Melissa Behring

Heute ist gleich morgen

 

Ich sitze am geöffneten Fenster und sehe hinaus. Es weht ein lauer Wind, meine Haare streicheln sanft das Gesicht. Im Hintergrund läuft „No Way Out“ von Phil Collins. In meiner linken Hand halte ich eine Zigarette, in der rechten eine Flasche Smirnoff Ice. Sie ist schon halb leer, aber immer noch kalt. Ich liebe das Prikeln, dass dieses Getränk auf meiner Zunge hinterlässt.

Draußen wird es langsam dunkel. In etwa einer Stunde wird es stockfinster sein. Trotzdem sind noch einige Fußgänger unterwegs. Ich bin nicht die Einzige, der das lauwarme Wetter und die spät einsetzende Dunkelheit gefällt. Ich beobachte gern, wie der Tag sich langsam dem Ende neigt. Die Helligkeit des Tages und die blendende Sonne gefallen mir schon lange nicht mehr. Irgendwann bin ich zu einem Nachtmensch geworden. Wann das war, weiß ich selbst nicht mehr. Ich habe irgendwann angefangen, nur noch schwarze Klamotten zu tragen. Sie geben mir ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit.

Der Autoverkehr lässt langsam nach. Morgen müssen die meisten Leute wieder arbeiten. Ich auch, aber ich habe keine Lust. Für mich steht schon fest, dass ich mich morgen krank melden werde. Ich will nicht den ganzen Tag in diesem stickigen Büro sitzen, umringt von Akten. Dort habe ich mich noch nie wohl gefühlt. Schon während der Ausbildung nicht. Deshalb stapeln sich meine Krankmeldungen in der Abwesenheitsstelle. Aber das ist mir egal. Überhaupt ist mir alles egal.

Die Zigarette neigt sich ihrem Ende. Ich ziehe noch einmal kräftig daran, atme den stickigen Rauch ein und wieder aus. Dann drücke ich sie im Aschenbecher aus, der auf der Heizung direkt unter dem Fenster steht. Ich nehme einen kräftigen Zug aus meiner Flasche. Wie gut, dass ich noch welche im Kühlschrank habe. Ich liebe das Gefühl, wenn der Alkohol langsam seine Wirkung entfaltet. Er schrängt die Motorik ein, lässt die Gedanken in meinem Kopf verstummen. Ich brauche die Stille. Den ganzen Tag toben Gedanken durch meinen Kopf, wie ein Wirbelsturm. Jetzt verstummen sie langsam. Genau wie meine Gefühle. Meine Augen sind gerötet, leicht angeschwollen. Um meinen Mund herum und auf den Wangen haben sich kleine rote Flecken gebildet. Wie immer, wenn ich geweint habe. Ich hasse es, wenn mich jemand so sieht. Deshalb bin ich froh, dass die Dunkelheit mich langsam verschlingt. Ich will unsichtbar sein, würde mich am liebsten in Luft auflösen. Dieses Verlangen beschleicht mich meistens, wenn ich abends allein zu Hause bin. Dann fühle ich mich einsam, verlassen von der Welt. Auch heute wieder.

Ich denke daran, wie es noch vor einigen Jahren war. Als meine Eltern sich getrennt haben, meine Mutter ausgezogen ist. Ich musste bei meinem Vater bleiben, ein Choleriker, der mich ständig angeschrien hat. Mal mit, mal ohne Grund. Ich horche in die Stille. Es ist so schön, dass ich das nicht mehr ertragen muss. Ich hatte immer gehofft, so schnell wie möglich ausziehen zu können. Jetzt habe ich meine eigene Wohnung, aber glücklich bin ich noch immer nicht. Irgendetwas fehlt, aber ich weiß nicht, was es ist.

Auf der Couch liegt mein Handy und das schnurlose Festnetztelefon. Ich werfe einen Blick herüber, um zu sehen, ob jemand angerufen hat. Wenn ich Musik höre, bemerke ich das Klingeln meistens nicht. Doch es hat niemand angerufen. Wieder nicht. Ich frage mich, warum sich nie jemand bei mir meldet. Immer muss ich anrufen. Schon seit Tagen bin ich völlig auf mich allein gestellt. Ich merke, wie die Verzweiflung in mir aufsteigt. Warum merkt es nie jemand, wenn es mir nicht gut geht? Man sieht es mir an. Schon seit Tagen habe ich nicht mehr gelacht.

Ich sehe wieder aus dem Fenster. Es ist merklich dunkler geworden. Wieder nehme ich einen tiefen Schluck aus der Flasche, leere sie bis auf den letzten Tropfen. Dann stehe ich auf und gehe in die Küche. Im Kühlschrank stehen noch drei Flaschen. Ich nehme mir eine heraus und öffne sie. Dann gehe ich wieder ins Wohnzimmer, beziehe meinen Posten am Fenster. Ich wähle ein anderes Lied auf meinem MP3-Player. „Without You“ von Nilsson. Im Moment höre ich gern langsame Lieder, so genannte Tränendrücker. Musik, die den Zustand meiner Seele zum Ausdruck bringt. Die Phase, in der ich Heavy Metal gehört habe, ist längst vorbei. Damals war ich immer wütend, hatte Wutausbrüche, bei denen auch hin und wieder etwas zu Bruch gegangen ist. Zuerst mein Discman, der quer durch's Auto geflogen ist. Auch die CD konnte ich anschließend wegwerfen. Ein paar Wochen später hat mich meine Gastherme in den Wahnsinn getrieben, mit ihrem ständigen Geklapper. Das Gehäuse war locker. Ich habe so fest mit der Faust draufgeschlagen, dass sie an einer Seite abgesprungen ist, die Plastikhaken abgebrochen sind.

