Rudolf Geiser

Herzlichen Glückwunsch! (3)

Heute: Sie gratuliert einem befreundeten Bildhauer zum 50. Geburtstag.

 
Lieber Gero, liebe Freunde!
 
Wir sind heute in dein Atelier gekommen, um ein besonderes Ereignis zu feiern: 50 Jahre Gero Koethenstedt, doch ja, ein solides Ergebnis, aber 30 Jahre Steinmetz und Bildhauer, eine echte Sensation. Wir brauchen uns nur umzuschauen, hier stehen sie, die steinernen Zeugen einer außergewöhnlichen Begabung, formvollendete Skulpturen voller Anmut und Schönheit, geschaffen von einem genialen Künstler, den Freund zu nennen wir alle das besondere Privileg haben. Doch bevor mir nun Gero das Wort entzieht, weil seine Bescheidenheit nur ein bescheidenes Maß an Lobhudelei aushält, möchte ich kurz an einigen Stationen seines kreativen Werdegangs haltmachen, damit deutlich wird, wie aus dem kleinen Gero der Große werden konnte.
 
Beginnen wir im Sandkasten. Schon da und damals gab es erste Anzeichen für noch schlummerndes Talent. Während alle Mitkinder eifrig Sand in Förmchen und Eimerchen füllten, diese sodann umstürzten und das vorhersehbare Resultat stolz als Sandkuchen deklarierten, nahm unser Gero seine Schaufel fest in beide Händchen und modifizierte das infantile Backwerk, bis es seiner Vorstellung von Ästhetik einigermaßen genügte. Der Protest der kleinen Dilettanten um ihn herum störte ihn nicht, Gero ging seinen Weg unbeirrt und konsequent weiter.
 
Im Kindergarten kam er erstmalig mit einem Material in Berührung, das anders als Sand, eine akzeptable Synthese von Form- und Haltbarkeit versprach: Knetmasse. Bis zu seiner Einschulung entstand so eine unzählige Reihe von weiblichen, und zwar ausschließlich weiblichen Figuren, die freilich aufgrund des noch unterentwickelten Gespürs für natürliche Proportionen zumeist vornüber kippten. Erst mit 14 waren seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie so weit fortgeschritten, dass er, nun allerdings in Ton und Lehm, durchaus Standhaftes zustande brachte.
 
Während seiner Lehre als Steinmetz verdiente er sich etwas Geld hinzu, indem er Gipsbüsten von Bekannten und Verwandten anfertigte, und dies bereits in einer so frappanten Realistik, dass viele beim Anblick ihres Konterfeis in Tränen ausbrachen oder trockenen Auges zu röcheln begannen. Eine Tante mütterlicherseits, so wird kolportiert, sei sogar schwermütig geworden und später kopfüber von einer Rheinbrücke gesprungen. Dieser schöne Erfolg ermutigte den jungen Steinmetz, seinem latenten Wunsch, Bildhauer zu werden, endlich Rechnung zu tragen und sich an der Kunstakademie zu bewerben. Die nahm ihn mit Kusshand.
 
Von da an ging die Karriere stetig nach oben. Er hat vieles ausprobiert seitdem, er meißelte Abstraktes aus Sandstein oder Marmor und beitelte Konkretes aus Kalkstein und Granit. Tradition und Moderne wechselten stets einander ab, doch einem ist er kontinuierlich treu geblieben, nämlich dem eigentlichen Quell seiner Inspiration, dem weiblichen Körper. Unermüdlich schuf er Statue um Statue und, nach der Scheidung von Carola, Torso um Torso, und alles umweht ein Hauch von Genialität.
 
Lieber Gero, dass du trotz weltweiter Ausstellungen und höchster Ehrungen und Preise weiterhin fest auf dem Boden stehst, verdient unseren Respekt und unsere Sympathie. Du bist immer du selbst geblieben. Es gibt eine kleine Episode, die vortrefflich illustriert, was ich meine, und die ich am Schluss zum Besten geben möchte: Auf einer Vernissage wurde Gero einmal von der Kulturdezernentin gefragt: "Sagen Sie, mein lieber Koethenstedt, wie machen Sie es nur, wenn Sie aus einem Steinblock einen Löwen schaffen wollen?" Worauf dieser antwortete: "Gnädige Frau, ich haue einfach alles weg, was nicht nach Löwe aussieht."
 
Ja, liebe Freunde, so kennen wir ihn, so lieben wir ihn; unser Gero, er lebe hoch, hoch, hoch!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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