Wilhelm Brenner

Der Tod, der Selbstmord und das Leben danach


Jeder Tag hat seinen eigenen Geruch. Dieser riecht nach Weizenfeldern, in denen der Wind Wellen aus reifem Korn vor sich her treibt und den Feldblumen, die an den Wegrändern  gedeihen. Es riecht nach Trockenheit und dem Staub, den unsere Schritte aufwirbeln, nach der Sommerhitze, die prickelnd auf meinem Gesicht liegt.
Insekten summen durch die Luft, seit langer Zeit höre ich wieder das Zirpen von Grillen. Es ist ein Tag ohne Ende, so wie der blaue Himmel über uns. Ich kann den alten Tennisball mit aller Kraft werfen, es gibt keine Grenzen, nichts das uns hält. Wir  strecken unsere Körper, baden in der warmen Sommerluft, atmen ein wenig tiefer als sonst. Selbst der Hund wirkt verspielter, hört nicht auf zu laufen, obwohl es so heiß ist.
Es sind wunderschöne Stunden, weil ich sie mit dir verbringen darf. Kein Tag zum Nachdenken. Ein Tag zum Erinnern.
Alles was man dafür tun muss, ist morgens die Augen zu öffnen, denke ich heimlich, während du mit dem Hund tollst.
Ich fühle die kleinen, weißen Tabletten in meiner Hand, spiele mit ihnen, lasse sie durch meine Finger wandern, während ich dich ansehe. Ich bin glücklich, denn ich weiß, es wird keinen Regen geben, an diesem Tag, der strahlender nicht sein könnte. Wir werden uns lieben nach diesem Ausflug, auf schwarzem Satin, der deine weiße Haut für immer einprägt, in meine Erinnerung. Es bleibt noch Zeit, bis der erste Tropfen vom Himmel fällt.

