Karl-Heinz Fricke

Erinnerungen an 1944 (Zweiter Teil)

Erinnerungen an 1944 (Zweiter Teil)

 

Nachdem die Terrorbomber die Stadt Braunschweig, wie man damals sagte, total zur Sau gemacht hatten, hatten wir mit unseren Flakgeschützen nicht mehr viel zu verteidigen. An allen Fronten waren die deutschen Heeresverbände auf einem flüchtigen Rückmarsch. Nachdem Stalingrad gefallen war, und die dünnen deutschen Fronten den übermächtigen russischen Armeen nicht mehr viel entgegenzusetzen hatten, zeichnete sich die kommende deutsche Niederlage klar ab.

In unserer Stellung ging der Dienst jedoch noch weiter, obwohl man keine weiteren Bomben an die Stadt verschwendete. Einen der Kameraden nannten wir den Spinner. Ich glaube in jeder Gemeinschaft findet man solche Charaktere. Es war kein schlechter Kerl, aber er fiel uns oftmals

auf den Wecker mit seinen Gebaren und Sprüchen. Auf einer Nachtwache kam er ganz aufgeregt

in unsere Baracke und schrie, dass er an einem der Geschütze ein Klirren gehört habe. Er konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Das Klirren hätte er jedenfalls nicht überhört. Wenn es ein anderer Kamerad gewesen wäre, wären wir vielleicht alarmiert gewesen, aber vom Spinner waren wir ähnliches gewohnt und wir schliefen weiter.

Zwei Tage später mussten wir zum Übungsschießen mit dem Karabiner. Einen kleinen Laubwald, der an unsere Stellung grenzte, mussten wir durchqueren, um zu dem Schießstand zu gelangen. Plötzlich entdeckten wir einen wild aussehenden Mann, der nachdem er uns gesehen hatte Fersengeld gab. Wir schwärmten aus, verfolgten ihn und holten ihn ein. Es war ein Russe in einer zerschlissenen Bekleidung. Ein langer, ungepflegter Bart zierte ihn nicht besonders.Es war nicht zu übersehen, dass er immer in eine bestimmte Richtung schaute, und wir vermuteten, dass er möglicherweise einen oder mehrere Kameraden haben könnte.

Zwei Mann brachten den Kerl zur Stellung zurück und wir andern durchsuchten das kleine Gehölz.

Ein Kamerad stand plötzlich vor einer Erdgrube, in der ein weiterer Russe kauerte. Zuckerrüben lagen verstreut auf dem Boden und an der Grubenwand lehnte ein Spaten. Es war nicht irgendein Spaten, sondern er gehörte zu einem unserer Geschütze, und er hatte sicherlich das Klirren verursacht, dass der Spinner gehört hatte. Auch dieser Russe wurde zur Stellung zurückgebracht.

Einer unserer russischen Hiwis agierte als Dolmetscher und wir lernten, dass die beiden aus dem

Rüstungswerk in Salzgitter geflüchtet waren. Wir sperrten sie erst einmal in einem Holzschuppen.

Unsere Verpflegung bestand hauptsächlich aus Rotkohl, der in mehreren Essenskübeln zur Stellung gebracht wurde. Nachdem wir alle gegessen hatten und noch in einem Kübel ein großer Rest verblieben war, überließen wir ihn den beiden Gefangenen. Gierig griffen sie mit ihren Händen immer wieder zu. Hinterher hatte ein Kamerad die verrückte Idee aus den "Untermenschen" Menschen zu machen. Sie mussten sich waschen und hinterher wurden sie ihre Bärte los. Siehe da,

bis auf ihre schäbige Bekleidung sahen sie viel manierlicher aus. Diese menschlische Tat sollte allerdings noch ein Nachspiel haben. Unser Leutnant befand sich für Besprechungen in der Luftwaffenkaserne während der Zeit, und nachdem er Meldung erhalten hatte, dass wir zwei Russen gefangen hatten, rückte er mit einem Bildlicht Reporter an, der die beiden für Propagandazwecke

fotografieren sollte. Anstatt wilde, bärtige Gestalten vorzufinden, schauten sie in zwei gepflegte Gesichter. Daraufhin verzichteten sie auf eine Reportage. Am nächsten Tage erschien ein Soldat,

der die beiden Russen zur Luftwaffenkaserne brachte. Über das weitere Schicksal der beiden wurde nichts weiter bekannt.

