gelernt?“ -„Doch!“, antwortete Leja trotzig und berichtete dem Raben ausführlich von ihrer Lehrerin, Frau Sommerwald, und den vielen Dingen, die sie bereits im Unterricht gehört hatten.

„Unnützes Zeug! Wen interessiert schon, wie viel zwei plus zwei Tafeln Schokolade sind! Kein Mensch isst gewöhnlich mehr als eine Tafel, und wenn doch, so ist er dumm und lernt die Aufgabe ohnehin nicht.“- „Weshalb ist er dann dumm?“, wollte Leja wissen und blickte den Raben neugierig an. Dabei vergaß sie sogar den fürchterlichen Regen, der nach wie vor vom Himmel auf sie hernieder prasselte. „Schokolade macht dick. Sieh mich an! Ich bin rank und schlank und weshalb?“ -„Weil Sie keine Schokolade essen?“ -„Nein! Weil ich alles in Maßen genieße. Außerdem gehst du in die falsche Richtung. Die Sonne geht im Norden auf.“- „Aber das kann nicht sein“, widersprach Leja energisch. „Ich bin immer gerade aus gegangen.“ -„Eine leichte Biegung ergibt irgendwann auch einen Kreis“, belehrte sie der Rabe und reckte den Schnabel in die Höhe. „Sie können mir viel erzählen. Wer von uns geht denn in die Schule?“ -„Pah! Schule. Die wichtigsten Dinge des Lebens lernt man nicht in der Schule. Wie verhält es sich zum Beispiel mit deiner Suche nach dem Ort des Sonnenaufgangs? Weshalb willst du denn dort hin?“- „Ich muss die Sonne befreien.“- „Du willst was?“ krächzte der Rabe erheitert. „Die Sonne aus den Klauen der Dunkelheit befreien, damit sie wieder ihren wärmenden Glanz versprühen kann.“- „Ich sage es ja – Schule! Nur Blödsinn wird den Kindern dort beigebracht. Du kannst die Sonne nicht befreien.“ -„Und warum nicht?“ Leja blieb stehen und starrte den Raben mit bedrohlich funkelnden Augen an. „Weil niemand sie gefangen hält“, antwortete der Rabe gedehnt in besserwisserischem Tonfall. „Aha! Und woher wissen Sie das?“ -„Ich komme viel herum und selbst wenn ich viele Tage in dieselbe Richtung fliege, nähere ich mich der Sonne um keinen Flügelschlag.“- „Sie lügen!“- „Weshalb sollte ich dich belügen?“ Der Rabe zog sich entrüstet bis zum äußersten Punkt ihrer Schulter zurück. „Ich und lügen!“, krähte er beleidigt vor sich hin.

„Sie könnten ein Freund der Bösen sein, die meine geliebte Sonne von ihrer täglichen Wanderung über den Himmel abhalten.“- „Kein Mensch und keine noch so bösen Geister halten deine Sonne von irgendetwas ab.“ Der Rabe schüttelte erneut verwundert den Kopf. „Lehrt man euch in der Schule denn überhaupt nichts? Wie viel Uhr ist es jetzt?“- „Keine Ahnung“, antwortete Leja und zuckte ungewollt mit den Schultern, so dass der Rabe einen kleinen Hüpfer vollführte. „He! Kannst du deine Glieder nicht ruhig halten? Die Sonne steht jetzt ungefähr da“, meinte der Rabe und deutete mit dem Schnabel auf einen Punkt am Himmel, der sich durch nichts von irgend einem anderen Ort dort oben unterschied. „Zumindest meinem Zeitgefühl nach.“ Leja spähte angestrengt in den Himmel. „Wäre sie dort oben, dann wäre es jetzt heller Tag.“- „Großer Vogel der Unendlichkeit!“, stöhnte der Rabe verzweifelt über so viel Unwissenheit: „Die dunklen Wolken verhindern, dass ihr Licht bis zu uns scheint. Trotzdem ist sie da. Dinge lösen sich nicht in Nichts auf oder werden gleich gefangen gehalten, nur weil wir sie nicht sehen oder gerade beobachten können. Dreh den Kopf in die andere Richtung!“- „Warum?“ -„Frage nicht, tu es!“ Leja wandte den Kopf von dem Raben ab. „Und,?Bin ich jetzt verschwunden? Habe ich zu existieren aufgehört, wie es in wissenschaftlichen Kreisen heißt?“- „Zumindest kann ich Sie hören. Meine Sonne ist also wirklich dort oben?“ -„Ja! Und wenn der Regen irgendwann aufhört, was er hoffentlich bald tut, dann wirst du sehen, dass deine Furcht umsonst und die Sonne immer an ihrem gewohnten Platz war. Niemand hält sie gefangen.“- „Ich weiß nicht. Heute ist erst der zweite Tag … morgen bin ich bestimmt bei ihr. Es kann nicht mehr weit sein.“ -„Wie du willst! Aber gib mir hinterher nicht die Schuld, wenn du dir bei diesem Wetter einen gehörigen Schnupfen geholt hast.“

