Uwe Timm

Allergien

In letzter Zeit frage ich mich immer wieder, wie es dazu gekommen ist, daß so viele Menschen an Allergien leiden. Wird das menschliche Immun-System von Generation zu Generation schlechter? Oder haben wir unsere Umwelt schon so weit verändert, das wir Menschen uns nicht mehr an diese anpassen können? Reagiert unser Körper auf die von uns verseuchte Welt mit Allergien?

Warum mache ich mir eigentlich solche Gedanken, mir geht es gut. Ich bin ein gesunder Mann mittleren Alters, der sich eigentlich nicht beklagen kann. Und doch, diese Allergien beunruhigen mich. Ist es nicht schön, den Duft frisch gemähten Grases einer Wiese einzuatmen, das dann in der Sonne allmählich vertrocknet. Ist es nicht herrlich, sich rücklings in dieses Heu hineinzulegen, den angenehmen Duft einzuatmen und dabei den ziehenden Wolken am Himmel zuzusehen. Und doch gibt es genug Menschen, denen diese schönen Augenblicke verwehrt bleiben, weil sie eine Allergie haben...

Wenn ich es mir genau überlege, mache ich mir diese Gedanken eigentlich erst seit diesem One-Night-Stand mit der Unbekannten, die eines Tages in meiner Stammkneipe auftauchte. Ich saß wie immer am Tresen und trank mein wohlverdientes Feierabend-Bier. Da öffnete sich die Eingangstür und diese Frau kam herein und setzte sich auf den einzig freien Barhocker neben mich. Sie bestellte ein Bier, und fragte mich, nachdem sie in ihrer Handtasche herumgekramt hatte, nach Feuer für ihre Zigarette. Ich bin zwar nicht gerade der gesprächige Typ, wenn ich von der Arbeit auf einen Sprung in diese Kneipe komme, denn eigentlich will ich nur abschalten und mein Bier trinken, doch diese Frau schaffte es, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn ich genau über den Inhalt des Gesprächs nachdenke, fällt es mir heute nicht mehr ein. Komisch, dabei sind seitdem erst zwei Wochen vergangen und ich vergesse normalerweise nie so schnell etwas. Ich weiß nicht einmal mehr, wie diese Frau ausgesehen hat, aber sie muß gut ausgesehen haben, denn sonst wäre ich wohl kaum mit ihr zu mir nach Hause gegangen und hätte mit ihr geschlafen. Denn daran erinnere ich mich noch, jedenfalls zum Teil. Nach dem Sex ist sie ohne ein Wort wieder verschwunden. Sie hat sich einfach wieder angezogen und ist einfach so gegangen.

Im Nachhinein eine wirklich seltsame Begebenheit. Am nächsten Morgen als der Wecker klingelte und ich schlaftrunken im Bad in den Spiegel schaute, bemerkte ich diese kleine rote Stelle an meiner Unterlippe zum ersten Mal. Ich dachte nur, Mist, wieder einer dieser kleinen Pickel. Doch in den nächsten Tagen wurde aus diesem kleinen roten Pickel eine große eitrige nässende Stelle. Was auch immer es war, es juckte und wurde nicht besser. So ging ich also zu einer Apotheke, um mir irgendetwas gegen diese unansehnliche Stelle zu besorgen. Die Apothekerin meinte, es wäre Herpes, und gab mir eine Salbe. Ich benutzte in den nächsten Tagen die Salbe, wie auf der Packungsbeilage beschrieben, doch ich sah keine Besserung. Ganz im Gegenteil, die eitrige und nässende Stelle wurde nur noch größer und bedeckte mittlerweile die ganze rechte untere Hälfte meines Kinns. Ich traute mich mit dieser Verunstaltung nicht mehr aus dem Haus.