 
Das Mobiltelefon läutet. Ich vermute es irgendwo im Bett, schiebe die Fotos zur Seite, den halbvollen Teller von Mittag, meine alte Wäsche. Ich folge der schwachen Klingelspur, wühle im Bettzeug und fördere am Ende doch noch mein Telefon zu Tage, neben der Fernsehfernbedienung, einem leeren Glas und zerfledderten Comics.
Es ist eine Frau, wenn auch nicht meine. Das enttäuscht, selbst jetzt noch.
Die Dame ruft aus dem Pflegeheim an, in das mein Großvater vor Jahren schweren Herzens gezogen ist.
Sachlich wird mir erklärt, dass der zunehmende körperliche und geistige Verfall eine Verlegung in die Bettenstation unbedingt erforderlich macht. Die Schwester möchte den Beschluss mit einer Reihe von Fakten untermauern, zählt mit trockener Stimme einen Vorfall um den anderen auf, der meinen Großvater auf das tiefste beschämt hätte, könnte er sich noch daran erinnern. Aber auch das klappt nicht mehr. Ich will das nicht hören, dazu respektiere ich ihn zu sehr, so willige ich rasch ein. Ich habe fünf Tage Zeit, das Zimmer zu räumen. Bereits jetzt gehört es ihm nicht mehr. Es gibt einfach zu viele alte Menschen, die sehnlichst darauf warten ein kleines, tristes Zimmer mit den paar Habseligkeiten eines verbrauchten Lebens zu füllen. Also werde ich kommen, noch heute. Das verbessert meine Situation zwar nicht, aber verändert sie zumindest.
Die Direktorin persönlich begleitet mich zu dem Zimmer. Sie hätte sowieso denselben Weg, meint sie. Vielleicht zehn, fünfzehn Jahre trennen sie noch von den Bewohnern und offensichtlich gedenkt sie diesen Vorsprung zu halten, mit dunkelrot gefärbten, toupiertem Haar und teurer Schminke. Sie trägt einen Damenanzug im Nadelstreif und ein kleines, goldenes Kettchen über der schwarzen Seidenbluse. Ihre hohen Absätze lassen markante Schritte in den langen, stillen Gängen widerhallen. Respektvoll weichen die Alten zurück, wo immer sie vorüber zieht. Ich kann die neugierigen Blicke sehen, höre, wie leise Zimmertüren sich öffnen und faltige Gesichter verstohlen aus dem Halbdunkel schielen. Wann immer diese Schritte hörbar werden passiert etwas. Jemand kommt in die Gemeinde, oder jemand verlässt sie. Ansonsten lebt die Heimleitung in einer anderen Welt, hat mir mein Opa erzählt, dort, wo der Boden mit Teppichen ausgelegt ist und  Grünpflanzen die hellen Räume zieren. Die Welt drei Stockwerke unter mir, wo sogar Bilder an den weißen Wänden hängen.
Zimmer eins, drei, fünf.  Sie öffnet mir die Türe, dann verabschiedet sie sich.  Alles was nicht innerhalb der vorgeschrieben Frist abgeholt wird, geht automatisch an das Altenheim, erklärt sie abschließend.
Ich stehe alleine in dem düsteren Gang. Ein Namensschild klebt an der Türe, aber sie hat seinen Namen nicht genannt. Nur die Nummer, mit beiläufiger Stimme. Zum ersten Mal wird mir klar, wie gering die Bedeutung des Lebens ist, mag es noch so lange gewesen sein. Man kann es fühlen, wie Existenzen hier langsam verblassen, in dem großen Speisesaal, dem Park, dem Cafe. Schließlich vergessen die Alten sich selbst. Dann ist es vollbracht. Aber das schreckt mich nicht. Im Gegenteil, die Selbstverständlichkeit, mit der hier zu ende gelebt wird lässt das wohlig warme Gefühl der Verantwortungslosigkeit in mir hochsteigen, als ich Nummer eins, drei, fünf betrete. Die Gewissheit, dass längst nicht alle Dinge so wichtig sind, wie man sie gemeinhin sieht, nehme ich zufrieden mit mir in den Raum.
Finanzielle Werte gibt es hier keine. Ein Schrank, eine Vitrine, ein Wandteppich. Zwei abgenutzte Stühle aus den Fünfzigern, einer rot, einer olivgrün, mit Stoffüberzug. Dazwischen ein zerkratzter Couchtisch. Die meisten der Dinge hier waren schon alt als ich als Kind meine Großeltern besuchte, an den Wochenenden. Von den Tellern mit Blümchen Muster, die in der Vitrine lagern, habe ich oft gegessen, einen sogar zerbrochen.
 Der hölzerne Schrank ist voll mit alten Hemden und Anzügen, die mein Großvater seit Jahren nicht mehr getragen hat. Breit geschnittene Krawatten aus den Siebzigern, ein Paar polierte, schwarze Lackschuhe. Alles mit dem Duft von Naphtalin getränkt.
Draußen regnet es ohne Unterlass, seit Tagen schon. Durch das kleine, nasse  Fenster wirkt die Welt wie ein bewegtes Aquarell, ganz in grau gehalten. Der Blick führt auf die Hauptsrasse, in der das Leben pulsiert. Von der Strasse aus kann man oft die Gesichter der Alten hinter den Scheiben beobachten. Wie vergessene Gespenster starren sie auf eine Welt, die sich viel zu schnell dreht, für ihre verbrauchten Augen. Manche haben sogar noch Sehnsüchte, andere einfach nur Angst.
Ich wende mich ab, öffne eine der Schubladen. Mein Gesicht ist grau dieser Tage, die Augen sind müde. Und wieder ein Gespenst, das auf die Strasse stiert, denke ich voll Trotz. Tatsächlich habe ich den Anschluss verloren, wurde aus meinem Sitz geschleudert, während das bunte Lebenskarussell sich fröhlich weiter dreht, mit all den Lichtern und der Musik. An diesem Ort hier ist alles alt und starr und die Ruhe tut furchtbar weh. 
Es gibt Momente, da hasse ich sie. Es gibt Zeiten, da verstricke ich mich in endlose Selbstgespräche auf der Suche nach einem Weg zurück in das duftende Leben mit ihr. Und immer finde ich mich letztlich vor dem Fenster, in meiner engen Wohnung, in den Regen starrend.
Die Schublade ist mit alten Fotos und Ansichtskarten gefüllt. Jede Menge Urlaubserinnerungen, auf einigen Bildern bin auch ich zu sehen, als kleiner Junge, mit goldenen Locken und Zahnlücken. An die meisten dieser Ausflüge kann ich mich nicht mehr erinnern.
Tief unten, von all den Schichten aus Urlauben, Geburtstagen und Weihnachtsfesten überlagert, liegt eine andere Welt begraben. Diese Fotos am Grund der Lade strahlen keine Geborgenheit mehr aus. Schwarz auf weiß grinst mich der Krieg aus dem Gesicht eines deutschen Soldaten an. Er steht neben meinem Großvater und einem dritten Mann. Mein Opa ist augenscheinlich der Jüngste. Noch ein halbes Kind. Sturmgewehr und Stahlhelm wollen nicht so recht zu ihm passen. Alle drei lächeln, als Hintergrund dient ein zerstörter Panzer, der wie ein riesiger Kadaver langsam in der Steppe verrottet. Im Vergleich zu den anderen ist das Grinsen des ersten Mannes echt. Ich bemerke auch, dass dieser Soldat ein wenig abseits zu den beiden anderen steht. Nicht seine Freunde, aber sein Krieg.
Das Portrait einer jungen Frau kommt zum Vorschein. Volles, dunkles Haar umrandet das Gesicht mit leicht asiatischem Einschlag, doch ihre Augen sind leer. Auch ihr Lächeln ist nicht echt. Ich glaube, sie würde lieber weinen, aber sie spielt ihre Rolle. Ihr fröhliches Gesicht ist so voller Hoffnungslosigkeit, das es mich anzieht. Meine Fingerspitzen gleiten sanft über ihr Bild. Nein, da ist keine Lust, obwohl sie hübsch ist. Viel mehr möchte ich ihr Schicksal kennen und es teilen. Ein Stück des Weges mit ihr gehen, solange der Augenblick besteht. Zu gerne hätte ich ihr gesagt, dass ich heute hier sein werde, um sie damals zu trösten.
 
