Candice Brogle

Der letzte Anruf

"Hallo?"
"Guten Tag. Ich... ich muss mit Ihnen sprechen."
"Wer spricht denn da? Sind Sie es?"
"Ja, ich bin es. Bitte... Ich muss mit Ihnen sprechen. Gleich jetzt."
"Das geht schlecht. Aber ich freue mich, dass Sie mich anrufen. Ich hätte es nicht erwartet."
"Ich..."
"Kommen Sie doch heute abend bei mir vorbei, in Ordnung?"
"Ja, in Ordnung...Bis dann!"
"Bis dann."


Klick. Wie schwer der Hörer wird, wenn die Verbindung beendet ist, dachte sie. Ihr war der Magen ganz flau vor Aufregung. Sie hatte so vieles sagen wollen, dass ihr nun all das Ungesagte in Brust und Hals steckte. Für Sekunden - das war noch vor dem Wählen der Nummer - war sie überzeugt gewesen, sie würde daran ersticken. Anrufen oder ersticken, hatte sie sich gedacht und nun hatte sie keine Erleichterung gefunden. Jedoch würde sie ihn heute noch sehen dürfen und das war allerdings eine hinreichende Entschädigung für alles Leiden.
Es war erst zwei Uhr nachmittags. Sie wartete auf den Abend.
"Ich geh' dann heute etwas früher. Mir ist nicht so gut", sagte sie und lächelte entschuldigend. Ihre Bürokollegin, die Rita hiess und auf deren gutes Herz stets Verlass war, nickte und reagierte verständnisvoll. Nein, sie fände es nicht schlimm, dass sie früher gehe, sagte sie und auch, dass sie wirklich heute nicht gut aussehe und sich ruhig einmal etwas erholen solle, sie würde ja sonst noch krank werden. Sie solle also ausruhen und viel Tee trinken. Am besten Grüntee.
Rita und ihr Grüntee, dachte sie. Die Bürokollegin sprach oft so, als könne man mit Grüntee nicht etwa nur eine sich anschleichende Verkühlung verjagen, sondern überhaupt jedes physische und psychische Leiden kurieren oder besser noch, im Keim ersticken. Wenn man Rita so ansah, eine hübsche Frau mit schockoladebraunem Haar und fröhlichen, runden Augen, war man gerne bereit zu glauben, dass der Grüntee zumindest bei ihr tatsächlich seine wunderbare Wirkung entfaltete und jedes Leid von ihr abhielt. Man mochte aber noch viel eher glauben, dass ein tüchtiges, fröhliches Mädchen wie Rita eine solche Medizin gewiss nicht nötig hatte und auch nie nötig gehabt haben konnte, denn eine kränkliche und unglückliche Rita war etwas völlig Unvorstellbares.  Sie war also vermutlich gänzlich ungeeignet, um herauszufinden, ob Grüntee nun wirklich eine solch positive Wirkung hatte.