Solche Wutausbrüche sind selten geworden. Seit einigen Wochen hatte ich keine mehr. Ich bin auch nicht mehr wütend. Nur noch traurig. Traurig, weil sich niemand meldet. Traurig, weil mich meine Vergangenheit immer wieder einholt. Bei dem Gedanken daran steigen mir die Tränen in die Augen. Ich setze die neue Flasche Smirnoff Ice an den Mund, kippe die halbe Flasche in mich hinein. Ich hoffe immer noch, dass der Alkohol hilft. Hilft, alles zu vergessen. Aber gleichzeitig weiß ich, dass es nicht so sein wird. Wenn ich morgen Früh aufstehe, wird alles noch genau so sein, wie heute. Warum soll ich mir also nicht wenigstens einen schönen Abend machen?

Ich sehe nach draußen. Jetzt ist es dunkel. Ein paar Vögel geben noch Laute von sich, die Autos sind verschwunden. Ich kann auch keinen Fußgänger mehr sehen. Gegenüber, im Altersheim, sind noch vereinzelt ein paar Lichter an. Viele ältere Leute gehen spät ins Bett. Sie müssen ja am nächsten Tag nicht früh raus. Ich gehe selten vor ein Uhr ins Bett. Auch wenn ich um sechs Uhr aufstehen muss. Wenn ich dann gar nicht aus dem Bett komme, melde ich mich eben krank.

Ich frage mich oft nach dem Sinn des Lebens. Warum sind wir auf dieser Welt? Ich habe noch keine Antwort gefunden. Vielleicht finde ich sie nie. Aber irgendwie ist es mir auch egal. Ich lebe, weil ich in diese Welt gesetzt wurde. Das ist der Grund, und kein anderer. Manchmal frage ich mich, ob es jemandem auffallen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Meiner Familie, sicher. Und meinen Freunden auch. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich vermissen. Dafür kümmern sie sich viel zu wenig um mich. Oft schon habe ich daran gedacht, mit allem Schluss zu machen. Aber ich hatte nie den Mut dazu. Wieder ein Grund, weshalb mir die Tränen in die Augen schießen. Weil ich feige bin. Zu feige, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Zu feige, um mich durchzusetzen.

Ich leere die Flasche in meiner Hand. Mir wird klar, dass der Alkoholgehalt nicht ausreicht, um mich zu betrinken. Ich bin härtere Sachen gewöhnt, als Smirnoff Ice. Davon wird mir in der Regel nur warm. Also stehe ich auf, gehe in die Küche. Im Kühlschrank steht noch eine Flasche Persico, den ich zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Ich nehme die Flasche heraus, gehe damit ins Wohnzimmer. Diesmal setze ich mich auf die Couch. Die Heizung ist auf Dauer ganz schön hart. Ich mache es mir gemütlich, schraube die Flasche auf. Der etwas säuerliche Geruch der Kirschen steigt mir in die Nase. Ich atme tief ein. Dann nehme ich einen tiefen Schluck. Mein Hals fühlt sich an, als hätte ich Feuer geschluckt. Er wird warm. Ich merke, wie der Alkohol im Magen ankommt. Sofort macht sich ein wohliges Gefühl der Wärme breit. Auch in meinem Kopf. So mag ich es.

Ich sitze eine halbe Stunde da, trinke immer wieder einen Schluck. Als ich aufstehen möchte, um zur Toilette zu gehen, merke ich, dass mir etwas schwindlig ist. Das Zimmer beginnt leicht zu schwanken, das Bild zieht nach, wenn ich den Kopf drehe. In diesem Zustand kann ich keine klaren Gedanken mehr fassen. Deshalb bin ich glücklich. Das ist es, was ich bewirken wollte. Nicht mehr denken müssen. Der einzige Gedanke, der sich in meinen Kopf schleicht ist der, ins Bett zu gehen. Der Alkohol und das Weinen haben mich müde gemacht. Also bringe ich die Flasche Persico zurück in die Küche, stelle sie in den Kühlschrank. Dann gehe ich auf die Toilette, schwanke zurück ins Wohnzimmer. Ich habe keine Lust, mich umzuziehen. Wozu auch? Ich bin ja allein. Also lege ich mich in voller Montur unter die Tagesdecke. Als ich die Augen schließe, dreht sich alles. Aber egal. Der letzte Gedanke, der sich durchsetzen kann, ist der an den nächsten Tag. Morgen wird alles wieder so sein, wie heute.


28.03.2006

© Melissa Behring

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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