Sammeltaxis gibt es rund um die Welt in zahlreichen Ländern. In Kenya und Tanzania heißen sie „matatu“ und sind das wichtigste öffentliche Transportmittel. Ohne sie geht im täglichen Leben so gut wie gar nichts und möchte man als Reisender Land und Leute hautnah (durchaus wörtlich gemeint) kennen lernen, wird man um die eine oder andere Fahrt nicht herumkommen. Ich weiß nicht, wie oft ich mittlerweile das „Vergnügen“ hatte, aber immer, wenn ich mich an jenem Punkt angelangt wähnte, an dem einen nichts mehr aus der Ruhe bringen kann, wurde ich früher oder später eines besseren belehrt. Nicht selten war ein Matatu dabei im Spiel …Doch ich greife vorweg. Was genau ist eigentlich ein „Matatu“, was hat man sich darunter vorzustellen, was macht es so besonders?
„Matatu“ leitet sich von dem Swahiliwort „tatu“ für „drei“ ab und bezieht sich wahrscheinlich auf den einstigen Einheitspreis von drei Shillingen für eine Fahrt. Andere Interpretationen übersetzen den Namen freier und mit zynischem Unterton, etwa mit „drei passen immer noch rein …“ oder „auf drei Rädern holpert es daher …“. Sie lassen bereits vermuten, dass eine Matatufahrt nicht immer ein Genuss und das Gefährt in punkto Sicherheit nicht gerade auf dem neuesten Stand ist.
Vom Erscheinungsbild kann man sich ein typisches Matatu vorstellen wie einen klapprigen, staubig-rostigen Pickup, auf dessen Ladefläche eine Fahrgastzelle (ja, „Zelle“ passt in dem Zusammenhang ganz gut) montiert ist, in welcher sich zwei einander gegenüber liegende Sitzbänke befinden. Typisch sind aufgeklebte Sprüche wie „Jesus loves you“ oder „Don’t worry, your miracle is on the way“ – dezente Hinweise darauf, dass unerschütterliches Gottvertrauen und blinder Optimismus hier durchaus nicht fehl am Platze sind.
Wären Matatus in Europa erlaubt, würde man wohl maximal zu viert auf einer dieser Sitzbänke Platz nehmen. In Afrika ist das anders: Zu viert auf einer Bank, das ist ein seltener Luxus, Wunschdenken, eigentlich schon Frevel. Zu fünft ist es doch auch komfortabel! Und sechs passen noch locker nebeneinander – na ja, für europäische Verhältnisse gerade noch so, man ist sich inzwischen körperlich doch recht nahe gekommen. Aber jetzt reicht’s dann! Das Matatu ist doch jetzt wirklich voll … oder? Aber anscheinend ist es das aus afrikanischer Sicht längst noch nicht, denn es steigen weitere Fahrgäste zu. Ab fünfzehn (sechs pro Bank, drei gebückt in der Mitte stehend) beginnt es allmählich interessant zu werden. Ab zwanzig geht’s an die Substanz: Beckenknochen werden zusammengepresst, Schultern zusammengefaltet, man ringt nach Atem. Ein fremdes Baby oder ein Huhn auf dem Schoß, ein Gepäckstück, das Gewicht eines Mitreisenden oder eine Ziege auf dem Fuß sind nichts Ungewöhnliches. Wie lautet der Spruch noch mal? – Ach ja: „Drei passen immer noch rein …“ – na dann, hakuna matata* …
Die übliche Crew eines Matatus besteht aus einem Fahrer und einem oder zwei Schleppern. Letztere stehen oder hängen meist irgendwie an der stets geöffneten Hintertüre der Fahrgastzelle. Ihr Job besteht darin, Fahrgäste anzuwerben, dem Fahrer die entsprechenden Zeichen zum Anhalten oder Weiterfahren zu geben und nicht zuletzt, das Fahrgeld zu kassieren. Die Konkurrenz ist groß und die Matatu-Schlepper sind nicht zimperlich: Im Kampf um Kundschaft kann es schon mal vorkommen, dass Fahrgäste geradezu zwangsrekrutiert werden. Einmal beobachtete ich aus dem Innern eines voll (also irgendwo zwischen „interessant“ und „an die Substanz gehend“) besetzten Matatus, wie die beiden Schlepper ein altes Männlein, das zwei Hühner in einer Tragetasche bei sich trug, nach kurzer Diskussion unter den Armen packten und ihn, seine Proteste ignorierend, noch zu uns herein pressten. Irgendwie wird’s schon gut gehen, hakuna matata. Man rückt sich hemmungslos auf den Pelz, diskutiert im Fahren lautstark und ausgiebig den Fahrpreis - zeternd, feilschend, lamentierend - doch letztendlich scheint keiner böse zu sein. Schließlich fügt man sich demütig in sein Schicksal und wartet ergeben auf das erlösende