Später ging sie, Ritas Rat missachtend, durch die Strassen der Stadt. Leute erledigten eilig Einkäufe, andere schlenderten aufreizend langsam durch die übervollen Strassen, gerade so, als wäre die Stadt zu dieser Zeit ein wunderschöner Ort, an dem man gerne verweilt. Dies war ihr unbegreiflich. Sie ging schnell und fühlte sich durch die vielen Menschen und den Lärm gehetzt. Erst bei einem kleinen Blumenladen machte sie halt und als sie wieder herauskam, einen Strauss verschiedenfarbiger Blumen in der Hand, lächelte sie sogar kurz. Immerhin konnte man hier etwas Schönes kaufen und dies dann ihm bringen.
Sie kannte seine Strasse, es war nicht allzu weit. Sie hatte die Tramverbindungen genau im Kopf.
Die Strasse lag in einem ziemlich heruntergekommenen Viertel, wo die Häuser allesamt alt und  traurig aussahen. Überall hingen Wäscheleinen voller Wäsche und Mütter schrien nach ihren Zöglingen oder redeten laut mit anderen Müttern. Scharen von schmutzigen Kindern standen, kauerten und sassen an jeder Ecke, auf jeder Treppenstufe, und manche von ihnen hatten die unangenehme Angewohnheit, sich an den Beinen von Vorbeigehenden derart festzukrallen, dass man sie grob abschütteln musste.
Ein stattliches Tor war zu durchqueren und dann fand man sich vor unzähligen, verwinkelten Treppen. Ein Anblick, wie aus einem Albtraum. Man würde nicht bei Nacht dort sein wollen. Zumindest nicht, wenn das Licht nicht wäre, das dann immer in einem Zimmer des obersten Stockwerkes brannte. Das Licht, das auch jetzt schon zu sehen war und das sie zum lächeln brachte, selbst als sie mit unguten Gefühlen die vielen Treppenstufen - wenn man die erste Stufe nahm glaubte man nicht, dass man je oben ankommen würde - überwand, sich höher emporarbeitete, Kinder umgehend, Katzen überspringend, die dort bei Tag und noch zahlreicher bei Nacht umherstreiften und offenbar ihre wahre Freude an dem verwinkelten Treppensystem hatten.
Sie nahm das Licht als Zeichen, dass er da war, dass er auf sie wartete. Dennoch öffnete sie, oben angekommen, sehr vorsichtig die Tür, als könne sie vielleicht doch stören. Im Innern lag vielerlei herum. Bücher stapelten sich nicht nur in Regalen, sondern auch auf dem Boden. Eine robuste Zimmerpflanze wucherte in einer Ecke. Hie und da sah man unterschiedliche Kleidungsstücke vereinzelt herumhängen oder auf Möbel und Boden liegen. Ebenso Notizblätter. Man hörte das leise Summen eines eingeschalteten Computers.
Er schlief am Schreibpult neben der Tastatur, den Kopf in die verschrenkten Arme gebettet. Sie war enttäuscht. Die Blumen wurden ganz schwer in ihrer Hand. Beinahe fielen sie ihr auf den staubigen Boden. Wie überwältigend war ihr nun dieser Ort in seiner Tristheit, fast Albtraumhaftigkeit. Wie schwer musste einem hier das Herz werden, dachte sie, hier, in dieser kärglich eingerichteten Kammer, vollgestopft mit unheimlichen Büchern, die sie nicht lesen, ja, nicht einmal anfassen mochte, obwohl sie einmal gern und viel gelesen hatte.
Dennoch begann sie automatisch, die verstreuten Kleider zusammenzutragen. Die Blumen hatte sie auf's Bett gelegt. Es war zerwühlt und schmal. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie es einmal im Sonnenlicht gesehen hatte. Die Sonne hatte damals warme Strahlen durch das kleine Fenster geworfen. Jetzt war es schon ziemlich düster draussen.
Sie setzte sich auf das zerwühlte Bett. Es war so kalt in der Kammer, dass sie ihre dicke Jacke gar nicht ausziehen mochte. Stattdessen schlang sie die Arme um sich und betrachtete den Schlafenden. Was er wohl so lange geschrieben hatte? So lange, bis er keine Kraft mehr hatte und einfach zusammengesunken war.  Etwas hatte von ihm Besitz ergriffen in einer schrecklichen Weise, das spürte sie deutlich und sie glaubte nicht, dass es etwas mit ihr zu tun haben konnte. Ihren Anruf hatte er bestimmt vergessen. Es gab soviel Wichtigeres als diesen dummen Anruf, den sie nun schon ganz ernsthaft bereute. Wenn er erwachte würde er sie erstaunt anschauen wie eine Fremde und so würde sie sich auch fühlen, und die Blumen würden sie in dem Gefühl dumm und kindisch zu sein noch bestärken.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Bett gesessen hatte. Mittlerweile war es vor dem Fenster pechschwarz. Wenn man hinsah, mochte man glauben, es befinde sich vor dem Haus eine schwarze Wand. Aber nun bewegte er sich. Er erwachte tatsächlich, richtete den Oberkörper auf, hob zuletzt den offenbar bleischweren Kopf. Er sah sie sofort, noch ehe sie ein Lächeln zustande gebracht hatte.
"Ach, Sie sind's", sagte er erstaunt und lächelte müde. Seine Stimme war warm und tief. "Ich bin einfach beim Schreiben eingenickt, tut mir leid."
Sie hob den Strauss Blumen auf, den sie neben sich aufs Bett gelegt hatte und blickte verlegen darauf nieder.
"Sie bringen mir Blumen?" Erstauntes Heben der dichten Augenbrauen. "Ja, ich dachte, sie machen den Raum hier vielleicht etwas freundlicher." Sein Lächeln schien ihr das, eines illusionslosen Menschen. "Das ist lieb von Ihnen wirklich, aber dies wird gewiss nie ein allzu freundlicher Ort werden. Es ist ein Ort zum Arbeiten, zum Schreiben, verstehen Sie?" Sie konnte ihre Traurigkeit über diesen Kommentar, über die Sinnlosigkeit ihrer Blumen, kaum verbergen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Kraft hatte, um zu antworten. "Aber Sie sind doch immer hier, den ganzen Tag und oft genug auch in der Nacht. Ich dachte, ich mache Ihnen mit den Blumen eine Freude", sagte sie und blickte noch immer bestürzt auf den Strauss nieder. "In meinen Büchern gibt es genügend Blumen. Blumen aller Art. Interessante und Schöne. Sie wachsen und blühen", sagte er ernst, wobei er sie ruhig betrachtete. Ohne das sie es wollte murmelte sie darauf leise: "Sie wachsen wie Unkraut."
Er blickte kurz zum Fenster hin und seufzte dann, als betrübe auch ihn die Schwärze draussen. Sie fasste sich ein Herz:" Kommen Sie, lassen Sie uns rausgehen. Wir könnten etwas trinken, in einer Bar...wo es Leute und Musik gibt." Sie brachte es mit so viel Aufmunterung in der Stimme hervor wie möglich, obwohl ihr gar nicht danach war, in die Schwärze hinauszugehen. Sie wollte ihn nur dazu bringen, mit ihr diese Kammer zu verlassen.  "Ach nein, heute nicht. Ich bin schrecklich müde und um ehrlich zu sein, Sie sehen aus, als wären Sie noch müder. Es ist auch schon sehr spät." Tatsächlich fühlte sie sich krank und erschöpft. Gerne hätte sie sich einfach auf dem Bett ausgestreckt. Stattdessen hüllte sie sich noch fester in ihren Mantel. "Wie können Sie nur in dieser Kälte leben?" entfuhr es ihr nun. Seine Antwort kam prompt und war völlig einleuchtend. "Ich lebe ja nicht hier, ich arbeite."
Er erhob sich mühsam und ging langsam zum Fenster, um eine Weile in die Schwärze hinauszusehen. Seine Bewegungen waren geschmeidig, erinnerten ein wenig an die der Katzen draussen. Die Furchen in seinen Wangen verrieten, dass er nicht mehr jung war. Er zündete sich nun eine Zigarette an und drehte sich unerwartet plötzlich nach ihr um. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Sie lächelte unwillkürlich zurück. Endlich stand sie auf und ging zu ihm, um sich, die Arme lose um ihn gelegt, gegen seine grosse, schlanke Gestalt zu lehnen. Er strich über ihr Haar. Sie war glücklich. Gemeinsam blickten sie eine Weile in die tiefschwarze Nacht. Sie glaubte, sie sähe, ganz kurz nur einen Stern, oder die Lichter eines Flugzeugs weiss aufblitzen.
"Geh jetzt. Es ist Zeit, dass du dich mal ordentlich ausschläfst", sagte er. "Wirst du auch schlafen?" fragte sie und blickte wie ein Kind an ihm hoch. Seine Augen waren ihr wie von Wolken durchzogen, unergründlich.
"Ich werde noch ein wenig schreiben. Es ist dafür jetzt die beste Zeit." Er blies den Rauch seiner Zigarette in den Raum, dessen  freundliches, gelbes Licht, wenigstens eine Illusion von Wärme und Gemütlichkeit erzeugte.
Sie liess ihn los, nahm die Blumen vom Bett und legte sie auf sein Schreibpult, obwohl sie wusste, dass sie ihn dort stören würden. Schon bei der Tür, sagte sie noch: "Bis morgen. Ich komme morgen wieder." und versuchte noch einmal ein Lächeln. Es erstarb ungesehen, denn er hatte sich bereits wieder zum Fenster umgewandt. "Bis morgen" hörte sie ihn noch zerstreut murmeln, dann stand sie draussen in der Schwärze, mit all den Treppenstufen, die sie nun im Dunkeln und mit ihren hochhakigen Schuhen hinuntersteigen musste. Es fröstelte sie. Schon strich ihr eine Katze um die Beine, miaute, drängte den kleinen Körper gegen ihr Schienbein. Sie musste sie schliesslich unsanft mit dem Fuss wegschubsen, um den Abstieg beginnen zu können.
Ihre Schritte auf den hölzernen Stufen, waren das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille. Die Katzen bewegten sich beneidenswert lautlos. Plötzlich sehnte sie sich nach der Stadt, nach ihren überfüllten Strassen, dem ewigen Lärm, den Menschenmengen, die sich durch die Strassen und Läden wälzten. Sie nahm tapfer Stufe für Stufe, nie sicher, ob sie ihr Halt geben würden, oder ob sie ausrutschen, einen Fehltritt machen und in das schwarze Nichts rund um sie stürzen würde. Es fiel ja nur wenig Licht von den umliegenden, heruntergekommenen Wohnungen stellenweise darauf. Zu dieser Zeit, sie schätzte, es war bereits neun oder zehn Uhr abends, brannten aber längst nicht mehr alle Lichter und die meisten Menschen verbargen sich hinter Rolläden und schweren Vorhängen. Auch waren alle Kinder verschwunden, waren nun drinnen in ihren schmuddeligen Betten mit all ihren Geschwistern. Waren beisammen in Wärme und Sicherheit und nicht alleine draussen in der Nacht, wie sie.
Sie nahm behutsam Stufe für Stufe. Ab und zu schloss sie die Augen, da sie glaubte, es lindere ihre Angst, wenn sie wenigstens die äussere Schwärze nicht sehen musste.
Endlich spürte sie festen, steinernen Boden unter sich. Es galt nun, zum Tor voran zugehen und dann die Klinke zu finden. Kein Licht erhellte die Stelle, wo das Tor sein musste. Sie fand es aber bald, schon nach wenigen Schritten und betastete es blind mit den Händen. Ein kurzer, schrecklicher Moment der Panik, dann das kühle Metall der Klinke in ihrer Handfläche. Das laute Knarren des sich öffnenden Tores.
Auf der Strasse hörte sie nur ihre Schritte. Sie hallten laut und verräterisch. Gerne hätte sie die Schuhe ausgezogen, doch der Boden war zu kalt, zu hart um barfuss darüber zu gehen.
Zuhause angekommen, es war, wie sie nun sah, fast Mitternacht, schlich sie sich ungesehen in ihr Zimmer, denn die Eltern schliefen schon. Darüber war sie froh, denn sie hatte sich noch keine Ausrede für ihr langes Wegbleiben  zurechtgelegt und wo sie wirklich gewesen war, würde sie ihnen nie erklären können.


                                                                        
                                                                        2

                                                                       

"Hallo?"
"Hallo, ich wollte nur fragen, ob Sie heute vorbeikommen wollen."
"Ach! Guten Morgen! Aber ja...ja, natürlich komme ich. Ich habe es auch gestern gesagt."
"Ach, das habe ich wohl ganz vergessen. Die Arbeit nimmt mich auch sehr in Anspruch."
"Ich sage Dir...Ihnen doch, Sie arbeiten zuviel. Das kann nicht gut sein. Nicht einmal für Ihre Arbeit kann das gut sein. Wollen wir heute abend nicht ein wenig rausgehen, was meinen Sie?"
"Ich bin jetzt schon erschöpft. Ich werde wohl früh schlafen gehen heute."
"Ach...Aber nicht zu früh. Sie wissen, ich komme noch vorbei."
"Ja, das weiss ich ja jetzt. Bis später."
"Bis heute abend!"

