Susa Nientiedt

Brief an meinen verstorbenen Vater

Lieber Papa
Heute vor einer Woche bist Du im Krankenhaus gestorben. In den frühen Morgenstunden, einfach so, durch ein Gerinnsel in Deiner so furchtbar kranken Lunge, die Dich nicht mehr hat atmen lassen, die Dich in den letzten Wochen so dünn hat werden lassen, und so müde. Und so mutlos. Ich wollte Dir noch so viel sagen, und das tue ich jetzt. Zuerst ist Dein Körper verschwunden, es war eigentümlich heute Mittag von Mama zu hören, dass Deine Urne heute vom Krematorium zurückkam. Es hat eine Weile gedauert bis ich begriffen habe, was das bedeutet. Ich habe es in den letzten Tagen als Trost empfunden, Deinen Körper in einem kleinen Fach zu wissen, kalt und nicht mehr mein Papa, aber „begreif-bar“. Vor einer Woche konnte ich Dich noch berühren, streicheln, an Deiner Schulter weinen und Dich lieb haben, doch Du warst schon kalt und Dein Bewusstsein konnte mich nicht mehr spüren. Eine Woche davor konntest Du das noch, konnte ich mich noch von Dir verabschieden, bevor Du wieder schlafen wolltest. Nun ist Dein Körper Asche in einem Gefäß und mir wird so schmerzhaft deutlich, wie vergänglich und kostbar unser Leben ist. Wie kostbar Du mir warst. Und immer noch bist.
Ach Papa, es ist so egoistisch, dass ich mir wünsche, Dein Bewusstsein könnte noch eine kleine Weile hier bei uns verweilen. Damit Du mich noch hören kannst. Damit Mama nicht so allein ist und die Lücke die Du hinterlässt nicht so furchtbar groß.
Es ist so traurig, wenn Die Kinder nach Dir fragen und manchmal tut es weh. Seit drei Jahren begleite ich nun kranke und sterbende Menschen und zuweilen denke ich, dass dies nur eine Vorbereitung auf die jetzige Zeit war. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dabei stark bleiben kann, weil andere mich brauchen. Der Buddhismus gibt mir Kraft dabei, weil der mich die Vergänglichkeit gelehrt hat. Trotzdem kann ich Mama nichts von ihrem Kummer nehmen, und ich fühle mich dann so traurig. Es denken so viele Menschen an Dich! Viele unserer Freunde waren betroffen, auch jene, die Dich nur aus meinen Erzählungen kannten! Wir haben gemeinsam für Dich meditiert und ich weiß, dass dieser Segen Dich erreicht hat.
So viele Kleinigkeiten erinnern mich an Dich; ein Fußballspiel im Fernsehen, Deine Lieblingspralinen im Geschäft, ein Sofakissen und all die merkwürdig anmutenden Dinge, die jetzt nach Deinem Übergang zu erledigen sind. Wir haben eine Urne und Blumen für Dich ausgesucht, Mama und ich. Ich denke, es wird Dir gefallen, wir geben uns Mühe, dass nichts verlogen oder überkanditelt ist, so, wie es Dir wichtig war.
Lieber Papa,
neulich konnte ich nicht mehr weiterschreiben, so weit war ich noch nicht, daher will ich heute einen neuen Anlauf starten. Wir haben Sonntag, den 06. März, seit gut drei Wochen bist Du nicht mehr bei uns, zumindest nicht in der Form, wie wir Dich kannten und in den Arm nehmen konnten.
Ich weiß, dass Lama Ole für Dich am 21. Februar das Phowa gemacht hat, Dein Bewusstsein ist nun völlig rein und wach und ich weiß, dass Du auf uns alle acht gibst.
Aber all die Kleinigkeiten! Manchmal traue ich mich im Supermarkt nicht am Süßigkeiten-Regal vorbei, ich will Dir Pralinen und Marzipan mitbringen, doch wer kann sie jetzt noch essen?
Du glaubst nicht, wie tapfer Mama ist. Ich weiß es doch, wie toll eure Beziehung war, ihr seid immer mein Vorbild gewesen. Die Gemeinsamkeit ist nun fort, sie isst allein und beschäftigt sich, wir reden oft und sehen uns jede Woche, meistens zweimal. Du war jedoch ihre Liebe, die „zweite Hälfte“. Es tut so weh, es ist so schmerzhaft, erkennen zu müssen, dass man allein ist. Ich weiß ja, dass jeder Mensch allein ist, aber nun ist sie einsam und es wird lange dauern, bis sie nicht mehr so empfindet. Ich habe Sorge, dass sie noch kränker wird. Wenn ich ihr nur mehr Halt geben könnte! Lieber Papa, gib auf sie acht, sei bei ihr, gib ihr die Möglichkeit, Deine Anwesenheit zu spüren! Ich weiß, dass Du da bist.
Ich denke oft an meine Kindheit; als ich auf Deinem Schoß saß und von Deinem Teller aß. Ich glaube manchmal, dass ich nur das Gemüse und die Kartoffeln zermatscht habe, aber Du hast Dich nie beschwert! All die bemalten Bäuche und die Zöpfchen mit Bändern in Deinen Haaren! Wie Du uns beim Brettspiel zur Verzweiflung treiben konntest!
