Nicole Scheidegger

Die Zugreise

Von Bahnhof zu Bahnhof, von einer Station zu anderen. Vom Depot bis zu Endstation und von der Endstation zum Depot ist der Zug auf seinen Geleisen unterwegs. Von Morgens früh bis spät in den Abend hinein. Unerschöpflich dampft die Lok durch die Welt immer auf der Suche nach neuen Orten, neuen Menschen, neuen Stationen. Es scheint ein sicherer Weg zu sein, denn der Zug wird von einer höheren Macht geleitet und auf den richtigen Weg geführt. Es wird dafür gesorgt, dass der Zug ordnungsgemäss funktioniert und nicht entgleist. Und doch werden nicht alle Züge von ihrem Schicksal verschont. Doch gibt es Züge die entgleisen, die sich nicht zurechtfinden können, den Weg aus den Augen verlieren und sich mühsam von Bahnhof zu Bahnhof schleppen. Müde Züge sind an jeder Ecke anzutreffen. Sie haben Mühe alle Mitfahrer zu tragen, da ihr Material vom alltäglichen Druck langsam nachgibt. Warum gelingt es nicht allen Zügen bis zur Endstation zu gelangen? Warum fehlt die tragende Kraft? Was macht diese Züge fahrunfähig?
Es sind die Umstände, welche über Erfolg und Scheitern eines Gefährtes bestimmen. Es ist die Umgebung, die den Zug prägt. Es sind die täglichen Passagiere, die ihre Spuren im Inneren des Zuges hinterlassen. Wenn man einen Zug pflegt und ihn zu erhalten versucht, wird er auch länger fahren können. Vernachlässigt man ihn, vergammelt er in seinem eigenen Elend und weiss sich selber nicht eher zu helfen. So werden fahrende Züge zu stehenden Zügen und stehende Züge zu totem Material, das die Geleise versperrt und die Züge, die darauf folgen ins Verderben stürzt. Ein Elend wird zum Elend vieler, denn die Züge haben ein verbindendes Glied, den Fahrplan. Jeder Zug hat einen vorgegebenen Fahrplan und hat zu einer gewissen Zeit an einem bestimmten Ort zu sein. Dennoch ist nicht alles von Anfang an bestimmt. Ein jeder Zug hat die Freiheit Weichen zu stellen und kann im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Richtung wählen, in welche er fahren möchte. Schlussendlich hat der Zug lediglich die Verantwortung, als Teil eines Systems zu funktionieren, so dass er die anderen Mitglieder dieser Gesellschaft nicht gefährdet oder ihnen mit seiner Fahrweise schadet. Sowohl ein rasender Zug als auch ein lahmer Zug werden aus dem Bund der Züge ausgeschlossen, da beide die Gemeinschaft aufhalten und die Ordnung zerstören. Sie landen auf dem Abstellgleis, unbrauchbar und verloren.
Doch auch funktionstüchtige Züge können verloren sein. Verloren in der eigenen Pflicht zu gehorchen und sich anzupassen. Vergessen in der Menge und der Vielfalt aller Züge, wo nur der Stärkste und Tüchtigste überlebt. Das Wichtigste ist aber, dass ein Zug am Ende seiner Fahrt, wann auch immer das Ende anzusiedeln ist, zurückblicken kann und seine zurückgelegte Fahrstrecke begutachten kann. Er soll die Stationen auf seinem Weg erkennen, sich an die Menschen erinnern, die bei ihm ein- und ausgestiegen sind. Wenn er in der Lage ist, all diese Dinge zu reflektieren und mit seinen eigenen Leistungen zufrieden ist, kann er erfüllt dem Ende entgegenrollen, in der Sicherheit anderen Zügen und Menschen etwas beigebracht zu haben und die Geschichte durch seine eigene Lebensgeschichte auf eine positive Weise beeinflusst zu haben. 

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