Sie sass glücklich in ihrem Büro. Sonnenstrahlen vielen durch das Fenster. Es fiel ihr nach wie vor schwer, sich auf die an sich ganz simple, ja geradezu stumpfsinnige Arbeit zu konzentrieren, aber das machte ihr nichts aus. Sie hörte auch gerne Rita zu, die, wie immer viel zu erzählen wusste und dabei lustig die sonnigbraunen Augen rollte und sich mit der Hand immer wieder durch das Schockoladenhaar strich. Zusammen lachten sie laut und oft und beinahe hätte Rita sie gefragt, was denn der Grund für ihre so auffällig gute Laune wäre und sie hätte es ihr sagen müssen. Es wäre unaufhaltsam aus ihr hervorgebrochen. Sie hätte ihr von dem Mann erzählt, der sie heute angerufen hatte, den sie heute abend wieder sehen, an dessen Gestalt sie sich vielleicht wieder lehnen durfte. In kindlicher Manier hätte sie aufgeregt alles erzählt. Es kam nicht dazu.
Der Chef kam herein und brachte ihnen beiden neue Aufgaben und setzte sich dann auch noch zum Arbeiten in den selben Büroraum. Nun konnten sie sich nur noch ab und zu Blicke zuwerfen, im höchsten Fall verstohlen etwas Ungehöriges einander zuflüstern, verkniffen lachen.
Nach der Arbeit ging sie wieder durch die Stadt. Lächelnd schob sie sich an den müde dahinrollenden Berufstätigen, den schlendernden Hausfrauen, den stehenbleibenden Liebespaaren vorbei. Nichts störte sie heute. Ihr Blick streifte aufmerksam suchend umher. Mit leeren Händen wollte sie nicht zu ihm kommen. Sie musste ihm etwas bringen, etwas, das bei ihm blieb, wenn sie wieder gehen musste. Blumen und Pflanzen, die sie ihm am liebsten gebracht hätte, da sie lebendig waren, verwelkten jedoch zu rasch, insbesondere in seiner Obhut, denn er würde vergessen, sie zu giessen und über die Blumen gestern hatte er sich ja auch nicht wirklich gefreut. Gewiss ein unsinniger, vermeidbarer Schmerz für sie. Sie würde diesmal klüger entscheiden, versprach sie sich.
Im Fenster eines  Geschäfts in einer engen Passage, erblickte sie einen kleinen, silbernen Drachen, der sich um einen ebenfalls silbernen Miniaturfelsbrocken wand und aussah, als blicke er wachsam umher um sogleich, wenn er eine Gefahr entdeckte, Feuer zu speien.
Sie fand den kleinen Lindwurm schön.  Er wirkte auch nicht böse oder aggressiv, eher aufmerksam, auf der Hut, wie ein guter Wachhund. Sie konnte ihn sich gut auf seinem chaotischen, mit Büchern und Papieren überhäuften Pult vorstellen, auch wenn er in dem dortigen  Durcheinander gänzlich untergehen würde. Es genügte ihr, dass er bei ihm sein würde, ob er ihn nun sah oder vergass oder nicht. Der Drache würde ihn beschützen.
Wenig später hatte sie ihn in der Tasche und ging forschen Schrittes zur Tramstation.

Den silbernen Drachen immernoch in der Jackentasche, eilte sie durch die Charlottenstrasse, in der er wohnte. Es wurde abend. Der Himmel war schwer von einem bleiernen Grau. Fest schloss sie die Hand um das Silbertier. Wie ihr das Herz in der Brust schlug. Was, wenn er nicht da war, wenn ihr ein ganz unbekanntes Dienstmädchen mit grimmigem Gesicht erst nach mehrmaligem Läuten und Klopfen die Tür öffnen würde, um ihr dann in sehr gebrochenem Deutsch und mit verächtlicher Miene mitzuteilen, dass der Herr heute nicht da sei, ausgezogen sei, nie mehr wiederkäme? Sie kannte keine Befürchtung, die sie so hilflos traurig machte, wie diese. Schon sah sie sich die Holzstufen, die sie wie im Fluge genommen hatte, wieder hinuntersteigen, leise weinend durch die schmutzigen Strassen zurückgehen, in der Strassenbahn unter Menschen sitzen, die ihr nicht helfen konnten, die vielleicht so sinnlos lebten wie sie, um dann zuhause, erschöpft und leer und erst nach langem Weinen in einen bleiernen Schlaf zu fallen, der zwar vorübergehendes Vergessen, nicht aber Heilung bringen konnte.

Aber ihre Befürchtungen trafen nicht zu. Die Tür gab ihr sofort nach und sie musste nur aufpassen, dass zwei Katzen nicht mit ihr hindurchschlüpften. Sie schob schnell die Tür hinter sich zu, die aufdringlichen Tiere mit dem Fuss so sanft wie möglich zurückdrängend. Dann betrachtete sie den Raum, lächelte über den wohlbekannten Rauchgeruch, die vertraute Unordnung. Er sass an seinem Computer, drehte sich  diesmal aber gleich zu ihr hin und sie glaubte, einen Ausdruck der Freude über sein oft so ernstes Gesicht huschen zu sehen. Sogleich kramte sie unbeholfen den kleinen Silberdrachen aus ihrer Jackentasche hervor. Sie hatte keinen anderen Halt und fühlte sich von einer plötzlichen Schwäche ergriffen. Vielleicht war es einfach die Erleichterung darüber, dass er da war.  Sie hatte Angst, dass sie gleich umfallen würde, denn ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie bald ihren Dienst verweigern.
Er aber betrachtete sie nur still und ernst. Schliesslich fiel sein Blick auf das Geschenk in ihrer Hand. Seine dichten Augenbrauen hoben sich wiederum erstaunt. Es war ihr Stichwort. "Den möchte ich Ihnen schenken. Er hat mir einfach gefallen und da Sie ja Blumen nicht sonderlich zu mögen scheinen..." Sie erschrak über den ungewohnt schrillen Klang ihrer Stimme. Er erhob sich und trat ihr entgegen. In kindlicher Manier streckte sie ihm den Drachen mit ausgestrecktem Arm entgegen. Sie ärgerte sich über sich selbst, auch darüber, dass alle Worte ihr verloren gingen. Er nahm das Geschenk, nur leicht mit den Fingern die ihren streifend, und betrachtete es eingehend. Sie fühlte sich so kindisch, dass sie gerne wieder gegangen wäre, dass sie fast hoffte, er würde ihr mitteilen, er habe heute keine Zeit, er müsse noch schreiben, studieren, arbeiten. Stattdessen lächelte er. Sie wurde so schwach, dass sie sich auf das wiederum zerwühlte Bett setzen musste.
"Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?" Er setzte sich neben sie. "Nein, mir ist ganz schwindelig. Es kommt wohl von den vielen Stufen draussen. Und die Katzen... die Katzen sind schlimm..." Sie wusste nicht weshalb, aber der Gedanke an die Katzen verursachte ihr Übelkeit.
"Ach, ärgern Sie sich nicht über die Katzen. Sie sind oft meine einzige Gesellschaft hier oben. Es sind doch wunderschöne Tiere." Nun blickte er wieder auf den Drachen in seiner Hand. "Und warum bringen Sie mir den?" fragte er und sie hätte nun hilflos zu stottern begonnen, wenn nicht der freundliche, duldsame Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen wäre. "Er soll Sie beschützen. Es ist ein Schutzdrache. Einen Wachhund würden Sie ja nicht wollen, da er gewiss die Katzen vertreiben würde." Sie versuchte in heiterem Ton zu sprechen, spürte nun aber ein regelrechtes Verlangen danach, ihm einen Wachhund zu schenken. Vielleicht einen kräftigen Rottweiler oder einen schönen, geschmeidigen Dobermann. Was für eine Erleichterung schien es ihr, ein für allemal von diesen Katzen befreit zu sein. Sie konnte ihren plötzlichen und heftigen Widerwillen vor diesen Tieren selbst nicht begreifen. Unwillkürlich malte sie sich aus, wie ein solcher Wachhund eine der Katzen förmlich in Stücke riss.
"Aber wovor wollen Sie mich denn beschützen?" fragte er nun und lachte ein wenig. Ein schönes, tiefes Lachen.
Sie bemühte sich, unbesorgt und fröhlich zu klingen: "Ach, zum Beispiel vor den Dingen, die Sie so studieren, vor bösen Gedanken und Träumen. Vor all dem Schrecklichen, mitdem Sie sich schon von berufswegen befassen müssen." "Aber es ist doch nichts Schlimmes, nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Wenn man die Dinge genau betrachtet, gerade die beängstigenden, so kann dies doch auch dazu führen, dass man seine Angst verliert und neue Sichtweisen gewinnt", meinte er ruhig und sah sie etwas besorgt an. Sie wusste nicht, wie blass sie aussah, fühlte aber, dass sie kaum noch die Kraft hatte, um hörbar zu sprechen. Leise und wie zu sich selber sagte sie: "Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass, wenn man die Erkenntnisse aus den verschiedenen Wissenschaften zusammenfügte, ein so schreckliches Bild, eine so grauenvolle Wahrheit an's Licht käme, dass die Menschheit entweder dem Wahnsinn anheim fiele, oder sich wieder in die Unwissenheit einer Art Steinzeit flüchten müsste." Der lange Satz, den sie nur mit grosser Willensanstrengung hervorgebracht hatte, gab ihr nun doch etwas Kraft, da sie an ihn glaubte. Sie blickte in seine Augen. Grosse, seelenvolle, dunkle Augen unter langen Wimpern. Sie ruhten fast zärtlich auf ihr.
Man verzieh ihr. Man verzieh ihr, dass sie hier bei ihm war, in seinem hochgelegenen Zimmer krank und elend auf seinem Bett sass und ihn zugleich unbedingt beschützen wollte.
"Wo du nur diese Dinge liest", sagte er und schüttelte leicht den Kopf. Das "Du" drang in sie wie eine direkt in die Vene gespritzte Droge und entfaltete sofort seine Wirkung. Ihr Herz begann hörbar zu schlagen. Leben kam in sie. "Ich glaube, es war "Lovecraft"", sagte sie. "Lovecraft", wiederholte er und nickte und legte die Hand auf ihre Schulter. "Nun, ich werde deinen Drachen behalten. Dir zuliebe." Sie lächelte, mehr aber der Berührung als der Worte wegen, denn diese kränkten sie doch. Er sprach ja, als hätte sie ihm etwas sehr Hässliches, eigentlich Unzumutbares, vor allem aber völlig Überflüssiges mitgebracht, das er nun, nur ihr zuliebe, behalten würde.
"Gehen wir doch etwas hinaus! Wir könnten doch ein wenig spazieren gehen. Es wäre schön!" schlug sie vor, stand auf und nahm, in plötzlichem Übermut seine Hand in die ihre, als wolle sie ihn vom Bett hochziehen.
"Es geht leider nicht. Gerade heute bin ich so gut vorangekommen mit meinem Buch. Ich kann jetzt nicht einfach die Arbeit so lange unterbrechen. Schon morgen könnte mich das Glück wieder verlassen", sagte er und erhob sich. "Dann erzähl mir doch mehr von deinem Buch", schlug sie vor, bemüht, ihre Enttäuschung zu verbergen. "Wovon handelt es denn?" Er entzog ihr seine Hand und ging in langen Schritten zu seinem Schreibpult. Erst dort drehte er sich wieder zu ihr um. "Ich versuche, die Wahrheit zu finden", sagte er dann ernst und nachdem er sie eine Weile still betrachtet hatte: "Die Wahrheit in den Geschöpfen Gottes." Dann setzte er sich wieder an seinen Computer. Den Drachen stellte er neben die Tastatur. Sie nickte unwillkürlich einmal mit dem Kopf. Der Beschützer war bei ihm. Wenigstens damit konnte sie zufrieden sein. Nun begann er auch schon zu tippen.
"Nun, dann wünsche ich gute Nacht", sagte sie leise und stand auf. Ihre Beine waren nun wieder die alten, zuverlässigen. "Das wünsche ich Ihnen auch. Und schlafen Sie gut, Sie brauchen es. Ich habe mir heute bei Ihrem Anblick etwas Sorgen gemacht.Nicht, dass Sie noch krank werden." Er hatte nur kurz zu ihr hingeblickt. Nun war er bereits wieder in die Arbeit vertieft. Sie war verletzt, vor allem durch die Höflichkeitsform, mit der er nun alle Vertrautheit, die heute doch zwischen ihnen hätte aufkommen können, wieder in weite Ferne rückte. Der bissige Unterton, den sie beabsichtigt hatte, misslang ihr, als sie sagte:"Ich hoffe, Sie finden sie, Ihre Wahrheit", sich dann rasch umdrehte, durch die Tür ging und diese schwungvoll  hinter sich zuschlug. Sie bereute ihren heftigen Abgang schon nach den ersten Holzstufen, die sie nun, begleitet von den zwei ausgesperrten Katzen, besonders eilig hinunterstieg.

