Matthias Ostermaier

Menschen sind Lichter

Er zog genüsslich an seinem halblangen Glimmstängel, das Leben war ihm ein Gräuel. Bald würde das
fressende Glühen zwischen seinen Fingern die spärlichen Härchen dort versengen und ihm signalisieren,
dass es Zeit war aufzuhören. Die Spitze seines Schuhs berührte gerade noch den Boden neben dem kalten
gusseisernen Fuß des Barhockers. Hier war alles schwarz. Wenn er es sich recht überlegte, so leuchteten
doch nur die trügerischen Glimmstängel hier, wie Glühwürmchen in der Nacht auf der Suche nach zweifelhaftem
Vergnügen. Lasterhölle, Tränental. Wenn irgend etwas geschähe heut, so würde er geloben das Rauchen aufzugeben.
Er wiegte sich in resignativer Sicherheit, während sein Blick über süßlich geformten Lippen in die Runde
schweifte. Gesäße lungerten halbherzig am Rand der kreisrunden Polster, unentschlossen. Er hatte ein solches
Gesäß, doch nun rutschte es ein Stück nach hinten.
Sein
linker Arm lehnte auf der Theke hinter ihm, was es ihm erleichterte,
seiner Wünsche Herr zu werden. Für gewöhnlich genügte es, die Hand
leicht anzuheben, Zeige- und Mittelfinger nach oben zu spreizen, um den
Fluss des gefälligen Gleitmittels nicht versiegen zu lassen. Virtuell,
wie ferngesteuert. Das kühle Äußere des schweren Fournierglases, hin
und wieder begleitet von Kostproben des überschwappenden Nass, meldete
den Sensoren der Hand schließlich frischen Nachschub. Dies war der
Moment, an dem er seinen Kopf seitwärts zu drehen pflegte. Schließlich
wäre es nur zu verdrüsslich gewesen, das Glas mit einer einzigen
ungeschickten Armbewegung hinwegzufegen.
Da richtete sich seine Wirbelsäule auf und Sternenregen stieg in sein Gewahrsein. Was war das? Ein Weihnachtsengel?
So ein Quatsch, das gibt es nicht. Und doch war es da.
Ein kleines weißgewandetes Mädchen tanzte sanft und unbeirrt aus Richtung Eingangstür durch den Raum, hinüber
zu ihm. Den Blick nach oben gewandt, umgeben von einem urtümlichen Strahlen, das alles andere noch konturloser
erschienen ließ, als es ohnehin schon war. Es schien wie entfesselt, ohne Schwermut, ohne Harm.
Er konnte das Aufbranden in seinem Herzen nicht verleugnen, als das Mädchen zielstrebig auf ihn zukam.
Die Welt herum versank, wurde schwarz, schwärzer als sie ohnehin schon war. Und doch blieb er selbst noch
hier, zusammen mit dem Mädchen.
"Du kannst dir deine Anrede sparen - ich weiß, dass du verwundert bist," sprach das Mädchen. Ihr funkelndes
Strahlen schien keinen Deut nachzugeben.
"Wer… wer bist du?" meinte er perplex.
"Ich bin, für was auch immer du mich halten willst. Ich schlage vor, dass du mich für eine Prinzessin hältst."
"Du… du bist also eine Prinzessin?" Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Kleine vor sich, immer noch
unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
"Prinzessin. Ja, kann man so sagen. Auch du bist von adeliger Abstammung."
Irgend etwas in ihm schien diesen Gedanken zu verwerfen, doch das war ihm nun gleichgültig.
"Du glaubst wohl," fuhr das Mädchen fort, "was du hier siehst, ist nicht wahr. Ich aber glaube,
dass dies hier wahrer ist, als alles, was du zuvor gesehen hast."
Sie trat einen Schritt zur Seite. Das, was ihr Lichtschein zuvor überstrahlt haben musste, war mit einem Mal
offenbar.
Was er sah, ist einfach zu beschreiben. Es waren schlichtweg weitere Lichter. Manche strahlten heller als andere,
manche waren größer als andere. Einfach nur strahlende Lichter in einem schwarzen Raum.
"Was du hier siehst," ergriff die Kleine das Wort, "sind die Menschen. Nur sie existieren wirklich.
Keine Glühwürmchen, keine Glimmstängel. Nur Menschen. Kinder des einen Bewusstseins."
Irgendwie schien er diese Worte aufzunehmen - irgendwie, nur nicht mit dem Kopf. Seine Gedanken waren
wie auf Eis gelegt. Er beobachtete gebannt das sanftmütige Treiben der schwebenden Lichter, die sich nach
einem nicht erkennbaren Muster von einander entfernten und wieder annäherten. Es schien Grüppchen von
Lichtern zu geben und manchmal auch welche, die wie einsam im Raum standen.
"Physische Entfernung existiert nicht, es gibt nur Liebe."
Erst da erkannte er ein hellstrahlendes Schwebelicht direkt neben ihm, das sich von hinten genähert hatte.
Da stieg es in ihm hoch. Lange Jahre hatte er nicht gewusst, dass soviel Liebe in ihm war. Und dass ihm so viel
Liebe zuteil wurde.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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