Franz Preitler

Konstantin

 
 
 
Ich kann genau den Tag benennen, an dem die Geschichte von Konstantin begonnen hat.
 
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, es war ein hektischer Montagmorgen im Mai. Völlig aufgelöst rannte ich aus meiner Wohnung. Ich hatte verschlafen, was mir selten passierte, da ich bis dato dachte meine Arbeit wäre das Wichtigste in meinem Leben.
 
Eben an diesem Morgen begegnete mir ein junger Mann im Treppenhaus. Er war dunkelhaarig, schmalgesichtig und wirkte ein wenig distanziert auf mich. Sein Blick und sein verzaubertes Lächeln haben mir vom ersten Moment an gefallen und so dankte ich ihm freundlich, als er mich grüßte und mir die Haustüre aufhielt. Er wirkte wie ein Sonnenstrahl am frühen Tag und es wurde hell im dunklen Hauseingang, als ich ihn ansah.
 
Er war ein gut aussehender Typ, der einen entzückenden Bizeps hatte, auf dem sich die Ader wie eine schmale Schlange wand. Er hatte einen tollen Mund und dunkelblaue Augen und mir wurde wieder einmal klar, dass ich immer noch auf Äußerlichkeiten achtete.
 
Jedoch heute, am 24. Dezember, also sieben Monate später, wo fast alle Menschen gemütlich beim Abendessen sitzen und im Kreise ihrer Familie Weihnachten feiern, denke ich nicht mehr so. Es ist alles irgendwie ganz anders geworden, mein Leben hat sich gewandelt und das einzige, was für mich jetzt zählt, ist Liebe.
 
Ich habe im Verlauf dieser letzten Monate erkennen müssen, dass es viel wichtiger ist, für einen Menschen Zeit und Liebe aufzubringen, als sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Ich habe auch immer alles zu sehr aus meiner Perspektive gesehen und bin sehr oft über den Dingen gestanden, wenn ich keine Gefühle zeigen wollte. Heute weiß ich, wir sind nur Werkzeuge einer größeren Macht und niemand ist alleine, wenn er liebt und geliebt wird. Das allein ist ein Segen.
 
Behutsam halte ich die schmale Hand von Konstantin; wie weich und sanft sie sich anfühlt. Ich streichle sie vorsichtig und weiß, dass ich diese Hand für immer loslassen muss. Konstantins Augen sind geschlossen und mit seinem zarten, jugendlichen Gesicht sieht er aus wie ein Engel, der darauf wartet, wieder in den Himmel aufgenommen zu werden. Wir haben sehr viel darüber gesprochen und ich spüre, dass Konstantin in diesem Moment stirbt. Es ist wie eine geheime Abstimmung zwischen uns beiden, als er aufhört zu atmen.
 
Auge in Auge mit dem Nichts stelle ich fest, dass sein ganzes Sein verstummt und ich dabei eine Erleichterung empfinde, obwohl mein Herz dabei bricht.
Ich bin davon überzeugt, dass er es versteht, als ich ihn noch einmal zärtlich küsse und leiste flüstere: „Ich liebe dich, mein Freund!“
Wie ein alter Freund schenke ich ihm nach all den Schmerzen der Verachtung, die ihm zugefügt worden sind, Liebe und Geborgenheit.
 
Gemeinsam haben wir auf diesen Augenblick gewartet und nun sitze ich am Krankenbett von Konstantin und weiß nicht mehr was mein Leben ohne ihn ist und wer ich bin. Ich schaue zum Fenster hinaus, sehe die weißen Schneeflocken an das Fenster fallen, als wollten sie mit mir über den Anfang und das Ende des Lebens nachdenken. Ich habe das Gefühl, als würde meine Hand sein Innerstes berühren.
 
Das Neonlicht im Zimmer wirkt kaltblau und wirft lange Schatten. Das große Fenster neben seinem Bett übt eine Art magische Anziehungskraft aus und ich muss ständig hinsehen, wie es immer mehr zu schneien beginnt.
 
Ein leichter Wind weht die Schneeflocken durcheinander, sie wirken unruhig und nervös, als wären sie die vielen langen Stunden so wie ich am Krankenbett gewesen und hätten leise zugehört, wie Konstantin aus seinem traurigen Leben erzählt hat.
 
Wie er von seiner Familie verstoßen und abgewiesen, sogar vor die Haustüre gesetzt worden war. Wie er seinen Job verlor und ihm die sonst so gut gesinnten Freunde den Rücken zu kehrten.
Wie sehr Konstantin unter dieser Verachtung gelitten und es sich nicht anmerken hat lassen und auch nur mit mir darüber sprechen konnte, sah man ihm nicht an.
 
Die weißen Flocken sammeln sich am Fenster und nehmen gemeinsam mit mir von Konstantin Abschied. Sie sind genauso wunderschön anzusehen wie er und werden auch schmelzen, so wie sein Leben dahin schmilzt und zu Ende geht. Ich verspüre nun dieses eisige Gefühl der Schneeflocken und den Tod, der sich mit seiner Kälte leise im Krankenzimmer ausbreitet.
 
Es ist ruhig geworden im Krankenhaus. Man hört keine Stimmen mehr auf den Gängen, nur leise Weihnachtsmusik klingt von irgendwo her. Ich stehe auf, halte Konstantins Hand noch in meiner und läute nach der Krankenschwester, damit sie kommt, um den Sauerstoff abzuschalten.
 
Es kommt mir alles so unwirklich vor und ich stelle mich an das Fenster und bedanke mich bei den Schneeflocken für ihren treuen Beistand während der letzten Stunden und langsam werden wieder alle schönen und traurigen Erinnerungen an die letzten Monate in mir wach.
 
Ich versinke in den Erinnerungen an die einzigartigen Monate mit Konstantin, welche  die schönsten meines Lebens sein werden und sie laufen wie ein Film vor meinen Augen ab. Diese vergängliche Zeit beginnt sich auszudehnen und ich bin unendlich dankbar für diese großartige Liebe, von der ich von Anfang an gewusst habe, dass sie keine Zukunft haben wird, als ich mich darauf eingelassen habe.

Das Thema Aids, wird immer öfter wieder vergessen. Die Kurzgeschichte, von der hier ein Teil zu lesen ist, befasst sich mit diesem Thema, auch mit Verachtung und dem Leid aufgrund der Krankheit. Mehr davon auf http://www.words4you.atFranz Preitler, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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