Leja ging unbeirrt weiter und blieb geraume Zeit später erneut stehen. „Was meinten Sie, als Sie sagten, dass ich in die falsche Richtung gehe?“ -„Du marschierst nach Osten. Norden liegt dort! Du läufst im Kreis.“- „Im Kreis?“-„ Ja! Selbst wenn du immer nach Norden gehen würdest, läufst du im Kreis und bist irgendwann wieder an dem Ort, von dem du losgewandert bist.“ „Woher wollen Sie das wissen? Ein Vogel …“- „Raben sind intelligente Vögel“, unterbrach er sie, „und über das Phänomen der Kreisläufe in der Natur gibt es unzählige Bücher“, dozierte er. „Dann bin ich Ihrer Meinung nach, bald wieder zu Hause?“ fasste Leja seine Ausführungen folgerichtig zusammen. „Nicht gerade bald, aber letztlich schon. Ja!“ -„Ich muss über Ihre Worte nachdenken. Und ich habe Hunger … müde bin ich zudem auch.“ -„Dort, bei dem gebogenen Baum, gibt es eine Hütte. Nichts Besonderes. Das Dach ist etwas kaputt und überall liegen verrostete Gerätschaften herum. Aber ansonsten ist es ein angenehmer Ort zum Schlafen.“

Wenig später erreichten beide die Hütte, und nachdem sich Leja mit knurrendem Magen in der saubersten Ecke bequem gemacht hatte, kehrte der Rabe mit einer Birne im Schnabel zurück. „Mehr war in der kurzen Zeit nicht zu finden“, meinte er entschuldigend und ließ sich auf einem alten Pflug nieder. „Danke, Herr Rabe.“- „Laback. Laback, der Jüngere.“ „Wer backt?“ stieß Leja zwischen zwei Bissen hervor. „Laback! Mein Name.“- „Ach so. Hmm“ köstlich.“- „Entschuldige mich“, sagte Laback sichtlich gekränkt und zog sich auf einen Balken unmittelbar unter dem Dach zurück. „Nicht beleidigt sein, Laback, der Klügere … es ist nur, ich meine … mein Hunger … es tut mir aufrichtig leid.“- „Pah! Außerdem heißt es „der Jüngere“ – obwohl, deine Version nicht schlecht klingt. Laback, der Klügere... zergeht wie Eis auf der Zunge... Laback, der Klügere.“

Die letzten Worte hatte Leja bereits nicht mehr gehört. Tief und fest schlief sie, während draußen der Regen aufhörte und ein winziger Bereich in der bisher so dichten Wolkendecke aufbrach. Dann, als sie mitten in der Nacht plötzlich aufwachte und einen verschlafenen Blick durch eines der zahlreichen Löchere im Dach nach draußen warf, sah sie, umrahmt von schwarzen Wolken, einen einzelnen hellen Stern am Nachthimmel funkeln. Bevor sie jedoch weiter über ihre Entdeckung nachdenken konnte, war sie bereits wieder ins Reich der Träume gesunken. Dort jedoch lebte der flüchtige Eindruck fort und aus dem zuvor verwaisten Stern wurden zwei, dann drei, und kurze Zeit später strahlte der Nachthimmel so, wie in Leja von Waldheim her in Erinnerung hatte. Der wuchtige Karren mit seinem hellen Stern an der Deichsel und links von ihm Romus, der Weinbauer, mit seiner Kanne und … Leja erwachte, sprang auf die Füße und stürmte ins Freie. Ihr wundervoller Traum setzte sich fort, so, als sei sie nie aufgewacht. Der gesamte Himmel erstrahlte im Licht der vielen Sterne und wurde einzig von Lejas Lachen übertroffen. Sie drehte sich übermütig im Kreis, und wie zufällig fiel ihr Blick auf den unmerklichen roten Schimmer am fernen Horizont. „Das kann nicht wahr sein!“, rief sie voller Vorfreude und bemerkte dabei nicht, das der Rabe, aufgeschreckt durch ihr Geschrei, protestierend auf ihrer Schulter Platz nahm. „Was kann nicht wahr sein?“- „Die Sonne! Meine geliebte Sonne … Sehen Sie den roten Schimmer dort?“- „Ja, und? Er beweist nur, das du deinem Ziel keinen Schritt näher gekommen bist, wie ich dir voraussagte – ich, Laback, der Klügere.“