Die Besprechungen, an denen sich unser Leutnant beteiligen musste, behandelten unseren Stellungswechsel. Wir empfanden es als Erleichterung, dass es nicht zum Osten, sondern zum Westen ging. Als die Geschütze auf flache Waggons verladen worden waren stiegen auch wir in

die dritte Klasse Abteile mit den senffarbenen Holzbänken. Der Ort unserer neuen Stellung wurde

uns nicht mitgeteilt, wir rechneten aber damit in Feindnähe der anrückenden Westalliierten zu kommen, da die Flakgeschütze auch für den Erdkampf geeignet waren.

Gegen Abend des ersten Tages erreichten wir die westfälische Stadt Löhne, die als Bahnknotenpunkt bekannt ist. Man rangierte unseren Zug auf ein Nebengleis. Wahrscheinlich war unsere Mission nicht so wichtig, denn dort standen wir für die nächsten zwei Tage ohne Verpflegung. Nur Wasser wurde herangeschafft. Während der Hunger nagte, sassen wir den Rest das Abends und der langen Nacht auf den harten Bänken. An normalen Schlaf war natürlich nicht zu denken. Gegen Abend des zweiten Tages wurde es einem Kameraden zu bunt. Er sagte, er wolle sich mal umschauen, ob er etwas Essbares auftreiben könne. Nach einer halben Stunde kam er mit der Botschaft zurück, dass er pfündig geworden sei. Er hatte von zwei abgestellten Güterwaggons die Plomben entfernt.Der erste hatte Fahrräder geladen, die nicht sehr bekömmlich sind. Im zweiten jedoch lagerten Kunsthonig in kleinen Behältern und Kandis Zucker. Ohne Aufsehen zu erregen schlichen wir uns einzeln zu dem Waggon und füllten unsere Brotbeutel.

Zwei Kameraden und ich waren auch nicht willens noch eine ungemütliche Nacht auf den harten Bänken zu verbringen. Wir fanden einen Güterwagen, dessen Boden mit etwas Stroh belegt war.

Wir zogen unsere dicken Wachmäntel an und streckten uns aus. Als ich erfrischt am Morgen erwachte, fand ich im Mantel ein paar Löcher vor. Auch die Mäuse des Dritten Reiches nagten am Hungertuche.

Am nächsten Tage setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Man es vollkommen ignoriert uns zu verpflegen, und wir lebten nur von den Süßigkeiten, die wir ergattert hatten. Am Abend des vierten Tages hielten wir an einem Bahnhof. Wir waren in der Stadt Nordhorn im Emsland und es hieß dort auszusteigen.

Der Oktober war gerade angebrochen und es regnete in Strömen. Als die drei Geschütze endlich auf der Straße standen, wunderten wir uns, wo die Pferde blieben, um die Geschütze zu ziehen. Diese waren auf Lafetten festgezurrt, die Gummiräder hatten. Schließlich wurde der Befehl erteilt uns auf die Geschütze zu verteilen und im Mannschaftszug schoben und zogen wir die Kanonen auf der Landstraße nach Nordosten. Nach etwa einer Stunde waren wir völlig durchnässt. Es ging nur langsam vorwärts und wir waren der Erschöpfung nahe. Wenn es jedoch heißt du musst, dann geht es auch weiter. Nach weiteren zwei Stunden, nun nach Mitternacht, hieß es plötzlich: Halt.

An der rechten Straßenseite führte ein Feldweg in eine Heidelandschaft mit Erikapflanzen und vereinzelten Birken.Es kostete gewaltige Kraftanstrengungen die Geschütze auf dem verschlammten Weg vorwärts zu bewegen aber zu unserem Glück tauchten nach wenigen Minuten drei große Holzstapel vor uns auf und ein rechteckiges Wellblechgebäude. Das Gebäude, ein sogenannter Ottokoffer, war die Behausung des Leutnant, und die drei Holzstapel waren Teile unserer Unterkünfte, die wir allerdings erst zusammensetzen mussten. Müde, nass und hungrig machten wir uns ans Werk. Zuerst schaufelten wir etwa 12 Zentimeter das Erdreich kreisförmig ab und fügten die Teile der sogenannten Finnenzelte zusammen. An der anderen Seite der Straße war unser Tross auf der Domäne Klausheide untergebracht. Zwei Kameraden wurde befohlen Stroh heranzuschaffen, das uns als Unterlage in den Zelten dienen sollte. Gegen vier Uhr morgens war es endlich soweit, dass wir uns in unseren nassen Uniformen hinlegen konnten und trotz alles Umstände vor völliger Erschöpfung einschliefen. Es ist unglaublich was ein junger Körper auszuhalten imstande ist.