Die letzten beiden Bilder sind blankes Grauen. Menschliche Leiber hängen schlaff an eilig zusammen gezimmerten Galgen. Männer und Frauen, die Köpfe durch den Strick unnatürlich schräg gelegt. Ich kann sehen, wie ihre Körper sich langsam um die eigene Achse drehen. Rund  herum stehen Soldaten, rauchen, reden, machen Pause. Ich zähle zehn Gehängte. Manche tragen russische Uniform, andere Zivil. Hinter dem Galgen breitet sich endlose Steppe aus. Am rechten Bildrand lodert ein gewaltiges Feuer. Dunkle Rauchschwaden hängen träge über dem Szenario. Das Bild hat etwas Apokalyptisches. Ich betrachte die beiden Aufnahmen nur kurz, fühle mich unangenehm berührt, denn diese Menschen sind wirklich tot. Umgebracht. Darauf war ich nicht vorbereitet. Nervös suche ich nach dem Gesicht meines Großvaters unter den Soldaten, habe Angst, er könnte einer von denen sein, die lächeln. Wie sollte ich mit diesem Mann dann umgehen, der nun zwei Mal täglich die Windeln gewechselt bekommt.

 
Ich habe nur die Aufnahmen vom Krieg mitgenommen. Es ist nicht richtig, das Leid anderer zu benutzen, aber es hilft, das eigene zu lindern. Es beschäftigt mich. Besonders das Bild der jungen Frau hüte ich auf dem Heimweg, beschädigt ist es schon genug. Geknickt, verblichen, verschmutzt. Würde ich es jetzt verlieren, hätte ich rückwirkend eine Geschichte ausgelöscht, vielleicht ein ganzes Leben. Wer würde jemals wissen, dass es ein Mädchen mit diesem Gesicht überhaupt gegeben hat, an diesem Ort, zu dieser Zeit. Allein die Möglichkeit, dass ich der letzte bin, lastet schwer auf mir. Ich frage mich, warum mein Großvater diese Aufnahme  gemacht hat. Was er mit ihr gemacht hat. Oder sie mit ihm.

 
Ich gehe heute früh zu Bett. Es ist kaum zwanzig Uhr. Die Bilder nehme ich mit. Mein ungemachtes Bett ist bereits voll mit Fotos, ich habe mich darin eingegraben, damit zugedeckt. Mir eingebildet, ich könnte sie sogar in der Dunkelheit unterscheiden, habe begonnen Spiele zu spielen. Nächte lang. Heute aber hat meine Frau das Nachsehen. Wie ein Ass ziehe ich das kleine Porträt der Unbekannten aus der Tasche und studiere es. Jede Einzelheit wird registriert und hinterfragt, bis das Bedürfnis zu schlafen so groß ist, das es körperliche Schmerzen bereitet. Die Gespenster sollen keine Möglichkeit haben, mich zu quälen, weil ich nur an diese Unbekannte denke. Ich möchte ihr  einen Namen geben. 

