Nicole Werner
Damaschkeplatz
Jeden Morgen und jeden Abend fahre ich mit der Straßenbahn in die Stadt. Meistens tue ich dabei gar nichts. Viele Leute lesen oder hören Musik. Ich sehe mir diese Leute an. Wie sie nervös mit dem Fuß wippen oder gespannt mit ihren Haaren spielen. Oder ich sehe aus dem Fenster. Die Stadt verändert sich mit jedem Tag. Nie ist sie genau so wie am Vortag.
Eines Tages am Damaschkeplatz, ich schaue verträumt aus dem Fenster, muss ich feststellen, dass da jemand zurückblickt!
Wie gleichgültig manche Menschen doch sind! Aber der Junge starrt noch immer in meine Richtung. Er ist nicht sonderlich hübsch, soweit ich das von hier aus sehen kann.
Inmitten all dieser gleichgültigen, ignoranten Menschen sitzt jemand und starrt zu mir herüber! Die Straßenbahn fährt an. Er blickt mir hinterher. Ich drehe mich nicht um. Aber ich kann seinen Blick genau in meinem Nacken brennen fühlen. "Es wird Frühling"denke ich mir.
Am nächsten Tag sitze ich wieder in der Bahn. Gleiche Linie, gleiche Richtung. Gerade beobachte ich einen Jungen, der beim Lesen die Zeilen mit dem Zeigefinger verfolgt. Dabei spielt seine Zunge um die Lippe. Er ist ganz gefesselt.
Damaschkeplatz. Der Lesende steigt aus. Ich starre den leeren Sitz an. Schon komisch- wie schnell da wieder jemand sitzt. "Wie das Leben"schießt es mir durch den Kopf.
Auf einmal merke ich dieses Brennen wieder. Es kribbelt so angenehm an meiner Wange. Aber wer...? Ich sehe aus dem Fenster. Da sitzt er wieder und sein Blick ruht auf mir. Er lächelt. Ich bin wie versteintert.
Die Straßenbahn fährt an. Diesmal drehe ich mich um und lächele ihm hinterher. Irgendwie scheinen wir miteinander verbunden zu sein. Als würden wir auf eine eigene Art zu kommunizieren.
In der nächsten Woche hält er mir weiße Rosen an das Fenster. Ich liebe weiße Rosen. Ich entschließe mich auszusteigen. Ich will zu ihm. Herausfinden, wer er ist. Wer ist er? Die Türen schließen. Zu spät.
Am nächsten Tag stehe ich erwartungsvoll in der Bahn. Ich will zu ihm!
Ich sehe keinen lesenden Jungen, keine Mutti mit Kind. Ich warte.
Damaschkeplatz. Da kommt seine Bahn.
Ich suche jedes Fenster ab. Drücke den Türöffner, renne hinüber. Laufe jeden Wagon ab. Aber er ist nicht da. Wo ist er?
Auch in den nächsten Wochen sehe ich ihn nicht wieder. Er fehlt mir.
Ich fahre jeden Tag mit seiner Linie. Aber nichts.
Einmal finde ich ein Blütenblatt. Von einer weißen Rosen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2006.
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