Wie ich schon sagte, sind seit der Zufallsbekanntschaft erst zwei Wochen vergangen, mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es ein Zufall war, denn wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich unterhalb meiner Nase eigentlich nichts mehr von meinem ehemaligen Gesicht, außer diesem eitrigen Geschwür. Mein Mund ist zwar nicht verschwunden, aber wenn ich ihn unter Schmerzen öffne, sehe ich nur noch eine blutige, rotgelbe überwucherte Kraterlandschaft, selbst meine Zunge und Zähne sind mit diesem Zeug überzogen. In der letzten Woche habe ich keine Nahrung zu mir genommen, getrunken habe ich nur noch Wasser aus einem Glas mit einem Strohhalm, damit die Schmerzen nicht so groß sind. Trotzdem fühlte ich mich nicht ausgemergelt oder schwach. Seltsamerweise war ich auch nicht mehr richtig müde und schlief kaum noch. Meinen Job habe ich einfach vergessen, auf meinem Anrufbeantworter waren zwar mehrere Nachrichten von der Firma, aber wie sollte ich denen erklären, was los ist... Da mir das Öffnen des Mundes sowieso schwer fiel und ich ausser gurgelnden zischelnden Lauten sowieso nichts herausbrachte, konnte ich das natürlich vergessen.

Als ich heute Morgen nach wenigen Stunden Schlaf in den Spiegel schaute, traute ich meinen Augen nicht; es kam mir so vor, als ob das Geschwür etwas kleiner wurde und irgendwie austrocknete, denn an mehreren Stellen am Kinn konnte ich so etwas wie Schorf bei Wunden entdecken. Sollte es das Schicksal doch noch gut mit mir meinen? Ja und Nein! Denn in den nächsten Tagen heilte dieses Geschwür zwar immer mehr ab, doch dafür glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, als ich mir meine Mundhöhle ansah. Meine Zunge war zu einer schmalen gespaltenen reptilienartigen Zunge verkümmert, die unruhig hin und herzuckte. Meine oberen Schneidezähne waren gewachsen und liefen jetzt spitz zu, wie bei einer Schlange.

Jetzt waren drei Wochen seit diesem seltsamen Treffen vergangen und mein Mund und mein Kinn waren wieder vollständig abgeheilt, keine Spur mehr von dieser üblen eitrigen Stelle. Ich fühlte mich wirklich gut, bis auf diesen unbändigen Hunger. Mein Magen knurrte, was ja auch kein Wunder war, nach etwa zwei Wochen ohne Nahrung. Ich ging also das erste Mal seit langem wieder vor die Tür nach draußen. Ich hatte noch etwas Bargeld und ging also schnurstracks zum nächsten Supermarkt und kaufte ein. Als ich dann in meiner Wohnung endlich meinen Hunger stillen konnte, schlief ich satt und zufrieden auf dem Sofa ein. Doch nur eine halbe Stunde später wachte ich mit Magenschmerzen und Übelkeit auf, ich schaffte es gerade noch bis zum Bad und kotzte alles vor kurzem zu mir Genommene wieder aus. Was war nur los mit mir? Erschöpft schlurfte ich zurück zum Sofa und legte mich wieder hin.

Am späten Abend erwachte ich, hungriger als zuvor. Ich dachte daran, etwas zu Essen, verwarf den Gedanken aber wieder, denn ich wollte mich nicht schon wieder übergeben. Dann kam mir der Gedanke, einfach einmal wieder in meiner Stammkneipe vorbeizuschauen, es war zwar nicht die übliche Zeit für mich, aber was soll’s? Also machte ich mich auf den Weg. Ich nahm eine Abkürzung durch eine dunkle Gasse, als es passierte. Mir kamen zwei finstere Gestalten entgegen, denen ich am liebsten nicht begegnet wäre, denn dann hätte ich vielleicht nie erfahren, was mit mir los war, doch jetzt wusste ich es. Die beiden dachten, sie hätten leichtes Spiel mit mir, doch sie waren an den falschen geraten: Dem ersten der beiden, der etwas größer war als der andere und eine kurze Eisenstange in der rechten Hand hielt, brach ich mit zwei kurzen Handgriffen das Genick. Der Kleinere wollte, nachdem er registriert hatte, was mit seinem Kumpel passierte, fliehen, doch mit drei kurzen Sätzen war ich bei ihm, hielt ihn mit Leichtigkeit fest, obwohl er sich mit Händen und Füßen wehrte, und biß ihm in seine Halsschlagader. Sein Blut spritzte in meinen Rachen und ich schluckte den warmen Strahl gierig hinunter und ließ ihn dann langsam auf den Boden sacken. Dort saugte ich ihn komplett leer, während er mich mit einem starren Blick des Entsetzens anschaute. In meine Stammkneipe bin ich dann nicht mehr gegangen...

Uwe Timm

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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