 
Kaum zwei Stunden habe ich geschlafen. Es ist ein schreckliches, beinah hysterisches Erwachen. Mit letzter Kraft tauche ich über den Rand der Realität auf, atme tief und gierig die friedliche Dunkelheit des Raumes ein. Ein grau – weißes Traumgeflecht hat mich in die Tiefe gezogen, in einen schwarzen Abgrund voll wogender Bilder.  Als die Eindrücke ineinander übergehen verstehe ich es. Ich habe etwas übersehen.
Ich reiße die Schublade auf, wühle, werfe wahllos den nutzlosen Ballast hinter mich, bis die kleine Lupe zum Vorschein kommt. Das Portrait und die beiden Todesbilder liegen vor mir. Auf der ersten Aufnahme ist sie nicht. Eine der Frauen hängt mit dem Rücken zur Kamera, aber das sind nicht ihre Haare. Ich bin sicher.
Der Regen hämmert aggressiv gegen das Fenster, während ich das zweite Bild absuche. Übergroß zeigt die Lupe grausige Details der Erhängten. Verzerrte Gesichter, aus denen hervorquellende Augen leblos  starren, lassen mich schaudern. Auch auf dieser Aufnahme hängt nur eine Person seitlich zur Kamera, so dass es nicht möglich ist, das Gesicht zu erkennen.
Doch da ist dieses volle, dunkle Haar. 
Mein Körper verkrampft sich. Ich kann das Zittern in meinen Händen einfach nicht abstellen.  Ich kenne diesen Schopf, als hätte ich tausendmal sanft darüber gestrichen. Dann ist da plötzlich die wahnsinnige Angst in mir, der Strick könnte sich weiter drehen, bis  ich ihr Gesicht sehen muss.
Ich raffe hysterisch die Bilder auf dem Bett zusammen, ihre, meine, einfach alle und schleudere sie weit fort von mir. Wie ein Schwarm aufgebrachter Schmetterlinge flattern die Fotos  rauschend durch die Luft und verteilen sich auf dem staubigen Teppichboden.

 
Das ist der Zeitpunkt um die Maschinerie in Gang zu setzen, an der ich schon lange gefeilt habe. Voll Freude beobachte ich, wie das Tempo sich stetig erhöht, mein Herz  schneller und schneller schlägt. Es gibt keine Bremse und keinen Notfallschalter, weil ich einfach keine Angst spüre. Ich habe mir oft vorgestellt, diesen Moment müsse man weinerlich im Bad zubringen, oder im Bett, mit geröteten Augen und schmerzender Kehle. Denn weinen ist Schwerarbeit. Aber all das trifft nicht zu. Der Gedanke, auf meinen persönlichen  Abgrund zu zurasen erregt mich. Die Genugtuung wächst mit jeder Person von der ich weiß, dass sie eine Rose werfen wird.
Ich öffne die letzte Flasche Rotwein und nehme einen großen Schluck. Ein heftiges Fieber befällt mich, Schweiß glitzert auf meiner Haut. Ich reiße mir die Kleider förmlich vom Leib. Je näher es dem Ende zugeht, desto rasanter wird die Fahrt.

 
Und ich treibe es voran.

 
Kreisförmig habe ich die weißen Tabletten am Boden angeordnet. Ich setzte mich in die Mitte und nehme die ersten zwei zwischen Daumen und Zeigefinger.
Für jedes Foto, das mich quält, denke ich und spüle  die beiden mit einem guten Schluck Wein hinunter. Ich fühle mich wie neu geboren.
Zwischen all den Bildern auf dem Boden findet sich auch das alte Portrait. Es liegt verkehrt herum, doch die ausgefransten Ränder und das abgegriffene Papier verraten es. Fiebrig proste ich der Unbekannten mit dem Hinweis, die nächsten Tabletten seien nur für sie, zu. Doch noch bevor ich etwas zu mir nehmen kann antwortet sie. Ich habe es in all der Zeit verabsäumt die Rückseite des Bildes zu betrachten, auf der etwas geschrieben steht. Zwei kurze Sätze, vor langer Zeit mit feiner Feder verfasst, ist die schwarze Tinte an manchen Stellen schon ausgeblichen. Schwungvolle, lebenshungrige Linien formen Worte, die ich nicht lesen kann. Der Text ist in kyrillisch. Nur ein Rufzeichen am Ende des ersten Satzes unterstreicht die Bedeutung der Botschaft.

 
Das Telefon läutet.

