Lieber Papa
Heute vor einer
Woche bist Du im Krankenhaus gestorben. In den frühen Morgenstunden,
einfach so, durch ein Gerinnsel in Deiner so furchtbar kranken Lunge,
die Dich nicht mehr hat atmen lassen, die Dich in den letzten Wochen
so dünn hat werden lassen, und so müde. Und so mutlos. Ich
wollte Dir noch so viel sagen, und das tue ich jetzt. Zuerst ist Dein
Körper verschwunden, es war eigentümlich heute Mittag von
Mama zu hören, dass Deine Urne heute vom Krematorium zurückkam.
Es hat eine Weile gedauert bis ich begriffen habe, was das bedeutet.
Ich habe es in den letzten Tagen als Trost empfunden, Deinen Körper
in einem kleinen Fach zu wissen, kalt und nicht mehr mein Papa, aber
„begreif-bar“. Vor einer Woche konnte ich Dich noch berühren,
streicheln, an Deiner Schulter weinen und Dich lieb haben, doch Du warst
schon kalt und Dein Bewusstsein konnte mich nicht mehr spüren.
Eine Woche davor konntest Du das noch, konnte ich mich noch von Dir
verabschieden, bevor Du wieder schlafen wolltest. Nun ist Dein Körper
Asche in einem Gefäß und mir wird so schmerzhaft deutlich,
wie vergänglich und kostbar unser Leben ist. Wie kostbar Du mir
warst. Und immer noch bist.
Ach Papa, es ist
so egoistisch, dass ich mir wünsche, Dein Bewusstsein könnte
noch eine kleine Weile hier bei uns verweilen. Damit Du mich noch hören
kannst. Damit Mama nicht so allein ist und die Lücke die Du hinterlässt
nicht so furchtbar groß.
Es ist so traurig,
wenn Die Kinder nach Dir fragen und manchmal tut es weh. Seit drei Jahren
begleite ich nun kranke und sterbende Menschen und zuweilen denke ich,
dass dies nur eine Vorbereitung auf die jetzige Zeit war. Und ich bin
mir nicht sicher, ob ich dabei stark bleiben kann, weil andere mich
brauchen. Der Buddhismus gibt mir Kraft dabei, weil der mich die Vergänglichkeit
gelehrt hat. Trotzdem kann ich Mama nichts von ihrem Kummer nehmen,
und ich fühle mich dann so traurig. Es denken so viele Menschen
an Dich! Viele unserer Freunde waren betroffen, auch jene, die Dich
nur aus meinen Erzählungen kannten! Wir haben gemeinsam für
Dich meditiert und ich weiß, dass dieser Segen Dich erreicht hat.
So viele Kleinigkeiten
erinnern mich an Dich; ein Fußballspiel im Fernsehen, Deine Lieblingspralinen
im Geschäft, ein Sofakissen und all die merkwürdig anmutenden
Dinge, die jetzt nach Deinem Übergang zu erledigen sind. Wir haben
eine Urne und Blumen für Dich ausgesucht, Mama und ich. Ich denke,
es wird Dir gefallen, wir geben uns Mühe, dass nichts verlogen
oder überkanditelt ist, so, wie es Dir wichtig war.
Lieber Papa,
neulich konnte ich
nicht mehr weiterschreiben, so weit war ich noch nicht, daher will ich
heute einen neuen Anlauf starten. Wir haben Sonntag, den 06. März,
seit gut drei Wochen bist Du nicht mehr bei uns, zumindest nicht in
der Form, wie wir Dich kannten und in den Arm nehmen konnten.
Ich weiß,
dass Lama Ole für Dich am 21. Februar das Phowa gemacht hat, Dein
Bewusstsein ist nun völlig rein und wach und ich weiß, dass
Du auf uns alle acht gibst.
Aber all die Kleinigkeiten!
Manchmal traue ich mich im Supermarkt nicht am Süßigkeiten-Regal
vorbei, ich will Dir Pralinen und Marzipan mitbringen, doch wer kann
sie jetzt noch essen?
Du glaubst nicht,
wie tapfer Mama ist. Ich weiß es doch, wie toll eure Beziehung
war, ihr seid immer mein Vorbild gewesen. Die Gemeinsamkeit ist nun
fort, sie isst allein und beschäftigt sich, wir reden oft und sehen
uns jede Woche, meistens zweimal. Du war jedoch ihre Liebe, die „zweite
Hälfte“. Es tut so weh, es ist so schmerzhaft, erkennen zu
müssen, dass man allein ist. Ich weiß ja, dass jeder Mensch
allein ist, aber nun ist sie einsam und es wird lange dauern, bis sie
nicht mehr so empfindet. Ich habe Sorge, dass sie noch kränker
wird. Wenn ich ihr nur mehr Halt geben könnte! Lieber Papa, gib
auf sie acht, sei bei ihr, gib ihr die Möglichkeit, Deine Anwesenheit
zu spüren! Ich weiß, dass Du da bist.
Ich denke oft an
meine Kindheit; als ich auf Deinem Schoß saß und von Deinem
Teller aß. Ich glaube manchmal, dass ich nur das Gemüse und
die Kartoffeln zermatscht habe, aber Du hast Dich nie beschwert! All
die bemalten Bäuche und die Zöpfchen mit Bändern in Deinen
Haaren! Wie Du uns beim Brettspiel zur Verzweiflung treiben konntest!