Mir fehlt Dein Anblick auf dem Sofa, wenn ich zu euch nach Hause komme, Dein Brote-Teller auf dem Esstisch neben dem verdammten Aschenbecher und der Zigarettengeruch in der Luft. Nun schaltet niemand mehr den Sportkanal ab und ich weiß immer, wer am Telefon ist, wenn ich bei euch anrufe.
Du fehlst mir so.
Jeden Morgen zünde ich in der Gompa ein Licht vor Deinem Foto an, sorge für frisches Rauchwerk und Blumen. Ich möchte das die ganzen sieben Wochen so praktizieren, auch wenn ich weiß (und glücklich darüber bin!) dass Du schon in den Reinen Ländern bist. Ich fühle mich so egoistisch – manchmal denke ich, es wäre leichter, wenn Du noch im Zwischenzustand wärst, auf dem Weg zur nächsten Wiedergeburt, dann könnte ich leichter Deinen Geist spüren und mit Dir reden! Nun bist Du so weit weg und ich kann Dich nicht mehr richtig wahrnehmen.
Die Beerdigung war seltsam. Wir holten noch die Backwaren vom Bäcker ab und fuhren zum Haupteingang und kamen dadurch zu spät. Ich wünsche mir, dass Du deswegen nicht verärgert warst, bin mir aber ziemlich sicher, dass Du auf diese Art gar nicht mehr wahrnehmen kannst und alles für Dich leicht und freudvoll ist.
Der Pater hielt eine schöne Predigt, ich denke, sie hat Dir gut gefallen! Mir ist nicht ganz klar, was ich von Deiner Schwester halten soll, aber ich traurig, dass sie ihre Trauer zur Schau stellt und sich dadurch der echten Trauerarbeit beraubt – wofür diese Show? Alle kondolenzten anschließend noch bei mir und Franziska – alle! Eigentlich wollten wir nur an Deiner Urne still noch einmal Abschied nehmen, aber alle, alle kamen und ich hielt sie alle in meinem Arm und alle weinten. Papa, Du warst so beliebt, Du warst ein Held für Willi und Berthold, das war mir so gar nicht klar, das hat mich sehr erschüttert. Ich konnte Onkel Herbert kaum beruhigen, ich hätte so gern mehr Zeit für alle gehabt. Es war ein bisschen wie bei der Arbeit, echte Gesprächsführung, dabei konnte ich selbst in diesem Augenblick gar nicht Profi und tapfer sein!
Ich gönne mir nicht viele Augenblicke in denen ich mich fallen lasse um um Dich zu weinen, ich denke immer, erst sind die anderen dran und ich will es den Kindern auch nicht so schwer machen.
Aber als am letzten Wochenende eines der kleinen Wachtelmädchen aus der Voliere in meinen Händen starb, kam die ganze Traurigkeit hoch und ich konnte nicht mehr aufhören und weinte und weinte. Ich weinte Franziskas Pullover voll und in Felix´ erschrockenes Gesicht und ich schämte mich deswegen und weinte noch mehr.
Ich weinte auf dem Weg in die Gompa und vor Deinem Foto, eine Stunde lang, bis keine Flüssigkeit mehr da war und meine Augen geschwollen. Und endlich hatte ich das Gefühl, den Verlust von Dir wahrnehmen und leben zu dürfen, die Bilder zuzulassen, von Dir im Krankenhaus, in Deinen Strümpfen und mit Sauerstoffmaske, hustend und so schwach und entmutigt, Dein kaltes, friedliches Gesicht eine Woche später mit den Händen, die mich nie mehr in den Arm nehmen können, die blaue Urne mit dem feinen Goldrand und den Traum vom 21. März, als Du frühmorgens an meinem Bett standest, in Deinen Krankenhaussachen mit den weißen Strümpfen und lächeltest, so frei und froh und glücklich und Dein Kuss war so kalt und Du hast Dich verabschiedet und sagtest, Du wolltest uns alle noch einmal sehen, aber nun, nun müsstest Du gehen und es ist nicht mehr viel Zeit.
Du streicheltest mir über die Haare und Deine Hand war genauso kalt. Dann warst Du fort.
Du bist fort, und nun muss es ohne Dich gehen. Es wird ohne Dich gehen, das Leben hört nicht auf, alles fließt, es geht immer weiter, und jedes Mal ein wenig schneller, und hektischer. Wir essen, schlafen, reden, arbeiten und die glücklichen von uns empfinden manchmal für eine begrenzte Zeit tiefe und aufrichtige Liebe zu einem ganz besonderen Menschen.
Du warst einer dieser Menschen, und jetzt ist unser Platz hier auf der Erde ohne Dich etwas leerer und kälter.
Lieber Papa, ich weiß, Du bist nicht verloren gegangen, Du bist noch da. In einem anderen Leben oder Bewusstsein wünsche ich mir, wieder in Deiner Nähe zu sein und Dich dann erkennen zu können als der, der Du immer für mich gewesen bist: mein lieber Vater, der mich gelehrt hat, nicht so schnell aufzugeben und durch tiefe innere Freude einen Menschen als kostbar zu erkennen und lange lieben zu können. Ich danke Dir so sehr.
Deine Tochter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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