Joana Angelides

Der Tod auf den Schienen

 

Seit einiger Zeit, genau genommen, seit dem Moment, wo ich den Unfall in der U-Bahn miterleben mußte, habe ich das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Ich habe dauernd das Gefühl, dass jemand hinter mir steht, mit mir im Lift fährt oder neben mir über die Straße geht.

Ich drehe mich nun öfter schnell um, oder bleibe bei einer Auslage stehen um mein Spiegelbild darin zu betrachten, auch um zu sehen ob jemand hinter mir oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht und mich beobachtet.

Der Unfall vor 4 Wochen an einem Montag Morgen, geschah ohne Vorwarnung, ohne dass es irgendein Anzeichen dafür gab. Einige Augenblicke zuvor stand der Mann noch bewegungslos dicht neben mir und dann stürzte er plötzlich, die Arme wie zum Schutze vorgestreckt, nach vorne. Der Schrei, den er dabei ausstieß verfolgt mich nun in meinen Albträumen. Seine Aktenmappe flog in weitem Bogen auf die Schienen voraus und kurz, bevor der Zug ankam, lag sein Körper auf den Schienen und der Zug braust über ihn hinweg.

Das Kreischen der Bremsen, die nun einsetzenden Schreie der wartenden Menschen, höre ich noch immer bei Tag und besonders bei Nacht, in der Dunkelheit, wenn ich das Licht lösche.

Es spielt sich immer gleich ab. Zuerst höre ich den entsetzten Schrei des stürzenden Mannes und danach die Schreie der Menschen hinter mir.

 

Es ist immer der gleiche Ablauf. Ich stehe auf den Geleisen und starre in den dunklen Tunnel der U-Bahn. Ich höre den Zug aus der Dunkelheit kommen, er rast auf mich zu und überrollt mich. Er hat vorne eine große Uhr, die genau die Uhrzeit des Unfalles zeigt, 17.50h. Mein Schrei mischt sich mit den Schreien der Menge und dem Kreischen der Bremsen.

Ich wache Nacht für Nacht, schweißgebadet und nach Luft ringend, auf.

Zweimal wurde ich bereits zur Aussage auf das Polizeirevier vorgeladen. Jedesmal betrat ich es mit einem beklemmenden Gefühl.

 

Alle meine Eindrücke von diesem schrecklichen Erlebnis sind in meinem Unterbewußtsein vergraben, scheinbar will ich mich nicht mehr erinnern. Es genügen mir die Albträume, die ich jede Nacht habe.

Ob ich etwas bemerkt habe? Nein, ich habe nichts bemerkt, es geschah alles zu plötzlich.

Dann gehe ich wieder nach Hause.

 

Obwohl, da war eine Hand letzte Nacht in meinem Traum, die von rückwärts kommend in meinem Blickfeld auftauchte. Doch es war sicher nur eine Reflexion meiner Nerven, ich bildete mir das sicher nur ein. Aber die Uhr? Eine große goldene Uhr am Handgelenk einer gepflegten Hand mit einem Siegelring, sie zeigte 17,50h.

Je intensiver ich versuche mich daran zu erinnern, desto schneller verschwindet dieses Bild wieder im Nebel meiner Erinnerung. Es wurde eiskalt im Raum, Luft strich über mich hinweg, der Mann neben mir blickt, wie wir alle, in die Richtung des Zuges und fällt, und fällt und fällt und ich schreie und wache wieder auf.

Was hatte es mit dieser Uhr auf sich?

Und war da nicht auch dieser herbe, holzige Geruch in der Luft? Ein sehr intensiver Geruch, den ich sicher wieder erkennen würde. Die Erinnerung daran ließ mich aufwachen und ich mußte mich übergeben.

Ja, das war es! Dieser Geruch war in der Erinnerung haften geblieben und nun an die Oberfläche gekommen.

 

Ich werde morgen doch meine Aussage revidieren, diese langsam zurück kehrenden Bruchstücke aus meiner Erinnerung zu Protokoll geben. Dieser Mann mit der goldenen Uhr am Handgelenk und dem Siegelring nahm im Laufe des Tages immer mehr Gestalt an. Er trat aus der anonymen Masse der Fahrgäste deutlich heraus.

Es war jener Mann, der vor mir die Rolltreppe hinunter fuhr, fiel mir ein. Ja, ich sehe ihn nun ganz deutlich vor mir, zwar nur von rückwärts, aber doch deutlich. Er hatte schütteres dunkles Haar, trug einen leichten Mantel und hatte es eilig zum Bahnsteig zu kommen. Das fiel damals nicht sonderlich auf, da es fast alle Menschen im Bereich der U-Bahn eilig haben. Aber nun, so im nachhinein gewann es an Bedeutung für mich.

 

Irgendwie erleichtert trat ich heute Morgen meinen Weg zur Polizeistation an. Ich ordnete unterwegs meine Gedanken und Erinnerungen, um dann bei dem Gespräch nicht unsicher zu erscheinen.

Seit diesem Unfall mied ich die U-Bahnstation in der Nähe meiner Wohnung, sondern fuhr immer mit der weiter weg liegenden vorherigen Station.

War da nicht wieder jemand, der mich verfolgte? Die Angst war zu meinem ständigen Begleiter geworden. Wie immer blieb ich einige Mal bei Auslagen stehen, drehte mich plötzlich um oder blickte auf die gegenüber liegende Straßenseite.

Einige Male sah ich Männer, auf die meine Beschreibung paßte, doch es war unmöglich sie wirklich einzuordnen.

Ich war entschlossen, nun auf dem direkten Wege zur Polizeistation zu gehen, meine Aussage zu machen und die ganze Sache dann zu vergessen.

Es war der übliche Morgenverkehr, die Menschen eilten vorbei, stießen einander an und überholten sich gegenseitig. Nun war gerade ein Zug abgefahren und ich mußte auf den nächsten warten. Der Bahnsteig füllte sich rasch und das übliche Gedränge und Geschiebe setzte wieder ein.

Der kommende Zug schickte wie immer diesen kalten Luftstrom voraus und alle blickten gespannt in die Dunkelheit des Tunnels.

Da! Da war er wieder dieser herbe Geruch! Es würgte mich plötzlich in der Kehle, ich verspürte einen leichten Druck im Rücken, stolperte und wurde nach vorne gestoßen.

Im Fallen drehte ich mich um und sah in die spöttischen Augen eines Mannes mit dunklem schütteren Haar, bekleidet mit einem leichten Mantel.

Ich fiel und fiel und da war der Zug plötzlich da. Vor meinem Auge erschien wieder diese große, imaginäre Uhr, sie zeigte 17,50h. Das Kreischen der Bremsen wurde immer lauter und lauter.

Wieso zeigte diese riesige Uhr eigentlich 17,50h? Es war früh am Morgen, Rush-Hour und ich wollte doch zur Polizeistation? Wieso schrien denn die Menschen schon wieder?

Doch dann wurde es dunkel um mich und es war für alle Zeiten vollkommen gleichgültig, wie spät es war.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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