 
                                                                        3

"Hallo?"
"Hallo, wie geht es Ihnen?"
"Danke, gut. Und Ihnen?"
"Ach, auch gut. Ich...ich wollte mich entschuldigen."
"Weshalb denn?"
"Nun...wegen gestern. Ich...ich war....Mir war nicht so gut."
"Aber das macht doch nichts."
Pause
"Wie kommen Sie mit dem Buch voran?"
"Sehr gut. Ich stecke allerdings noch immer bis zum Hals in der Arbeit. Aber es ist hochinteressant. Ich habe bereits neue Erkenntnisse gewonnen."
"Das freut mich."
Pause
"Könnte ich heute abend vorbeikommen?"
"Ich muss wirklich arbeiten. Es geht nicht. Tut mir leid."
"Ach..."
"Wissen Sie was? Ich rufe Sie an, wenn das Schlimmste überstanden ist."
"Nun... in Ordnung. Sie rufen mich an.
"Passen Sie auf sich auf, ja?"
"Ja... auf Wiedersehen."


Mit Rita im Büro. Sie fand keine Erleichterung in Ritas fröhlicher Gesellschaft. Seit Tagen hatte er nicht angerufen. Ihr letztes Telefonat war schon fast eine Woche her und nocheinmal anrufen wollte sie nicht. Sie wusste, dass sie ihn nur stören würde bei der Suche nach einer rätselhaften Wahrheit, die sie nun bereits als etwas weit Wichtigeres als sie es war akzeptieren konnte.
Auf dem Heimweg kam sie, vielleicht zufällig, vielleicht aus unbewusster Absicht, an dem Café "Kastanienbaum" vorbei, wo sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte alleine an einem Tisch gesessen und geraucht. Es war ihr damals, als sähe sie einen Freund aus der Kindheit, den sie einst sehr gern gehabt hatte, oder gar einen verlorengeglaubten Teil ihrer selbst.
Als sie ihn - er wollte gerade das Lokal verlassen - ungeschickt und etwas Kaffee verschüttend angesprochen hatte, schien er gar nicht überrascht und fügte sich in die Tatsache, dass sie fortan miteinander zutun hatten, wie man etwas nicht weiter Beunruhigendes, Unabwendbares, völlig Natürliches annimmt, wenn man an Körper und Seele gesund ist.
Jetzt fand sie sich dicht vor der Glasfront dieses Cafés und fühlte nichts als schier unerträglichen Mangel. Sie hatte bereits jeden einzelnen Gast so auffällig gemustert, dass diese nun drinnen über sie zu tuscheln begannen und genervt zurückstarrten. Sie aber legte den Kopf an die Scheibe und wünschte, die angenehme Kühle käme, statt vom Glas, von einer erlösenden, tief in ihre Stirn eingedrungenen Kugel.

Zuhause lebte sie weiterhin ein stilles Leben. Am Tisch lachte und scherzte sie ein wenig, oder versuchte es zumindest. Sie wollte nicht, dass die Eltern, brave Leute, die sich leicht Sorgen machten, ihr Verhalten auffällig fanden und dadurch belastet würden. Sie hatten schon genug finanzielle und familiäre Sorgen.
Es fiel ihnen auch gar nichts auf. Sie freuten sich darüber, dass die Tochter nun ihr eigenes Geld verdiente, dadurch eigentlich selbstständig war und somit auch Miete und Haushaltskosten mittragen konnte. Mehr wurde von ihr nicht verlangt. Damit waren sie vollauf zufrieden.
Dennoch gelang es ihr nicht immer, unauffällig zu bleiben. Einmal war sie in der Waschküche zusammengesunken und fand sich unfähig, wieder aufzustehen, irgend etwas zu tun. Sie lag einfach da und starrte an die Decke bis ein Nachbar, ein sehr freundlicher, korrekter junger Mann, sie fand und sich sofort zu ihr hinunterbeugte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, sie zum Aufstehen zu bewegen, hatte er sie behutsam hochgehoben und sie nach oben in ihre Wohnung gebracht. Die Eltern waren damals beide bei der Arbeit, also hatte er sie in ihr Bett gelegt, ihr ein Glas Wasser gebracht, mit ihr geredet, bis sie ein wenig zu sich gekommen war und als sie dann lautlos zu weinen begonnen hatte, hatte er noch lange ihre Hand gehalten und immer wieder gesagt, dass er sie sehr gern habe, dass alles wieder gut werden würde und dass sie ihm alles sagen könne.
Sie hatte kaum verstanden, was er sagte. Sie war nur zu hilflosem Lächeln fähig. Er war ihr ein unbegreiflicher Engel. Was ihr aber noch weit unbegreiflicher war, war die Tatsache, dass er sie nicht gerettet, nicht erlöst hatte, denn als er die Wohnung verlassen hatte um zur Arbeit zu eilen, war ihr kränker und einsamer zumute gewesen als alle Tage zuvor.
Sie schleppte sich nur mit grösster Mühe und äusserster Verbissenheit täglich zur Arbeit. Sie sass die Stunden ab. Ritas fröhliche Gesellschaft war ihr schier unerträglich. Manchmal aber, wenn sie sie verstohlen anblickte, oder wenn sie in die frohen, grossen von keiner Sorge getrübten Augen des einfachen Mädchens blickte, wurde sie von dem Wunsch Rita zu sein, so stark ergriffen, dass sie sich mit beiden Händen an ihrem Pult festhalten musste, um nicht in Stücke zu brechen.

