Egon Tenert

Die Farbe des Jazz

 

 

 

In meiner Jugend hatte ich so viele große Städte besucht, doch eine Stadt, für mich die Stadt aller Städte, wartete noch auf mich: New York City, “The Big Apple“, wie sie von den Amerikanern genannt wird, berühmt und berüchtigt zugleich, extrem in jeder Hinsicht.

Nun war ich endlich hier: Wie eine Faust schlug mir die heiße, schwüle Luft entgegen, als ich die klimatisierte Halle des JFK Airport verließ. Der Bus, der mich und meine Begleiter zum Hotel brachte, war mit Graffitis besprüht und bis auf den letzten Platz gefüllt; an meine Nase drangen Gerüche, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte, und der Schweiß rann mir in Strömen über das Gesicht. Die Radiomusik, die aus den Lautsprechern plärrte, schien nur aus Geräuschen und Sprachfetzen zu bestehen, die mich eher an den Lärm in der Montagehalle einer Fabrik als an Klänge aus einem Tonstudio oder Konzertsaal erinnerten. “Techno“, “Hip-Hop“, “Rap“, “House“ oder “Scratch“ nannte man das wohl jetzt, doch obwohl ich bislang fast allen modernen Trends etwas abgewonnen hatte, konnte ich mich für diese Art von Kunst, die mir eher als ein akustisches Abfallprodukt, als musikalischer Sperrmüll mit kurzer Lebensdauer erschien, beim besten Willen nicht erwärmen. „Schwarze“ Musik, und darum handelte es sich hier eindeutig, hatte mir fast immer besonders gut gefallen; schwarze Musiker waren für mich immer die Garantie für gute Musik gewesen, sei es nun  Blues oder Soul, Reggae oder Jazz, da sie zumeist nicht nur in die Beine ging und sich gut zum Tanzen eignete, sondern auch mit größter Intensität Gefühle ausdrückte und vermittelte, und gegen die „weiße“ Musik oft doch sehr fade und oberflächlich wirkte. Hier in NYC, wo man alles kaufen konnte und noch dazu so billig, wollte ich meine Plattensammlung um Raritäten und Leckerbissen erweitern, die ich zu Hause nie und nimmer gefunden hätte. Tatsächlich wurde ich bald fündig; Zeile um Zeile konnte ich von meiner Wunschliste streichen, meine Taschen wurden immer schwerer und meine Geldbörse immer leichter. Trotzdem konnte ich noch immer nicht genug von dieser Stadt bekommen, die mir auch bei der ärgsten Hitze noch „cool“ erschien, in deren Atmosphäre ich mich fühlte wie ein Fisch im Wasser, als ob ich schon immer hier gelebt hätte. Es war jedoch ganz anders, die als Kulissen unzähliger Filme so vertrauten Straßen nicht mehr mit den Augen von Kojak oder Woody Allen, sondern aus meiner eigenen Perspektive zu erleben. Ich verließ die großen Geschäftsstraßen und streifte – ganz gegen die gutgemeinten Ratschläge meiner Freunde – durch die stilleren Seitengassen von Chinatown, Little Italy, Greenwich Village. Wie auf allen meinen Reisen wollte ich die Stadt zu Fuß „erobern“; nur so, nicht von Taxis oder Bussen aus konnte man eine Stadt und ihre Einwohner wirklich kennenlernen, dachte ich. Wie einen Wallfahrtsort steuerte ich das Dakota Building an, jenes berühmt-berüchtigte Gebäude, in dem Polanski „Rosemaries Baby“ gedreht hatte, in dem sich angeblich schon auffallend viele Selbstmorde ereignet haben sollen und in dem John Lennon gelebt hatte und ermordet worden war. Die Fassade war mir aus Filmen und Fernsehreportagen wohl vertraut, doch als ich direkt davorstand und zu dieser architektonischen Legende aufschaute, fühlte ich die sinistren Schwingungen, die von diesem düsteren, eher europäisch als amerikanisch anmutenden Gemäuer ausgingen. Ich ging zu dem Portier, der neben seinem Häuschen in der Toreinfahrt stand. “Excuse me, sir! Where did it happen?“ Der Mann schaute mir kurz in die Augen, dann deutete er stumm auf eine Stelle etwa drei Meter entfernt von uns. Ich blieb noch eine Weile stehen und dachte daran, wie mich die fröhlichen Lieder dieses toten Mannes durch meine Kindheit und Jugend begleitet hatten, wie ich sie mir immer und immer wieder angehört hatte,  bis ich jedes einzelne Wort verstehen und mir merken konnte, und daß ich ihm viel mehr verdankte, als mit dem Taschengeld, das ich für seine Platten ausgegeben hatte, zu entgelten war. Um meine Eindrücke zu verarbeiten und mich zu entspannen, wollte ich nun durch den nahe gelegenen Central Park streifen, der zwar bei Tageslicht ein recht idyllischer Ort sein mag, den aber selbst ich bei Nacht nicht allein durchqueren würde – jedenfalls nicht unbewaffnet. Als ich den Park am anderen Ende verließ, hatte sich die Szenerie deutlich verändert. Je weiter nach Norden ich kam, um so schäbiger und schmutziger wurden die Wohnviertel, um so ärmlicher die Kleidung der Leute, um so mehr Farbige sah ich auf der Straße. Offenbar war ich – jedoch ohne den “A-Train“ zu nehmen, wie es der “Duke“ empfohlen hatte – nach Harlem geraten. Plötzlich hörte ich – leise und verschwommen, durch den Lärm des Straßenverkehrs und aus einiger Entfernung – eine Melodie, gespielt auf einem Saxophon. Ich ging den Klängen nach und sah an einer Ecke einen etwa dreißigjährigen, völlig kahlen, aber dafür mit einem dichten Vollbart geschmückten Farbigen, der auf einem alten, verbeulten Tenorsaxophon „Giant Steps“ von John Coltrane spielte, eine meiner Lieblingskompositionen dieses leider viel zu früh verstorbenen Jazzgiganten, den ich sehr bewundere und von dem ich schon viele Platten besitze. Auch hatte ich noch vor einer halben Stunde eine langgesuchte seltene Aufnahme eines seiner Konzerte in einem kleinen Plattenladen im Village gekauft. Wie selbstverständlich blieb ich vor dem Straßenmusikanten stehen, schaute wie gebannt auf die geschickten Bewegungen seiner langen, schlanken Finger und lauschte verzückt den Tönen, die dem Trichter seines Instruments entwichen, ganz die Welt um mich vergessend, auch die anderen Zuhörer, die rund um den Musiker an der Ecke standen. Erst als das Stück zu Ende war, bemerkte ich plötzlich, daß ich nicht nur der einzige Ausländer, sondern auch der einzige Weiße im Publikum war. Schwarze Gesichter blickten mich finster und drohend mit großen Augen an, und mir war, als könnte ich ihre Gedanken lesen: “Hey white boy, what ya doin´ uptown?“ Mir wurde ein bißchen mulmig, ich dachte an die Warnungen meiner Freunde und überlegte schon, ob ich mich nicht so schnell wie möglich von hier verdrücken und in die relativ „sicheren“ Hauptstraßen Manhattans zurückkehren sollte, entschied mich dann aber doch zu bleiben. Wenigstens hatte ich meine Kamera nicht dabei, und meine alten, ausgebeulten Jeans, die ausgelatschten Tennisschuhe und das zerknitterte und verwaschenen T-Shirt ließen wohl auch keinen feinen reichen Pinkel in mir vermuten. Als ich meine Geldbörse zückte und eine Dollarnote in den Instrumentenkoffer fallen ließ, in dem schon einige kleine Münzen lagen, sprach mich auf einmal mein Nachbar zur Linken, ein Riese, der für jedes Basketball-Team eine Verstärkung gewesen wäre, an: “Yo, man - you like our music?“ Ich hatte oft gehört, daß New Yorker mit Touristen nicht redeten, sondern sie zumeist einfach ignorierten. Auch die Verkäufer in den Geschäften waren nicht gerade gesprächig gewesen, und ich hatte kaum Gelegenheit gehabt, mich mit jemandem auf Englisch zu unterhalten, obwohl gerade dies für mich Reisen ins Ausland besonders interessant machte. Ich blickte auf, schaute meinem Nachbarn gerade ins Gesicht und sagte mit rauher Stimme und einem Akzent, der mir dieser Situation angemessen schien, “I don´t like it, man – I love it!“

