Anke Kirk

Lasst den alten Baum doch leben!

In einem kleinen Dörfchen, irgendwo inmitten von Deutschland, in einem wunderschönen ländlichen Gebiet, lebte einst ein kleines Mädchen.
Da dieses Dorf sehr klein war, denn es hatte weniger als 400 Einwohner, kannte dort auch jeder jeden.
Das kleine Mädchen liebte ihr Dorf und sie liebte die Leute, die darin wohnten.
Am meisten aber, mochte sie die große, alte Pappel, direkt vor ihrem Fenster.
Dieser Baum war riesig groß und hatte mächtige Äste. Und seine Krone stand im Frühling und im Sommer in vollem Grün.
Dann saßen immer Hunderte von Vögelchen darin und zwitscherten um die Wette.
Im Herbst, wenn sich die Blätter bunt verfärbten und lustig, vom Wind getragen umherflogen, sammelten sich dort auch wieder die Vögel in seiner kahl werdenden Baumkrone, um gemeinsam gen Süden zu ziehen.
Aber auch im Winter, wenn die Zweige der alten Pappel mit Schnee bedeckt waren, fand sie ihren Baum wunderschön. Er war einfach immer da gewesen, solange sie sich zurück erinnern konnte.
So vergingen die Jahre und das Mädchen wuchs heran, wurde älter und reifer, genau wie ihr Freund, der alte Baum.
Das kleine Mädchen von damals, war inzwischen eine erwachsene junge Frau geworden und schon selbst Mutter einer Tochter.
Sie sah ihrem Kind voller Freude zu, wie es im Herbst den bunten Blättern der alten Pappel hinterher lief und sie einzufangen versuchte.
Dann erzählte sie ihrer Tochter, wie sie einst, als kleines Mädchen genau das gleiche tat und das es diesen alten Baum schon damals gab, als sie gerade so alt war, wie sie jetzt. Das gefiel ihrem kleinen Mädchen sehr und ihre Mama musste nun jeden Abend vor dem einschlafen erzählen, wie es früher so war, als sie selbst noch klein war.
Manchmal, wenn es sehr stürmisch war, saßen Mutter und Tochter vor dem Fenster und sahen, wie sich ihre alte Pappel im Wind bewegte und hörten dem Rascheln der Blätter zu. So vergingen die Monate und wieder wurde es Winter.
Eines Tages, es war im Dezember, wurden plötzlich Stimmen laut, in dem kleinen Dörfchen.
Es ging um die alte Pappel vor ihrem Haus. Sie sollte weg.
Niemand konnte es so recht verstehen, warum dieser Baum, der schon fast 60 Jahre dort stand, auf einmal störte. Man tat sich zusammen und es wurde lautstark protestiert. Man hängte sogar ein großes Transparent in seine Zweige, auf dem in Leuchtschrift stand: Bitte lasst mich leben!
Es hing den ganzen Winter über dort. Die Gemüter schienen beruhigt.
Kein Wort fiel mehr darüber, das der Baum weg sollte und der Frieden kehrte wieder ein.
Aber er sollte nicht lange währen.
Der Winter ging und der Frühling zeigte sich ganz zaghaft, mit den ersten Sonnenstrahlen.
Das erste zarte Grün schimmerte an den Zweigen der alten Pappel.
Es sollte der letzte Tag sein, im Leben des alten Baumes. Denn plötzlich rückten Feuerwehrleute mit einem Kran an und sperrten die Strassen ab.
Sie standen genau vor dem Haus, in dem das kleine Mädchen mit ihrer Mama lebte.
Sie war schon zeitig erwacht, an diesem Samstag morgen und ihre Eltern schliefen noch.
So setzte sie sich neugierig an das Fenster, um zu sehen, was da draußen vor sich ging. Sie war zwar noch klein, aber sie verstand genau, was gleich geschehen würde. Die Feuerwehrmänner hatten Motorsägen dabei und zwei von ihnen, begannen nun, die oberen Äste abzusägen.
Vom Geräusch der Sägen erwacht, sprang ihre Mama aus dem Bett und eilte zum Fenster, in der Hoffnung, das alles nur ein Traum war.
Aber sie sah hinaus und wusste, das „Ihr Baum“ heute sterben würde.
Eine unvorstellbare Wut kroch in ihr hoch. Hatten sie es tatsächlich durchgesetzt und es stillschweigend bis zum heutigen Tag geheimgehalten. Das war einfach nicht fair.
Gleichzeitig fühlte sie sich hilflos wie nie zuvor. Doch es war nicht mehr zu ändern. Ast für Ast, verlor ihr geliebter Baum an Stärke und sie stand am Fenster, sah es und konnte doch nichts tun.
Als er dann ganz kahl und ohne Äste da stand, schlangen sie ein Seil um seinen Stamm und setzten die Säge an. Das Sägeblatt fraß sich Zentimeter für Zentimeter durch die Rinde. Die junge Frau sah genau das höhnische Grinsen der Feuerwehrmänner, die sich aufstellten, um gemeinsam an dem Seil zu ziehen, das die alte Pappel endgültig zum Stürzen bringen sollte. Waren es doch die gleichen, die einst mit ihr gemeinsam das Transparent in den Zweigen des Baumes befestigten.
Die Säge war verstummt. Nun kam der Moment, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte.
Es knackte und knirschte ganz fürchterlich. Der Baumstamm schwankte, bevor er endgültig, mit einem lauten Krachen zu Boden ging. Da lag er nur, Ihr alter Freund, der Baum, der ihr schon in ihrer Kindheit so viel Freude machte.
Sie hörte die Menge klatschen und sie hasste die Leute dafür. Denn sie war unendlich traurig darüber. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und sie ließ es einfach geschehen. Ihre kleine Tochter stand neben ihr und hatte alles mit angesehen. Auch sie war traurig, aber sie war noch zu klein um zu verstehen, was in ihrer Mama vor sich ging, in diesem Augenblick.
So schob sie ihre kleine Hand, in die ihrer Mama und drückte sie ganz fest. Und ihre Mutter lächelte, obwohl ihr Herz weinte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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