Gegen 10 Uhr morgens wurden wir geweckt. Zu unserer großen Überraschung war das Grundwasser in die Ausschachtung gedrungen und wir lagen auf dem nassen Stroh. Für eine weitere Stunde schaufelten wir das entnommene Erdreich wieder auf den Boden der Zelte und neues Stroh wurde herangeschafft. Endlich gegen Mittag bekamen wir das erste warme Essen in Form einer Suppe, auf der sogar ein paar Speckstückchen schwammen.

Normalerweise wurden die Flakgeschütze etwa einen Meter tief ins Erdreich gestellt. Das Grundwasser verhinderte solches Unterfangen jedoch, und der Leutnant enschied zuerst einen Birkenzaun um jedes Geschütz zu bauen, und dann einen Erdwall dagegen zu schaufeln. Eine an sich gute Lösung. Der Umstand war jedoch der, dass wir aus Tarnungsgründen die Erde aus einer etwas hundert Meter Entfernung heranbringen mussten. Ein Bauernwagen mit Seitenwänden und einer langen Deichsel wurde uns von der Domäne zur Verfügung gestellt und die Pferde waren wieder wir.

Diese Aktion, das Erdreich heranzuschaffen war mit vielen Problemen verbunden, denn wir schmächtige, immer hungrige Jungens hatten einfach nicht die Kraft den beladenen Wagen durch den Schlamm zu bewegen. Neben der täglichen Suppe, bekam ein jeder drei Schnitten Graubrot mit einem Klecks Margarine und etwas Leberwurst. An dieser Menüfolge änderte sich nichts. Am ersten Tag schafften wir sieben Fuhren, am zweiten Tage fünf und am dritten Tage nur vier. Es war nicht ermutigend, dass der Birkenzaun eines der Geschütze erst zu einem Drittel angeschaufelt war. Am vierten Tage desertierten drei Kameraden. Wir sahen sie nie wieder. Nun sah man ein, dass wir es unmöglich schaffen konnten das restliche Erdreich für die Wälle heranzuschaffen, zumal es fast täglich regnete.

Die Geschütze waren zwar feuerbereit, aber es herrschte Feuerverbot, weil ein getarnter naher Feldflughafen nicht preisgegeben werden durfte. Angeschossene feindliche Bomber, Rauchfahnen nach sich ziehend, hätten wir mit Leichtigkeit vom Himmel holen können.

Am fünften Tage tauchte zu unserer Überraschung ein Trupp russischer Gefangener auf, der von einem Gefreiten aus Frankfurt bewacht wurde. Dieser ein richtiger Dreikäsehoch hatte einen Flaum auf der Oberlippe. Sein Beutekarabiner überragte ihn um etliches. Er schien auch ein Spaßvogel zu sein. Wenn er nicht pfiff, sang er stets:" Haben Sie schon gehört der Papst in Rom ist tot, alle Katholiken sind in großer Not, doch sie könn’ sich freu’n, denn sie haben schon einen Neu’n". Die Russen schienen ihn nicht für voll zu nehmen, wenn er sie herumkommandierte, und das sollte für einen der Russen böse ausgehen.

Obwohl die Gefangenen auch nur eine ähnliche Verpflegung wie wir erhielten, schafften sie jedoch in den ersten Tagen das ihnen auferlegte Arbeitspensum und die Wälle begannen Form anzunehmen. Es hatte auch an einigen Tagen nicht geregnet und die Arbeit ging etwas flotter voran. Dann setzten plötzlich wieder heftige Regenfälle ein, und die Arbeit verlangsamte sich wieder. Als das Tagessoll an einem der Tage noch nicht erreicht worden war, weigerten sich die Russen weiter zu arbeiten. DerGefreite fuchtelte mit seinem Karabiner drohend herum, aber die Russen rührten sich nicht. Als er den Wortführer der Zehn aufforderte die anderen zur Arbeit anzutreiben, gab dieser ihm einen Stoß vor die Brust und der Knirps saß im Dreck. Sekunden später fiel ein Schuß und der Russe tot zusammen. Aus dem Fenster seiner Wellblechbude brachte der Leutnant den tödlichen Kopfschuß an. Ein Soldat der deutschen Wehrmacht war tätlich angegriffen worden.Nun waren die restlichen Neun bereit weiter zu arbeiten und schafften noch das vorgeschriebene Pensum.