Ich kramte in dem prall gefüllten Plastikbeutel und zog schließlich stolz die Platte von Coltrane hervor und hielt sie ihm unter die Nase. “D´ya know this one? He was a real genius!“ Er nahm sie, begutachtete sie eingehend und zeigte sie dem Mann neben ihm, der anerkennend nickte, mit Daumen und Zeigefinger einen Ring bildete, eine Geste, die anscheinend positiv gemeint war. Die finsteren Gesichter schienen sich langsam aufzuhellen, und bald war eine lebendige und fachmännische Diskussion im Gange, welche Platten von Coltrane wohl die besten und interessantesten wären und welche der heutigen Musiker er am stärksten beeinflußt hätte. Mit einem Mal war ich vom mißtrauisch beäugten Außenseiter zum akzeptierten und respektierten Gesprächspartner geworden; unsere Hautfarbe und Herkunft schien keine Rolle mehr zu spielen. Als ich mich nach zwei weiteren Stücken auf den Weg machte, weil ich am Times Square mit einem Freund verabredet war, hielten mir sogar zwei der Männer die nach oben offene Hand hin, in die ich nach amerikanischer Sitte einschlug. “Yo, man, take care! Have a nice day!“ riefen sie mir nach, und als ich um die Ecke bog, hörte ich noch immer leise das Saxophon spielen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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In meinen Gedichten, schreibe ich mir meine eigene Realität, meine Träume auch wenn sie oft surreal, meistens abstakt wirken. Schreiben bedingt auch meine Sprache, meine Denkmechanismen mein Gefühl für das Jetzt der Zeit.

Ich vernehme mich selbst, ich höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Die Sprache ist dabei meine Helfershelferin und Komplizin, wenn es darum geht, mir die Wirklichkeit vom Leib zu halten. Wenn ich mein erzähltes Ich beschreibe, beeinflusse, beschneide, möchte ich begreifen, wissen, welche Ursachen Einflüsse bestimmte Dinge und Menschen auf mein Inneres auf meine Handlung nehmen, wie sie sich integrieren bzw. verworfen werden um mich dennoch im Gleichgewicht halten können.

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