„Die Sonne! Die Sonne!“, jubelte Leja überglücklich und hüpfte wie ein Gummiball auf der Stelle, so dass Laback direkt ein wenig schwindelig wurde. Um sie herum wurde es schnell heller, und dann schob sich ein erster dünner Streifen des roten Glutballs über den Horizont. Schlagartig erstarrte Leja. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und spähte ungläubig in Richtung Sonnenaufgang. „Pick mich!“ -„Wie bitte?“- „ Bitte pick mich mit dem Schnabel!“- „Schön.“ -„Aua! Ich träume nicht! Dort, siehst du diesen Turm, mit der schiefen Spitze?“- „Ja, guter Schlafplatz. Nicht sehr geräumig, dafür ruhig. Weshalb fragst du?“- „Dort wohne ich! Das ist der Getreideturm von Waldheim“, plapperte sie aufgeregt, und plötzlich wurde Leja ganz traurig, als sie an ihre Eltern denken musste. „Sie machen sich bestimmt Sorgen“, dachte Leja bekümmert, und während die Sonne allmählich höher kletterte, fing sie bitterlich zu weinen an. „He! Was ist denn los? Die Sonne geht auf, alles ist gut und du weinst, als ob du einen See mit Wasser füllen müsstest.“ -„Meine Eltern. Ich bin einfach fortgegangen, ohne ihnen Bescheid zu sagen … Ich habe nur an die Sonne gedacht, und jetzt machen sie sich bestimmt schreckliche Sorgen um mich.“ -„Es wird schon nicht so schlimm werden, und wenn du erst wieder zu Hause bist …“, versuchte Laback sie zu trösten. „Das ist der schönste Sonnenaufgang, den ich bisher gesehen habe“, murmelte Leja mehr zu sich selbst als zu Laback.

Der gesamte Horizont erstrahlte in sämtlichen nur vorstellbaren Rottönen und hüllte die ferne Silhouette von Waldheim in einen überirdischen Glanz. „Direkt hinter meiner Heimat,“ bemerkte Leja laut und spürte schmerzhaft die Sehnsucht nach ihrem kleinen Dorf, den Eltern, Freundinnen, ja, selbst nach Frau Sommerwald. Laback, der in ihren Augen wie in einem offenen Buch lesen konnte, lächelte auf rabenhafte Art: „Nahe der Heimat ist alles am schönsten – selbst die Sonnenaufgänge. „Deshalb,“ so fuhr er schulmeisterlich fort, „ist Heimat und alles, was wir mit ihr verbinden, wundervoll und mit nichts vergleichbar.“

Erst als die Sonne hoch am Himmel stand, kehrte Leja mit ihren Gedanken in die Wirklichkeit und zu Laback zurück. „Ich muss nach Hause!“, rief sie und rannte überraschend los. Laback fiel nach hinten, und wäre er nicht als Vogel zur Welt gekommen, dann hätte er sich bei dem folgenden Sturz ernstlich verletzen können. So aber breitete er seine mächtigen Flügel aus, und mit wenigen Schlägen, saß er wieder fest, nahezu unverrückbar, auf Lejas Schulter. Spät in der Nacht, die Sonne hatte sich bereits vor Stunden schlafen gelegt, saßen Leja und Laback im Schutz einer Baumgruppe zusammen und redeten sich in den Schlaf.

Am Morgen begrüßte sie  Laback  mit frischem Obst, das er ganz in der Nähe von den Bäumen gerissen hatte, und so konnte sie gestärkt und mit nur leise knurrendem Magen das letzte Stück ihres Heimweges, ja, und ihres ersten großen Abenteuers in Angriff nehmen.

Heute ging die Sonne bereits ein gutes Stück hinter Waldheim auf, und durch weitschweifige Erklärungen des Raben begriff Leja, dass der Ort des Sonnenaufgangs nur sehr schwer zu erreichen ist, weil er wirklich weit, weit entfernt liegt. Doch für Leja- das wusste sie tief in ihrem vor lauter Aufregung kräftig pochenden Herzen- würde die Sonne, auch wenn sie unbemerkt hinter dichten Regenwolken verborgen ihren Weg beschritt, stets über ihrem Dorf aufgehen.

Gegen Nachmittag rannte Leja auf ihr Elternhaus zu, während der Rabe sich unbemerkt von ihrer Schulter löste und auf dem Gartenzaun Platz nahm. Überschwänglich wurde sie von Vater und Mutter begrüßt, und als die Freude über ihre gesunde Heimkehr langsam in berechtigte Schelte umschlug, konnte das ihre Freude nicht im Geringsten trüben.

Nachdem sie ihren schlimmsten Hunger gestillt und sämtliche Einzelheiten der vergangenen Tage ausführlich berichtet hatte, erinnerte sich  Leja  Labacks. Sie stand auf, lief zur Tür und winkte ihre Eltern zu sich. „Seht ihr, dort auf dem Zaun, das ist Laback, der Jüngere. Ein weiser Rabe und er kann sprechen. Hey, Laback! Komm zu mir!“- „Krah, Krah!“, krächzte der Rabe, flog auf und entschwand in Richtung der untergehenden Sonne.

 


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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