Gegen Mitte November wurden zwei Holzbaracken angefahren, die die drei Finnenzelte ersetzten. Es war empfindlich nasskalt und einige Kameraden wurden ihre Erkältungen nicht los. Doppelstöckige Betten zimmerten wir uns aus Birkenstämmen. Strohlagen bildeten die Matratzen und die Zeltplane das Bettlaken. Unangenehm war es jede zweite Nacht draußen Posten schieben zu müssen. Um im Bett warm zu werden, legten wir uns nackt unter die doppelt gefaltete Wolldecke, und das nächtliche Aufstehung war nicht angenehm, da das Feuer im Eisenofen längst ausgegangen war.

Der Spinner sorgte wieder einmal für Aufregung als er auf Posten in völliger Dunkelheit plötzlich Schüsse abgab. Wir stürzten hinaus und dachten die Amerikaner wären schon da. Er meldete dem Leutnant, dass er Geräusche gehört, und dreimal gerufen habe. Als keine Antwort erfolgte, hätte er geschossen. Bei Tageslicht fanden wir die Ursache für die Geräusche. In einem nahen Busch hingen einige Staniolstreifen, die feindliche Flugzeuge regelmäßig abwarfen, um den Funk zu stören. An anderer Kamerad erschoß eine streunende Kuh, die natürlich auch dem Warnruf keine Folge leistete.

Wir klagten immer die schwere Suppenkanne, die wir abwechselnd von der Domäne zur Stellung schleppen mussten. Ein Kamerad aus Braunschweig, namens Schmidt, erklärte, dass mache ihm gar nichts aus und er erbot sich, die Suppe jeden Tag zu holen. Er war für ein Schlitzohr bekannt, aber wir dachten uns nichts weiter dabei und waren froh, die lästige Schlepperei nicht mehr machen zu müssen. Nach einigen Tagen fiel es auf, dass die Suppe immer dünner wurde, und auch kein Speck mehr oben drauf schwamm. Als sich ein Kamerad beim Koch darüber beschwerte, war dieser sehr aufgebracht und beteuerte, dass den Suppen nach wie vor Margarine und Speck beigegeben würde.

Ein hässlicher Verdacht entstand. Sollte Schmidt etwa den Speck herunterlöffeln? Es musste Klarheit geschaffen werden. Der Weg zur Domäne führte an einen dichten Schlehenbusch vorbei. Da versteckten sich zwei Kameraden. Als Schmidt mit dem Suppenkübel ankam, setzte er ihn vor dem Busch nieder, nahm den Deckel ab, zog einen Löffel aus der Tasche und fischte die Speckstücke heraus und verzehrte sie. Entsetzt schaute er auf die beiden Kameraden, die ihn auf frischer Tat erwischt hatten. Zuerst verprügelten sie ihn und dann musste er die Kanne weiter zur Stellung schleppen. Anschließend flog er im hohen Bogen in die Grube über die der Donnerbalken lag. (Siehe Gedicht: " Der freiwillige Suppenholer")

Ich konnte mein Glück nicht fassen, als es gegen Ende Januar 1945 plötzlich hieß, dass alle Luftwaffenhelfer entweder entlassen, oder von der Luftwaffe übernommen würden. Diejenigen Kameraden, deren Heimatort von den Feinden noch nicht eingenommen war, wurden nach Hause entlassen, und die anderen blieben als Flaksoldaten in der Stellung. Ich war genau an meinem Geburtstag, dem 2. Februar zu Hause. Wie ich später erfuhr, wurden die in der Stellung verbliebenen Kameraden von den anrückenden Amerikanern völlig aufgerieben.

Bei der Entlassung wurde mir gesagt, ich würde in den nächsten Tagen den Stellungsbefehl für die Wehrmacht bekommen. Wiederum hatte ich gewaltiges Glück, dass man mich wahrscheinlich vergessen hatte, so sah ich anfangs Mai die amerikanischen Panzer anrollen. Die Stadtväter waren ihnen mit weißen Fahnen entgegengangen, und so blieb meine tausendjährige schöne Heimatstadt Goslar von der Vernichtung verschont.

Karl-Heinz Fricke 04.05.2006

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