Klaus-D. Heid

24 Stunden

„Was...“ denke ich mir in meinem stillen Kämmerlein, „...kann mir heute noch schlimmes passieren? Nachdem ich einen Finger gebrochen, den Wagen zu Schrott gefahren und meine Frau mit dem Postboten in flagranti erwischt habe, müsste doch eigentlich das Maß des Unglücks voll sein, oder?“. Tatsächlich habe ich an diesem Tag mehr Nackenschläge erhalten, als an allen vorangegangenen Tagen dieses Jahres. Heute ist der 16. Dezember 2001. Heute ist der Tag, an dem ich hoffe, dass er endet, ohne mir noch weiteres Unglück zu bescheren. Was sollte auch noch passieren? Der Schmerz, der von meinem gebrochenen Finger ausging, wurde lediglich von dem Schmerz übertroffen, den mir der Anblick meiner Frau bereitete, die ausgelassen und vergnügt quiekend, vom Postboten vernascht wurde. Dass auch mein nagelneuer Mercedes aussieht, als hätte man ihn aus einer Schrottpresse gezogen, ist dagegen ein lächerliches Übel. Blechschäden lassen sich irgendwie reparieren. Gebrochene Finger lassen sich schienen. Risse im Herzen können allerdings – wenn überhaupt – nur sehr schwer verheilen!

Warum, in aller Welt, musste sich Verena auch unbedingt in unserem Schlafzimmer mit diesem schleimigen Hungerhaken von Postkasper abgeben? Konnte sie sich nicht denken, dass mir der Anblick einer splitternackten Ehefrau, die auf einem ebenso nackten Postboten ritt, der lediglich noch seine Postmütze trug, seelischen Schaden zufügte? Und was machte meine liebe Verena, als sie mich in der Schlafzimmertür stehend, bemerkte? Versuchte sie sich, total geschockt über meine Anwesenheit, schnell die Bettdecke über den Körper zu ziehen? Schrie und bettelte sie, dass das alles nur ein erklärbarer Irrtum sei? Bekam sie knallrote Ohren, weil sie es mit genau jenem Typ Mann trieb, den sie immer ‚potthässlich’ und ‚ekelerregend’ klassifizierte?

Denkste! Verena dachte gar nicht daran, ihren Ritt wegen mir zu unterbrechen. Im Gegenteil! Sie strahlte mich mit einem völlig lustdurchtriebenen Grinsen an und stöhnte: „Der ist tausendmal besser als Du, Schatz! Sieh nur, wie groß der ist...!“. Das hat sie gesagt. Als ich heulend und jammernd die Schlafzimmertüre hinter mir zuzog, hörte ich Verena noch immer stöhnen und jubeln.

Außer mir vor Ärger und Frust, setzte ich mich in meinen neuen Mercedes. Natürlich übersah ich an der ersten Kreuzung den Ford, der bei Grün über die Ampel fuhr. Ich überquerte die Ampel nämlich bei Rot – und stieß infolge meiner Dämlichkeit mit dem Ford zusammen. Den Finger brach ich mir nicht bei dem Unfall, sondern bei meinem Versuch, dem Fahrer des Ford ins Gesicht zu schlagen. Hätte ich geahnt, dass es sich bei dem Fahrer um einen ehemaligen Schwergewichtsmeister im Boxen handelt, wäre ich vielleicht weniger aggressiv aufgetreten.

Das alles ist heute passiert. Mittlerweile ist es 14 Uhr 12 Minuten. Der Tag ist noch lange nicht zu zuende. Verena hat inzwischen ihre Sachen gepackt und ist wohl zu dem hässlichen Briefträger mit dem mordsmäßigen Penis gezogen. Meinen Schrottwagen habe ich abschleppen lassen – und meinen Finger habe ich im städtischen Klinikum gipsen lassen. Und jetzt sitze ich wie ein jämmerlicher Haufen Elend im Wohnzimmer meines Hauses und starre wie ein geisteskranker Tiger auf die Zeiger der Wohnzimmeruhr.

Tick Tack. Tick Tack…

Wenn ich mich nicht bewege, kann eigentlich nichts dramatisches mehr passieren. Wenn ich ganz still auf meinem Sessel sitze, müsste ich den Tag hinter mich bringen können, ohne weitere Desaster zu erleben.

„Ein bisschen fernsehen könnte nicht schaden...“ sage ich mir und schalte die Kiste mit der Fernbedienung ein. Der Knall, den die folgende Implosion auslöste, reißt mich fast vom Sessel und nur mit viel Glück bohren sich die Scherben der Mattscheibe unterhalb meiner Augen ins Gesicht. Als ich, nach einer Schrecksekunde von etwa dreißig Minuten, wieder zu Bewusstsein komme, steht Verena vor mir.

„Ich hasse Dich, Du Schlappschwanz...!“ brüllt sie und richtet den Lauf einer Pistole auf meine Brust. Als sie abdrückt, verspüre ich einen brennenden Schmerz. Ich verliere erneut das Bewusstsein.

Es ist 19 Uhr und 10 Minuten, als ich in das Gesicht einer Frau im weißen Kittel blicke.

„Sie hatten Glück im Unglück! Der Streifschuss wird nur noch ein paar Tage wehtun und dann ist wieder alles in Ordnung! Wie fühlen Sie sich denn jetzt?“

Auf eigenen Wunsch verließ ich das Krankenhaus um exakt 22 Uhr 08 Minuten. Zu Fuß. Noch im Krankenhaus hatte ich die Polizei gebeten, mich anderntags wegen meiner Aussage zu vernehmen.

Tick Tack. Tick Tack…

14 Minuten später attackierten mich drei wild aussehende Typen, die scharf auf den Inhalt meiner Geldbörse waren. Weitere 10 Minuten später sah ich wieder in das Gesicht der Frau in weiß.

„Sie hatten Glück im Unglück!“

Und so weiter und so weiter...

Das Taxi, das mich um 23.12 Uhr nach Hause fahren sollte, blieb wegen eines Motorschadens, etwa 10 Kilometer von meinem Haus entfernt, stehen. Der Herzanfall des Taxifahrers rundete den heutigen Tag so richtig schön ab. Andererseits war der Tag ja auch noch nicht vorüber.

Da ich dem Taxifahrer unterstellte, tot zu sein, spielte ich solange an seinem Funkgerät herum, bis sich endlich eine Stimme meldete:

„Polizei-Notruf. Was können wir für sie tun...?“

Man verhaftete mich um 23 Uhr 43. Offenbar hatten die Beamten ebenfalls einen lausigen Tag hinter sich, denn sie missverstanden mein klägliches Jammern als körperliche Bedrohung.

Erschossen wurde ich um 23 Uhr 59. Ein Scheißtag. Ehrlich.

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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