An den Abenden wartete sie auf seinen Anruf. Es rieb sie auf, es zerbrach ihr förmlich die Seele. Manchmal glaubte sie, sie höre ein stetiges Splittern und Krachen in Kopf und Herz. Manchmal war ihr im Traum, als höre sie tausend Telefone klingeln. Es klingelte aber kein einziges. Nicht im Büro, nicht zu Hause. Es war geradezu, als hätten die Apparate unter einander ausgemacht, dass sie nun gerade seine Stimme nicht mehr transportieren wollten, denn wenn es doch einmal klingelte - ein Ereignis dass ihr alle Nerven bis zum Zerreissen spannte - dann war immer jemand anders dran. Sie begann sich auszumalen, was für Möglichkeiten es gäbe, sich diese Leute für immer vom Leib zu halten, während sie freundlich und scheinbar ruhig mit ihnen über für sie fast bis zur Unerträglichkeit Belangloses sprach.
Manchmal dämmerte ihr, dass sie sich in ein gnadenloses Leid geradezu verbissen hatte und nun mit den Zähnen darin feststeckte und den Kopf nicht mehr frei bekam. Es half nichts.
Sie wartete. Sie wartete verbissen und böse. Sie wartete traurig und leise tausenderlei Vorwürfe formulierend. Sie wartete noch, wenn alle schliefen und dachte an die Holztreppe, die still im Finsternn lag. Die schreckliche Treppe, die zum Licht führte, zu seinem Licht. Sie benötigte sie nicht mehr. Sie flog wie ein Vogel zu seinem Fenster hinauf, jede Nacht im Traum.


                                                                         4


"Hallo?"
"Hallo! Ich... ich musste Sie anrufen. Es... es tut mir leid."
"Schon in Ordnung. Ich freue mich!"
"Wirklich? Sie freuen Sich? Dann sind Sie mit der Arbeit vorangekommen?"
"Ja, ich habe tatsächlich Erstaunliches festgestellt. Aber das kann unmöglich am Telefon besprochen werden. Könnten Sie nicht heute abend vorbeikommen?"
"Ja, ich komme! Natürlich komme ich!"



Sie hatte nicht aufgepasst. Zu eilig hatte sie an diesem Abend seine Tür weit aufgerissen. Schon war ihr eine Katze zwischen den Füssen hindurch in die Kammer geschlüpft.
"Oh nein! Die Katze!" Mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht sah sie mit an, wie das flinke Tier quer durch den Raum sprang um schliesslich mit einem grossen Satz auf seinen Schreibtisch zu gelangen und dort Notizblätter und Ausdrucke achtlos herunterzufegen. Es folgte ein weiterer Sprung auf das übervolle Bücherregal. Bedeutende Werke gerieten gefährlich in's Wanken. Ein kleiner Band fiel zu Boden. Es war "Le Petit Prince" von Saint-Exupéry.
Er war verblüfft, verfolgte erst den Lauf des Tieres und blickte, als es sich schliesslich oben auf dem Regal hingesetzt hatte, zu ihr hin. Sie hatte ihre Hände vor den Mund geschlagen und stammelte endlos erstickte Entschuldigungen während sie ihren Körper in befremdlicher Weise hin und her wiegte. Sie war völlig ausser sich.
""Es ist doch nicht schlimm. So beruhigen Sie sich doch", sagte er dann mit seiner ruhigsten Stimme. Sie konnte aber ihren Blick lange nicht von dem geschmeidigen Tier wenden, das vom Regal auf sie herunterstarrte, dessen Blick sie zittern machte. Erst nach einer Weile war sie wieder befähigt, sich zu rühren. Sie eilte bestürzt auf die heruntergewirbelten Blätter vor dem Schreibpult zu. "Entschuldigen Sie, dass ich dieses Tier hier hereinliess! Oh bitte, verzeihen Sie mir! Warten Sie, ich bringe das wieder in Ordnung! Ich bringe alles wieder in Ordnung!" Ihre Stimme klang ihr selber fremd und schrill. Es war schon fast Geschrei. Sie hatte sich schon hinuntergebeugt um den Wust von eng beschriebenen Papierseiten aufzuheben, da war er in ein paar schnellen Schritten bei ihr, nahm sie fest bei den Schultern und richtete sie mit einem kräftigen Ruck auf. Sie weinte, obwohl sie es nicht wollte und sich selber schrecklich hysterisch fand. "Beruhigen Sie sich. Ganz ruhig. Es ist doch nichts Schlimmes geschehen." Er versuchte, ihrem Blick zu begegnen, ihr fest in die Augen zu sehen, doch sie drängte sich schon an ihn mit erstaunlicher Kraft. Ihre kleinen Hände krallten sich in seiner Kleidung fest und waren zu keinem Loslassen mehr zu bewegen.


Es war dunkel um sie. Sie lag wach und lauschte seinen gleichmässigen Atemzügen. Sie war ganz ruhig. Zum ersten Mal fühlte sie sich in der rauchigen Kammer wohl und geborgen. Ihr Herz hatte einen ruhigen Schlag und alle Angst hatte von ihr abgelassen. Kein Ersticken drohte ihr mehr. Die Katze hatte sich zu seinen Füssen eingerollt. Er schlief einen tiefen, festen Schlaf und ihr war, als könne sie auf irgendeine geheime Weise diesen Schlaf mitempfinden und dabei gleichzeitig bei vollem Bewusstsein seine Herrlichkeit und Erholsamkeit erfahren. Vielleicht, dachte sie sich, konnte sie nun wirklich an ihm teilhaben. Vielleicht würde es von nun an immer so sein. Sie lächelte in die dunkle Kammer hinein. Vom Fenster her fiel ein wenig oranges Licht auf das Bücherregal. Es kam wohl von einer der Wohnungen gegenüber. Eine Weile blieb sie vertieft in die Feierlichkeit dieses Augenblicks, dann kam ihr in den Sinn, dass es schon sehr spät sein musste. Was würden die Eltern von ihr denken? Sie konnte nicht die ganze Nacht wegbleiben. Aber was war es, das er ihr hatte mitteilen wollen? Was für eine Wahrheit hatte er gefunden? Welche neuen Erkenntnisse hatte er gewonnen? Sie schob sich langsam und vorsichtig aus dem Bett und fröstelte sofort. Die Katze erwachte, hüpfte mit einem leisen Miau auf den Boden und verschwand lautlos in einer Zimmerecke. Mühsam suchte sie nun ihre Kleider zusammen und zog sich, so leise wie möglich an. Sie war einen Moment lang versucht, seine Notizblätter mitzunehmen, liess sie dann aber doch liegen und schämte sich, ihrer diebischen Absichten wegen. Schuldbewusst beugte sie sich über den Schlafenden, küsste ihn zum Abschied, ganz leicht nur, um ihn nicht aufzuwecken und verliess dann die Kammer.

Auf der Strasse unten angelangt, ärgerte sie sich wiederum über das laute Hallen ihrer Schritte. Immer wieder warf sie nervöse Blicke über ihre Schulter, da sie das Gefühl nicht los wurde, einen Verfolger im Nacken zu haben. Da sie so oft zurückblickte erschrak sie furchtbar, als plötzlich, nahe vor ihr im Schein einer Strassenlampe, ein alter Mann in einem langen Mantel stand und ihr grimmig direkt in's Gesicht starrte. Sie stiess einen kleinen Schrei aus, für den sie sich sogleich entschuldigte: "Verzeihen Sie, Sie haben mich ziemlich erschreckt. Ich habe Sie gar nicht gesehen." Als der Mann keine Miene verzog, sie nur weiterhin böse anstarrte, murmelte sie "Gute Nacht" und ging eilig an ihm vorbei. Nach einigen Schritten schaute sie erneut ängstlich zurück. Er stand immernoch im Schein der Lampe und schaute ihr nach. "Gott sei Dank, er verfolgt mich nicht", dachte sie erleichtert. Ein Irrtum, wie sie bald darauf feststellte.
Noch im Schlaf sah sie in dieser Nacht das starre, weisse Gesicht mit den glitzernden, vogelartigen Knopfaugen, die sie böse und wissend anfunkelten. Ein Anblick, den sie niemehr vergessen würde.


                                                                        5

"Hallo?"
"..."
"Hallo? Bitte... rede doch mit mir."
"..."
"Was ist mit dir? Bist du mir böse?"
"..."
"Was war es, das du mir gestern sagen wolltest? Was hast du herausgefunden?"
"..."
"Bitte sprich mit mir. Du bist alles, alles, was ich... Du bist alles für mich. Das weisst du doch, nicht wahr?"
"..."
"Ich komme zu dir, hörst du? Ich komme jetzt gleich!"