Klopfzeichen, das ankündigt, dass jemand aussteigen möchte. Doch das Entkommen aus einem voll besetzten Matatu ist auch nicht gerade einfach, vor allem für die weniger sportlich veranlagten unter den Fahrgästen. Es erfordert schon einiges an Biegsamkeit und Körperbeherrschung, um über die vielen, scheinbar untrennbar miteinander verwobenen Leiber zu klettern. Oder ganz einfach nur weniger Skrupel. Körperkontakte unter Fremden sind in Afrika schließlich etwas völlig Normales. Einmal war ich aber doch etwas irritiert, als ich während der Fahrt immer wieder spürte, wie mir von hinten in die Haare gefasst und daran gezogen wurde. Ich wandte mich um und sah in das Gesicht der Übeltäterin, deren schuldbewusstes Lächeln meine Verärgerung sofort zunichte machte. „Your hair is so soft. Soft sana*“, sagte sie entschuldigend. Die Afrikanerin hatte lediglich mein europäisches, glattes Haar fühlen wollen - wie konnte ich ihr deswegen böse sein, zumal ich anfangs selbst oft versucht gewesen bin, über die kurz geschorenen Köpfe der Kinder zu fahren, um die ungewohnte, angenehme Härte ihrer Haarbüschel zu spüren.
Die zahlreichen Stopps der Matatus sind die Stunde der fliegenden Händler, die frisches Obst oder Gemüse anbieten. Kaum steht das Gefährt, fassen auch schon ein halbes Dutzend Hände durch die Fenster, die notfalls auch dreist von außen aufgeschoben werden, und es wird einem ermunternd auf die Schulter oder sonst wohin geklopft. Ja, eine Mango oder eine Ananas käme jetzt bestimmt gut. Aber wie gelangt man derart zusammen gepresst bloß an sein Geld? Und wie soll man die Frucht in diesem Gedränge überhaupt essen, ohne sich und andere dabei zu bekleckern? Die Afrikaner sind da geschickter und zum sofortigen Verzehr kaufen sie sich auch lieber ein paar Bananen, die kleckern nicht und ihre Schale kann man prima durchs offene Fenster hinauswerfen. Auf der Straße lauern schon die Ziegen und im Nu ist der vermeintliche Müll entsorgt.
Auch größere Käufe durch ein Matatu-Fenster sind unterwegs durchaus üblich, selbst wenn dies ein paar zusätzliche Tüten, Kartons oder Säcke bedeutet, die auch noch irgendwie verstaut werden müssen – drei passen schließlich immer noch rein oder oben drauf, oder wie war das doch gleich? Je nachdem, wo im Land man sich befindet, genügt es den Matatu-Schleppern ohnehin nicht, das Wageninnere gnadenlos mit Menschenmaterial voll zu stopfen, nein: Auch das Dach muss erst meterhoch mit Gepäckstücken, Kisten, Säcken, Bananenstauden und Zuckerrohr beladen sein, bevor losgefahren wird. Ist das Beladen dann irgendwann endlich, endlich – ganz polepole* natürlich … - abgeschlossen, muss womöglich nur noch eben mal der Fahrer gesucht, Öl nachgefüllt, voll getankt und zum letzten Mal um den Preis gefeilscht werden, und schon kann die Fahrt losgehen. In Kitale habe ich es einmal erlebt, dass dieser Prozess sage und schreibe vier Stunden gedauert hat. Es war zugleich die unrühmlichste Matatufahrt meines Lebens, wie ich leicht beschämt gestehen muss: Noch nicht mal auf dem halben Weg nach Maralal gab ich auf und ließ mich unter hämischem Grinsen meiner afrikanischen Mitreisenden mitten im Nirgendwo absetzen. Ja, dem mzungu* war es zu viel geworden. Und es war mir in diesem Moment weder peinlich, das Fenster als Notausstieg zu benutzen, noch, mich wegen meines Rucksacks, der irgendwo unter einem riesigen Gepäckberg auf dem Dach begraben lag, mit der wütenden Crew anzulegen. In Asien hätten wir wohl allesamt das Gesicht verloren. Aber Afrika ist anders. Und früher oder später wird man selbst beim Matatufahren gelassener, nachdem die individuellen Grenzen der Belastbarkeit und Leidensfähigkeit in unendliche Weiten gerückt sind. Hakuna matata.
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Swahili-Wörter:
hakuna matata – kein Problem
polepole – langsam; nur mit der Ruhe
sana – sehr
mzungu – Weißer; Europäer
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Silke Bork, 2006
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.06.2006.
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