Mir fehlt Dein Anblick
auf dem Sofa, wenn ich zu euch nach Hause komme, Dein Brote-Teller auf
dem Esstisch neben dem verdammten Aschenbecher und der Zigarettengeruch
in der Luft. Nun schaltet niemand mehr den Sportkanal ab und ich weiß
immer, wer am Telefon ist, wenn ich bei euch anrufe.
Du fehlst mir so.
Jeden Morgen zünde
ich in der Gompa ein Licht vor Deinem Foto an, sorge für frisches
Rauchwerk und Blumen. Ich möchte das die ganzen sieben Wochen so
praktizieren, auch wenn ich weiß (und glücklich darüber
bin!) dass Du schon in den Reinen Ländern bist. Ich fühle
mich so egoistisch – manchmal denke ich, es wäre leichter,
wenn Du noch im Zwischenzustand wärst, auf dem Weg zur nächsten
Wiedergeburt, dann könnte ich leichter Deinen Geist spüren
und mit Dir reden! Nun bist Du so weit weg und ich kann Dich nicht mehr
richtig wahrnehmen.
Die Beerdigung war
seltsam. Wir holten noch die Backwaren vom Bäcker ab und fuhren
zum Haupteingang und kamen dadurch zu spät. Ich wünsche mir,
dass Du deswegen nicht verärgert warst, bin mir aber ziemlich sicher,
dass Du auf diese Art gar nicht mehr wahrnehmen kannst und alles für
Dich leicht und freudvoll ist.
Der Pater hielt
eine schöne Predigt, ich denke, sie hat Dir gut gefallen! Mir ist
nicht ganz klar, was ich von Deiner Schwester halten soll, aber ich
traurig, dass sie ihre Trauer zur Schau stellt und sich dadurch der
echten Trauerarbeit beraubt – wofür diese Show? Alle kondolenzten
anschließend noch bei mir und Franziska – alle! Eigentlich
wollten wir nur an Deiner Urne still noch einmal Abschied nehmen, aber
alle, alle kamen und ich hielt sie alle in meinem Arm und alle weinten.
Papa, Du warst so beliebt, Du warst ein Held für Willi und Berthold,
das war mir so gar nicht klar, das hat mich sehr erschüttert. Ich
konnte Onkel Herbert kaum beruhigen, ich hätte so gern mehr Zeit
für alle gehabt. Es war ein bisschen wie bei der Arbeit, echte
Gesprächsführung, dabei konnte ich selbst in diesem Augenblick
gar nicht Profi und tapfer sein!
Ich gönne mir
nicht viele Augenblicke in denen ich mich fallen lasse um um Dich zu
weinen, ich denke immer, erst sind die anderen dran und ich will es
den Kindern auch nicht so schwer machen.
Aber als am letzten
Wochenende eines der kleinen Wachtelmädchen aus der Voliere in
meinen Händen starb, kam die ganze Traurigkeit hoch und ich konnte
nicht mehr aufhören und weinte und weinte. Ich weinte Franziskas
Pullover voll und in Felix´ erschrockenes Gesicht und ich schämte
mich deswegen und weinte noch mehr.
Ich weinte auf dem
Weg in die Gompa und vor Deinem Foto, eine Stunde lang, bis keine Flüssigkeit
mehr da war und meine Augen geschwollen. Und endlich hatte ich das Gefühl,
den Verlust von Dir wahrnehmen und leben zu dürfen, die Bilder
zuzulassen, von Dir im Krankenhaus, in Deinen Strümpfen und mit
Sauerstoffmaske, hustend und so schwach und entmutigt, Dein kaltes,
friedliches Gesicht eine Woche später mit den Händen, die
mich nie mehr in den Arm nehmen können, die blaue Urne mit dem
feinen Goldrand und den Traum vom 21. März, als Du frühmorgens
an meinem Bett standest, in Deinen Krankenhaussachen mit den weißen
Strümpfen und lächeltest, so frei und froh und glücklich
und Dein Kuss war so kalt und Du hast Dich verabschiedet und sagtest,
Du wolltest uns alle noch einmal sehen, aber nun, nun müsstest
Du gehen und es ist nicht mehr viel Zeit.
Du streicheltest
mir über die Haare und Deine Hand war genauso kalt. Dann warst
Du fort.
Du bist fort, und
nun muss es ohne Dich gehen. Es wird ohne Dich gehen, das Leben hört
nicht auf, alles fließt, es geht immer weiter, und jedes Mal ein
wenig schneller, und hektischer. Wir essen, schlafen, reden, arbeiten
und die glücklichen von uns empfinden manchmal für eine begrenzte
Zeit tiefe und aufrichtige Liebe zu einem ganz besonderen Menschen.
Du warst einer dieser
Menschen, und jetzt ist unser Platz hier auf der Erde ohne Dich etwas
leerer und kälter.
Lieber Papa, ich
weiß, Du bist nicht verloren gegangen, Du bist noch da. In einem
anderen Leben oder Bewusstsein wünsche ich mir, wieder in Deiner
Nähe zu sein und Dich dann erkennen zu können als der, der
Du immer für mich gewesen bist: mein lieber Vater, der mich gelehrt
hat, nicht so schnell aufzugeben und durch tiefe innere Freude einen
Menschen als kostbar zu erkennen und lange lieben zu können. Ich
danke Dir so sehr.
Deine Tochter