Sie steckte ihr Mobiltelefon in ihre Handtasche und eilte zur nächsten Tramstation. Zum Glück war der Arbeitstag überstanden und sie konnte gleich zu ihm gehen. Aber das Herz war ihr schwer vor Schuld und Sorge und sein rätselhafter Anruf trug durchaus nicht dazu bei, sie zuversichtlicher zu stimmen. Warum rief er sie an, um dann kein Wort zu sagen? Sie konnte es sich nicht wirklich erklären. Nur eines wusste sie, dass sein Verhalten einen Grund haben musste und dass dieser schlimm für sie sein wird. Vermutlich war er ihr wegen ihrem gestrigen Verhalten so böse, dass er gar nicht mehr mit ihr sprechen konnte ohne in wüste Beschimpfungen auszubrechen. Also war sein Schweigen eine Gnade, eine Rücksichtnahme, für die sie ihm dankbar sein musste, dachte sie sich. Aber auch wenn er kein hartes Wort gegen sie gebrauchen würde, es drohte ihr doch der Abschied, die Eröffnung, dass sie ihn zusehr belaste, von der Arbeit abhalte, dass sie untragbar geworden sei. Zu  alledem würde sie zustimmend mit dem Kopf nicken und wenn sie irgend konnte, würde sie ihm ihr vollstes Verständnis und Einverständnis versichern. Jedoch war sie den Tränen schon nahe, als sie über die Holzstufen der altbekannten Treppe stieg. Zu ihrem Leidwesen sassen heute besonders viele Kinder dort. Einige versuchten gar, ihr den Weg zu versperren und lachten über die ihr in's Gesicht geschriebene Qual so laut und schrill, dass es ihr in Ohren und Seele weh tat. Immer grober musste sie sie beiseite schieben, immer kräftiger leisteten sie Widerstand.
 Als sie schliesslich abgekämpft oben bei seiner Tür ankam, bemerkte sie im Haus gegenüber eine Frau am Fenster, die sie still und reglos anstarrte. Sie war kräftig gebaut, stand sehr aufrecht da, die Fäuste in die Hüfte gestemmt, und trug eine weisse Schürze. Die Frau wendete den Blick nicht von ihr, obwohl doch offensichtlich war, dass sie sie bemerkt hatte.
Sie drehte sich zur Tür und öffnete. Die Tür gab nach, wenigstens das. Sie trat in seine Kammer und schloss schnell hinter sich ab mit  dem Schlüssel, der innen steckte. Mit Erleichterung entzog sie sich so dem Blick der Beobachterin.
der Raum sah weitgehend unverändert aus, bloss war darin niemand zu entdecken. Sie fühlte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen, dann ein Moment der Panik, wie sie ihn manchmal nachts am Tor erlebte, wenn sie die Klinke nicht gleich fand. Sie schloss kurz die Augen und sammelte sich. Dann betrachtete sie den Raum genauer, bewusst Einzelheiten registrierend. Sie bemerkte, dass die heruntergeworfenen Blätter zwar noch an der selben Stelle vor dem Schreibpult lagen, jedoch allesamt in kleine Schnipsel zerrissen waren. Inmitten dieser Papierfetzchen glitzerte etwas silbernes. Es war der kleine Silberdrache, der umgekippt dazwischen lag. Seltsam schien ihr auch, das seine Kleider immernoch vor dem Bett am Boden lagen. Auch der Aschenbecher, gefüllt mit ausgedrückten Zigarettenstummeln, stand noch am gestrigen Platz neben dem Bett. Der Computer war ausgeschaltet und das Schreibpult machte ganz allgemein einen ungewohnt verlassenen, unbenützten Eindruck. Wo war er? Und wo war die Katze? "Hallo!" rief sie und ihre Stimme war furchtbar schwach. Nichts regte sich. Sie lief durch das Zimmer, lüftete die Bettdecke, kniete sich nieder und schaute unter dem Bett nach. Keine Katze. Auch oben auf dem Regal war sie nicht. Das Fenster war geöffnet. Vermutlich war das geschmeidigeTier mit Leichtigkeit raus auf die Holztreppe gesprungen. Ratlos drehte sie sich um sich selber und beäugte die Szenerie. Je länger sie den verlassenen Raum betrachtete, desto heftiger wurde ihre Verzweiflung. Schon spürte sie wieder den Druck an ihrer Kehle.
  Plötzlich war da eine Bewegung. Hinter dem Schreibpult war etwas. Ein braunes Fellbüschel war zu sehen und es bewegte sich. Es atmete. "Die Katze. Es ist ja nur die Katze", sagte sie sich zugleich erleichtert und enttäuscht, doch die ungewöhnliche Grösse des Stückchens Fell, das sie erblickte, widersprach dieser Annahme. Zögerlich ging sie näher heran, um besser sehen zu können. Ihr Atem ging ganz flach. Ihr wurde bewusst, dass sie zitterte. Immer noch nur braune Fellmasse, gleichmässig atmend hinter dem Pult. Nun hörte sie auch das dazugehörige Atemgeräusch. Sie beugte sich zu dem zusammengekauerten Tier herab, da drehte es den Kopf nach ihr hin. Ein hundeähnlicher Kopf, der aber doch eindeutig nicht der eines Hundes sein konnte. Die Knochen waren in einer befremdlichen, unstimmigen Weise arrangiert. Es war über jede Beschreibung grauenerregend. Noch befremdlicher aber waren die Augen. Menschliche Augen, klein in dem grossen, unförmigen Schädel und blutunterlaufen.
Sie schrie auf und stolperte rückwärts, wie von einem wuchtigen Schlag getroffen. Automatisch drehte sie sich um und rannte zur Tür hin. Panisch drehte sie den Schlüssel. Widererwarten gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Sie rannte hinaus und schlug sie hinter sich zu und sie wäre so schnell wie noch nie die Treppen hinunter gerannt, wenn nicht die Kinder schon vor seiner Tür auf sie gewartet hätten, um ihr erneut den Weg zu versperren. Sie schrien und lachten, hielten sich bei den Händen und bildeten so eine bewegliche, lebendige menschliche Kette. Sie lehnte sich schwach gegen die geschlossene Tür und beruhigte sich allmählich. Fast war sie froh um die lärmige Gesellschaft der Kinder. Sie bemerkte auch, dass die Frau in der weissen Schürze nicht mehr am Fenster stand. Mit aller Mühe, suchte sie nach Erklärungen. Sie musste sich doch getäuscht haben. Es war gewiss nur ein Hund, vielleicht irgendeine besonders abnorme Züchtung, von der sie noch nie gehört hatte. Vielleicht hatte er immerschon einen Hund gehabt und sie hatte es nicht gewusst, denn, dies kam ihr nun schmerzlich in's Bewusstsein, sie wusste ja nichts von ihm. Oder die Katzen waren ihm nun doch auch lästig geworden und er hatte sich diesen Hund zugelegt. Er selbst war bestimmt nur kurz ausser Haus, vielleicht um Zigaretten zu holen. Bestimmt würde er jeden Moment die Treppe heraufkommen, souverän die Kinder vertreiben und sie dann sehen. Und dann... Sie wollte nicht weiterdenken.
Er kam aber nicht. Die Kinder begannen nun, immer näher zur Tür zu drängen. Immer schroffer musste sie sie davon abhalten, in die Kammer einzudringen. Schliesslich trat sie einem so heftig gegen das Bein, dass es laut zu weinen begann. Die kurze Aufruhr, die entstand, nutzte sie, um schnell zurück in die Kammer zu schlüpfen und die Tür hinter sich abzuschliessen. Und wenn sie auch riskierte, von dem reichlich seltsamen Hund getötet zu werden, so war ihr das immer noch lieber, als ihn sagen zu hören, dass er sie nie mehr sehen wolle.
Sie erschrak sogleich erneut. Die Kreatur war etwas hinter dem Pult hervorgekommen. Sie kauerte am Boden und schaute sie an. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, sie ebenfalls anzusehen. Sie fand keine Worte für das Grausen, dass die seltsame Missgestalt in ihr weckte.
Sie wollte den Blick abwenden und wurde davon nur durch die Augen des Tieres abgehalten. Diese hatten etwas so Waches, Menschliches an sich, dass sie ihr Entsetzen noch vergrösserten. Sie konnte nicht aufhören, diese ab und zu blinzelnden Augen anzustarren. Sie waren tief und dunkel, von langen Wimpern umsäumt.
"Oh Gott", sagte sie leise und fühlte dann, wie ihr Kopf leicht wurde. Schwärze umspühlte sie, und der Boden kam auf sie zugestürzt.

