Monika Klemmstein

Meine Straße

Ich träumte heute nacht ein Bild. Wenn ich ein Maler wäre, würd ich's Dir malen. Oder wenn ich ein berühmter Fotograf wäre, könnt ich Dir ein riesiges Poster machen.
Doch ich bin nur ein Schreiberling. So laß mich's erzählen, mein Bild. Schließ einfach die Augen, hör mir zu und folge mir in mein Bild.

Es gibt da eine Straße ... meine Straße, meine Straße, die ich gehe. Sie ist lang und hat viele verschiedene Beläge.
Mal ist die Straße sandig wie ein Nordseestrand. Das Gehen ist mühsam. Der Wind treibt mir die staubigen Sandkörner ins Gesicht. Die Sandkörnchen unter den Augenlidern lassen die Augen tränen und trüben den Blick.

Dann ändert sich der Straßenbelag plötzlich. Der Sand ist wie weggefegt. Der Weg wird steinig und holprig. Kieselsteine, mal kleiner, mal größer, liegen im Weg. Zwischendurch baut sich auch schon mal ein richtig dicker Felsbrocken vor mir auf. Ich stolpere über die Kieselsteine, strauchele, kann mich gerade noch halten. Stoße mir an den dicken Felsbrocken, die sich vor mir auftürmen, die Knie auf.

Allmählich ändert sich der Weg. Er wird morastig und sumpfig. Die Schritte fallen schwer, die Füße versinken immer mehr im Morast. Nur langsam komme ich voran. Die Schuhe bleiben im Schlamm stecken.
Als ich denke "unmöglich, das schaffst du nicht", wird der Boden plötzlich grün. Als hätte jemand Grassamen ausgestreut, erscheint meine Straße in einem satten, duftenden Grün. Die Grashalme strecken sich gegen den Himmel.Tautropfen glänzen auf den starken Halmen und funkeln in der frühen Morgensonne.
Mit nackten Füßen schlurfe ich über den feuchten, glitzernden Tau. Aaaahh, tut das gut. Es kühlt die heiße Haut und die Blasen, die ich mir gelaufen hab. Die Wassertröpfchen perlen wie im Tanz auf meinen Zehen. Ich strecke mein Gesicht dem jungen Morgenrot entgegen und gehe weiter auf meiner Straße.

Meine Straße hat viele Wegbiegungen und Kurven. Am Straßenrand säumen viele Menschen meinen Weg.
An mancher Wegbiegung kommt einer aus der Menge am Straßenrand zu mir, begleitet mich ein Stück Weg und geht dann wieder zurück zum Straßenrand. Einige aber gehen auch den Weg mit mir. Einer davon bist Du.
Meinen sandigen Weg konntest Du nicht glattfegen. Doch Du hattest ein Taschentuch bei Dir. Ein Taschentuch, um mir den Staub und die Tränen aus den Augen zu wischen. Das war gut so.

Als der Weg dann steinig wurde, hast Du nicht die Steine aus dem Weg geräumt. Doch als ich über die Kiesel stolperte, war da Deine Hand, die mich auffangen konnte. Und als ich mir die Knie an den Felsbrocken aufstieß, hattest Du ein Pflaster, um die wunden Knie zu verbinden.

Und wenn die Schritte im Morast steckenblieben, konntest Du das Moor nicht freilegen, doch am Rand stehen. Am Rand stehen, die Hand ausstrecken, Mut machen. "Noch einen kleinen Schritt, kommt schon, das schaffst du."
Und das war richtig und gut so.

Und am Rand der taufeuchten Wiese, da hast Du Deine Schuhe in hohem Bogen hinter Dich geworfen, bist pfeifend und lachend diesen Weg mit mir gegangen.
Das ist schön.

Ich weiß nicht, wieviel Kurven und Biegungen meine Straße noch hat. Doch hinter jeder Biegung bist Du noch bei mir. Du gehst nicht zurück an den Straßenrand. Und das ist auch gut so.

Irgendwann ist das Bild dann fertig. Dann drückt einer auf den Auslöser und entwickelt unser Bild.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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