 
Es ist eine Frau. Meine Frau. Das berührt, selbst jetzt noch.  Ihre Stimme klingt verlegen, ihre Worte sind unbeholfen. Sie schiebt Floskeln vor. Wahrscheinlich hat sie sich seit Stunden auf dieses Gespräch vorbereitet, das kleine, rote Mobiltelefon in den Händen gewogen, gewählt, aufgelegt, wieder gewählt und aufgelegt, noch bevor der Anruf mich erreichen konnte. Schließlich hat sie es dem Schicksal überlassen, vielleicht wäre ich ja nicht daheim, würde schlafen, hätte keine Zeit. Ich kenne sie.
Wie es mir geht möchte sie wissen und es geht mir gut, versichere ich. Was ich tue? Nichts Besonderes.
Wir umkreisen uns, verstecken uns hinter kleinen Mobiltelefonen und lauern auf die Worte des jeweils anderen. Wir analysieren, entwerfen und verwerfen Strategien, in Sekundenbruchteilen.
Sie wird nicht zurückkommen. Die nächsten Wochen wird sie mit Bekannten in Urlaub fahren um auf andere Gedanken zu kommen. Es tut ihr leid, sagt sie, aber vielleicht sehe ja auch ich ein, dass es der richtige Weg sei. Sie finde es gut, dass man mit mir vernünftig reden könne, dass ich so ruhig und verständnisvoll wäre und sie bedanke sich dafür. 
Ich fühle die Tabletten in meiner schweißnassen Hand und mich befällt ein irrer Drang  zu lachen. Mit aller Gewalt halte ich meine Stimme im Zaum, klinge ernst und verständnisvoll, wie jemand der echte Größe besitzt. Ihr Ton ist nun sicherer, sie spricht ruhig und gleichmäßig. Ich höre ihre Worte, verstehe ich sie aber nicht mehr. Ich möchte wilde Grimassen schneiden, obszöne Gesten machen, so laut schreien wie ich nur kann. Ich möchte, dass sie es weiß. Aber meine Stimme bleibt die reine Vernunft.
„Pass auf dich auf“, sagt sie abschließend, beinahe zärtlich, bevor das Gespräch endet.
Dann ist es totenstill im Zimmer.
Ich möchte jetzt weiter trinken, aber die Gewissheit hat den Wein verdorben. 
Ich betrachte das Bild meiner Frau, wie sie mit dem Hund spielt, an diesem heißen Tag. Ich kann die Kornfelder sehen und den blauen Himmel der nirgendwo endet.
Ich kann ihr rotes Mobiltelefon sehen, wie sie es erleichtert aus der Hand legt, das entspannte Lächeln auf ihren Lippen, die gepackten Koffer auf dem Bett.  Und ich kann mich sehen, wie ich nackt auf dem Boden hocke, in einem Kreis aus Schlaftabletten, umgeben von einem wirren Geflecht aus Fotografien.
Morgen werde ich aufräumen.
Schwerfällig schleppe ich mich zu meinem Bett und decke mich zu, denn ich friere. Ich lasse die Einsamkeit unter die Decke und warte gnädig auf ihre Umarmung. Es ist nicht schlimm sich selbst in den Arm zu nehmen, ich glaube niemand hat das je mit solcher Ehrlichkeit getan. Dann treibe ich fort  in einem zähen Strom der Erschöpfung, so schwarz, das kein Platz mehr ist für einen Traum.

 
Es ist ein grauer Morgen, kühl und bedeckt. Zumindest regnet es nicht mehr und die Strassen beginnen aufzutrocknen.
 Ich bin in das Institut für Slawistik gefahren, doch der Professor ist gerade nicht anwesend. Der Sekretärin ist mein kleines Anliegen offensichtlich unangenehm. Mein unsteter Lebenswandel und besonders der andauernde Schlafmangel haben ihre Spuren hinterlassen. Außerdem rieche ich von letzter Nacht immer noch nach Alkohol. Ich glaube, die gute Frau hat ein wenig Angst vor mir. Als ich mich anschicke zu gehen tritt eine junge Studentin an mich heran. Sie spricht ein wenig russisch und könnte mir vielleicht helfen, meint sie. Ich möchte gerne wissen was auf der Rückseite des alten Fotos steht.
Ihr freundlich lächelndes Gesicht verändert sich, während sie liest. Sie presst ihre schmalen Lippen aufeinander, wirkt ein wenig unschlüssig. Lese ich da etwa Betroffenheit in ihrem Gesicht? Ich schließe die Augen als mich ihre Stimme erreicht. Die Botschaft ist kurz:
„Bleib am Leben! In Liebe, Irina.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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