Als sie wieder zu sich kam und sich benommen umsah, entdeckte sie, dass das Tier wieder halb hinter dem Schreibpult verkrochen war. Nur die vordere Hälfte lugte hervor. Es schaute sie immernoch an, die unsägliche Schnauze auf die Vogelklauen gelegt. Wieder erstarrte sie, hielt aber dem Blick stand, konnte sich schliesslich von diesen Augen gar nicht mehr losreissen, so sehr klammerte sie sich nun an das einzig Vertraute, das sie an der Kreatur wahrnehmen konnte. "Du bist immernoch da. Gott sei Dank, du bist immernoch da", murmelte sie. Es gelang ihr, sich aufzurappeln und einige Schritte auf das Wesen zuzumachen. Es zog sich weiter hinter das Schreibpult zurück, je näher sie ihm kam. Es gebärdete sich, als hätte es Furcht vor ihr. Ihr Herz  brach, doch sie kniete dennoch nieder und streckte die Hand nach ihm aus. Es zuckte zunächst zurück, blieb dann aber still. Sie griff in das dichte Haarkleid. "Jetzt noch muss ich dir nachlaufen", schluchzte sie, zog dann das Tier zu sich heran. Es gab ihr nach und liess sich von ihr in die Arme schliessen. Ihre Tränen benetzten das befremdlich borstige Fell. Viele Stunden verweilten beide in dieser Umarmung.

In der Nacht, zuhause in ihrem Bett, hatte sie einen fürchterlichen Traum. Sie träumte, das Tier spreche zu ihr in schrecklichen, unmenschlichen Lauten, die wie eine blasphemische Karikatur seiner Stimme klangen. Es hörte nicht auf wütende Vorwürfe hervorzustossen:
"Sieh, was du getan hast, du törichtes Weib! Zum Tier hast du mich gemacht! Nie konntest du mir aufrecht gegenübertreten! Nie kamst du als erwachsene, ebenbürtige Frau zu mir! Als Kind kamst du! Als ein kleines, hilfloses Geschöpf und bist doch in Wahrheit eine ausgewachsene Frau, gesund und bei Kräften! Aber das verbirgst du lieber. Das soll niemand wissen. Lieber unterwirfst du dich, gibst dich auf. Verführtest mich auf deine widerliche, kindliche Art. Machtest mich zum Täter, zum Tier, zu deinem Schreckgespenst! Hättest du nicht diese unglückseligen Angewohnheiten, an denen du beharrlich festhältst, ich hätte dir die Wahrheit zeigen können und du hättest deine schlimme Angst verloren. Ich hätte dir etwas anderes geben können als die Verzweiflung, den ewigen Nihilismus, in den du dich so bereitwillig verbeisst.  Du glaubst jedoch nur an das, was du in den Händen, was du zwischen den Zähnen hast. In niedrigstem Materialismus bleibst du verhaftet. So unreif, so irregeleitet bist du! Nun hast du auch mich in dein Unglück hinabgezerrt! Wärest du aufrichtig gewesen, wärest du nur du selbst gewesen, du hättest mir meine Menschlichkeit nicht genommen! Du hättest mich nicht zum Tier gemacht!"

Sie erwachte laut weinend. Schon kam die Mutter mit wehendem Nachtrock in ihr Zimmer gestürmt. "Kind! Mein liebes Kind!" sagte sie voller Sorge und setzte sich auf das Bett. Die Träumerin nahm sich sofort zusammen, wischte schnell mit dem Handrücken die Tränen weg und erklärte dann beinahe heiter, dass sie nur schlimm geträumt habe und dass es ihr schon wieder gut gehe. Durch ihre sachliche, klare Ausdrucksweise versuchte sie, der Mutter die Sorge zu nehmen, die aber weiterhin unverändert in deren Gesicht stand.
"Ich mache mir grosse Sorgen um dich. Schon lange", sagte nun die Mutter leise. "Es ist eine Veränderung mit dir passiert in der letzten Zeit und ich frage mich, wo nur meine Tochter geblieben ist, denn sie fehlt mir sehr." Ihre letzten Worte gingen in Tränen und Schluchzern unter.
Bestürzt nahm sie die Hände der Mutter in die ihren und indem sie all ihre noch verbliebene Kraft aufbrachte und die aufsteigenden Tränen trotzig mit den Zähnen zerbiss, sagte sie: "Ich werde wieder die Alte sein. Momentan bin ich einfach etwas durcheinander. Die Arbeit ist eben doch anstrengender, als ich es erwartet habe. Aber ich gewöhne mich schon daran. Es ist auch gar nicht schlimm. Es geht mir gut und ich werde wieder zu mir zurückfinden, besser noch, ich werde stärker werden als ich es je war", und um dies zu bekräftigen und auch, um sich selbst zu überzeugen, drückte sie fest die Hände der Mutter und machte, obwohl sie hatte lächeln wollen, ein ganz verbissenes Gesicht.


                                                                      6


Er rief nicht an, doch es zog sie dennoch wieder zu seiner Kammer. Sie fand sich nach der Arbeit in der Charlottensrasse wieder, ohne das sie genau begriff, wie und warum sie nun dahin gekommen war. Es wurde stetig kälter und immer früher dunkel. Schon jetzt lag das Treppensystem weitgehend im Finstern und in den meisten Wohnungen rund herum brannten die Lichter. Seine Kammer war dunkel. Sie stieg zu seiner Tür hoch, froh darüber, dass die Kinder nicht draussen waren.
Drinnen zündete sie das Licht an und schaute sich um, ohne ihn zu entdecken. Plötzlich nahm sie eine Bewegung war und drehte sich zum offenen Fenster, durch das die Kreatur in diesem Moment  von draussen hereinkam. Die Bewegungen des Untieres, an dessen Anblick man sich auch nicht gewöhnte, wenn es still sass, verursachten ihr Übelkeit. Es ignorierte sie zunächst und kaute, wie ein Hund auf dem Boden kauernd, an etwas herum. Sie war dankbar, dass sie nicht erkennen konnte, was es war. Andererseits hatte sie sich doch Sorgen gemacht, wie das Geschöpf sich ernähren konnte. Sie beschloss, ihm das nächste Mal Fleisch mitzubringen, denn die langen Fangzähne liessen keinen Zweifel daran, welche Nahrung ihm schmeckte.
Sie setzte sich aufs Bett und wartete. Nur hin und wieder schaute sie es an, bemühte sich, in seinen Augen zu lesen. Doch diese schienen ihr auch nicht mehr so vertraut wie beim letzten Besuch, hatten nun etwas Wildes, einen Tierblick. Dennoch versuchte sie, sich ihm zu nähern als es seine Beute aufgefressen hatte. Es zuckte nicht zurück und liess zu, dass sie mit der Hand immer wieder langsam durch das Fell fuhr, schlussendlich sich zitternd nah an das Tier herandrückte, als wolle sie ganz in dem Fell verschwinden und so blieb bis es wiederum tiefe Nacht war. Als das letzte Licht, das noch in einer der umliegenden Wohnungen gebrannt hatte, erlosch, wachte sie auf aus ihrem Trancezustand, löste sich von dem Geschöpf und stolperte aus der Kammer, ohne sich nocheinmal umzusehen.
Am nächsten Tag, sie verliess gerade ihr Haus, um zur Arbeit zu gehen, begegnete sie im Treppenhaus dem Nachbarn, der sie einmal aus der Waschküche in die Wohnung getragen hatte. Sie vermochte nicht, ihm in die Augen zu schauen. Dennoch wollte sie sich bedanken und tat dies leise und vor sich auf den Boden starrend. Der Nachbar aber erwiderte kühl, dass es doch selbstverständlich sei, dass ein Nachbar dem andern helfe, dass er aber glaube, dass es ihr immernoch nicht gutgehe und hoffe, dass sich dies bald ändern würde, obwohl er nicht wisse, woran sie leide, denn sie wolle es ihm ja nicht sagen. Dann eilte er mit schnellen Schritten hinaus und sie nickte, vollkommen einverstanden mit dem Kopf und vermisste lediglich die Ohrfeige, die ihrer Meinung nach diesen Worten hätte folgen sollen.

Abends war sie wieder in seiner Kammer. Sie hatte eine  Wurst und ein Stück rohes Schweinefleisch mitgebracht. Zudem wollte sie eine Schale mit Milch aufstellen. Gerade war sie dabei,  auf seinem Schreibpult das Fleisch auszupacken, als das Untier mit einem Satz auf das Pult setzte und ihr mit einer einzigen schnellen Bewegung des scheusslichen Kopfes, das Fleisch unter den Händen wegriss. Dabei fügte es ihr mit seinen langen Fangzähnen blutende Kratzer zu. Sie schrie kurz auf und zuckte zurück, bestaunte dann lange still ihre leicht verletzten Hände. Langsam schüttelte sie den Kopf. Das Tier zerrte mit befremdlichen Knurrlauten an seinen Fleisch . Sie betrachtete es ausgiebig, ging dann zum Fenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Überall draussen brannten die Lichter, gelbe, rote und orangefarbene, grosse und kleine. Der Himmel war von einem ins Violett spielenden Blau. Sie seufzte über das schöne Bild. Dann kam, wie eine Welle die Sehnsucht über sie. Sie schloss die Augen. Sie sah ihn vor sich in seiner alten Gestalt, sah den grossen, schlanken Körper dessen Bewegungen immer etwas Jugendliches an sich gehabt hatten. Sah, wie er sich zu ihr hindrehte auf seine ihr von Anfang an so vertraute Weise. Beinahe hörte sie seine Stimme, wohltuend tief und ruhig, die ihr noch so viel Wichtiges hätte sagen können. Auch sich selbst sah sie, wenn auch nur in vagen, andeutungsweisen Schatten. Ein anderes, ein neues Selbst, ungebrochen und stark.
Sie würde das alles rückgängig machen können, dachte sie dann. Es musste möglich sein ihm seine Menschlichkeit zurückzugeben, wenn sie nur einmal, einmal an sich zu glauben vermochte. Sie spürte die Möglichkeit der Rettung so deutlich, so nahe und doch schien sie hinter einer Wand, hinter einer Scheibe zu liegen, wie das Lichtermeer draussen, schien doch unzugänglich, wie seine Erkenntnisse, die in winzige Papierfetzen zerrissen sich allmählich in der ganzen Kammer verteilten.
Sie sammelte ihre letzten Kräfte. Dann drehte sie sich zu dem Tier hin. Es frass immernoch an dem Fleisch. Sie beugte sich zu ihm hinunter und riss ihm das rohe Fleischstück weg und als es sie ansah aus Augen, die nichts Menschliches mehr in sich hatten, schrie sie: "Hör auf! Hör auf! Du bist kein Tier! Das ist alles nicht richtig so! Ich weigere mich, dich länger in solcher Gestalt wahrzunehmen! Hörst du? Ich weigere mich!" und wütend packte sie den Kopf der Kreatur und fixierte die fremdartigen Augen. Es knurrte und hörte nicht auf zu knurren. Sie ignorierte es und drückte es an sich und küsste den von Verknöcherungen entstellten Kopf und flüsterte dann leise: "Du bist alles, alles, alles. Du bist alles für mich." Zuerst wehrte es sich leicht, liess sie dann aber gewähren und wiederum stolperte sie erst zu später Stunde aus seiner Kammer, ging halb bewusstlos durch dunkle Strassen, um dann zuhause in einen fiebrigen Schlaf zu fallen.



Es war in den frühen Morgenstunden. Sie schlich aus dem Haus. Ihr Herz raste auf dem Weg zu ihm. Der Himmel hing dunkelgrau über ihr. Die Häuser starrten in der frühmorgendlichen Kälte auf die einsame Fussgängerin nieder aus Fenstern wie Augen. Trübe, leere Augen. Sie aber lächelte und zitterte und ihr Schritt war leicht und schnell und fast bekam sie das Gefühl, ein wenig über dem Boden zu schweben. Er würde da sein. Sie würde ihn wieder sehen können. Sie würde nicht länger bereit sein, seine Verwandlung hinzunehmen. Sie würde ihn wieder als Mensch wahrnehmen, denn auch sie hatte Kräfte. Ein Gedanke, der ihr Flügel verlieh.
Mit solcher Leichtigkeit nahm sie die Treppenstufen, mit frischem Schwung öffnete sie seine Tür. Sie musste das Licht anmachen, da es noch zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Schon glaubte sie, unter der Bettdecke zeichne sich die Form eines menschlichen Körpers ab, da sah sie die Kreatur. Sie sass auf dem Schreibpult und starrte sie an. Das Maul war geöffnet, die Lefzen entblössten über den langen Fangzähnen noch viele kleinere, spitze Zähnchen. Die lange Zunge sah blutbefleckt aus. Sein Fell war gesträubt. Dann begann es zu knurren.
Sie verlor in einem Augenblick das bisschen Hoffnung, das sie hierher getragen hatte. Die Schultern sackten ihr schwer herunter. Die übergrosse Enttäuschung traf sie wie ein Schlag. Noch hatte sie die Kraft, zum Bett zu gehen und die Decke zurückzuschlagen. Es war nichts darunter. Sie setzte sich und legte den Kopf in ihre Hände. Das bisschen Mut, das bisschen Glaube, das sie zustande gebracht hatte, tropfte ihr förmlich zwischen den Fingern hindurch und versickerte auf dem Boden. Sie begriff nicht, wie sie ernstlich hatte denken können, es würde ausreichen, es könnte auch nur zu irgendetwas nütze sein. Das Tier knurrte und starrte sie an. So verweilten sie lange, beide unbeweglich.
Irgendwann hob sie noch einmal den Kopf um es anzusehen. Es war noch hässlicher, noch fremdartiger als je zuvor. Der Kopf wies noch mehr abnorme Deformierungen auf. Die Augen waren gelb. Schmahle Raubtierpupillen fixierten sie. Der Blick war ganz und gar entmenscht. Ein beissender Geruch ging von ihm aus, hing schon in der ganzen Kammer.
Sie hatte den Wunsch nicht mehr, sich ihm zu nähern. Alles was sie empfand, war schier unerträgliche Leere. Nichts war von ihm mehr übrig geblieben. Sie hatte ihn, sie hatte ihre Erlösung, sie hatte sich selbst durch eigene Schuld verpasst und verloren. Sie stand auf, ging auf das Pult zu, ignorierte das lauter werdende Knurren und hob den kleinen Drachen auf, der immernoch in den Papierschnitzeln lag. Eine einzelne Träne traf das Silber. Sie steckte ihn in ihre Jackentasche, drehte sich um und verliess die Kammer. Noch den ganzen Weg die Treppenstufen hinunter hörte sie das unaufhörliche, bösartige Knurren einer Kreatur, die ihr ganz und gar fremd war.




Sie erholte sich. Langsam, langsam gelang es ihr, die unsäglichen Vorkommnisse zu verdrängen. Das Vergehen der Zeit hatte auch in diesem Fall seine unleugbare Wirkung.
Sie plauderte wieder mit Rita, wie früher und hatte meist Freude an ihrer fröhlichen Art. Sie hatte sich sogar bereit erklärt, es wirklich einmal mit Grüntee zu versuchen und trank diesen nun regelmässig und ungesüsst. Tatsächlich glaubte sie, sich dadurch körperlich, und somit automatisch auch geistig, gesünder und kräftiger zu fühlen und dafür nahm sie nun gerne den bitteren Geschmack in Kauf. Immer öfter gelang es ihr, tief und traumlos zu schlafen.
Die Mutter freute sich über jedes Lächeln, jedes sorglose Geplauder und auch der Vater betrachtete sie beim Essen nicht mehr mit misstrauischen und angsterfüllten Augen.
Sie grüsste den Nachbarn nun immer mit lauter, fröhlicher Stimme und er erwiderte stets ihr Lächeln und lud sie schliesslich gar ein, mit ihm nach der Arbeit ins Café Kastanienbaum zu gehen. Ein Angebot, das sie erfreut annahm.


Nur einmal nachts wurde sie durch das unmissverständliche Klingeln ihres Mobiltelefons aufgeweckt. Sie kramte es aus der Jackentasche um zu sehen, wer denn um diese Zeit anrief. Der Anruf kam von ihm, kam aus der Kammer, an die sie schon seit langem aufgehört hatte zu denken. Das Mobiltelefon fiel ihr beinahe aus der Hand. Ein starker Widerwille ergriff sie, aus dem schnell ein regelrechtes Grauen wurde. Mit zitternden Fingern schaltete sie das Gerät aus. Dann lag sie noch lange wach, haltlos schlotternd, in kaltem Schweiss gebadet. Es war sein letzter Anruf.

Am nächsten Tag warf sie das tragbare Telefon in einem unbeobachteten Moment aus dem Bürofenster. Es war immerhin das fünfte Stockwerk. Sie betrachtete genussvoll, wie es unten auf dem Asphalt in winzige Einzelteile zersplitterte. Dann ging sie leichten Schrittes in die kleine, zum Büro gehörige Küche, um zusammen mit Rita eine Tasse Grüntee zu trinken.


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Candice Brogle).
Der Beitrag wurde von Candice Brogle auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Candice Brogle als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Frieling`s Tierleben 2007 von Jutta Wölk



Geschichten für Tierliebhaber, 1.Auflage 2007.
Eine sehr schöne Geschenkidee für tierliebende Menschen und auch Andere.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Unheimliche Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Candice Brogle

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Leben und Tod des Thomas von Wartenburg, I. Teil von Klaus-D. Heid (Unheimliche Geschichten)
Kinder spielen Politik von Norbert Wittke (Leben mit Kindern)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen