Brigitta Firmenich

Auflösung

Schon immer war ich sparsam. Antrainiertes Verhalten von Kindesbeinen an. Das bedeutet, dass ich Dinge aufhebe, die ich vielleicht irgendwann noch mal brauchen kann. Etwas krumme Nägel, die man ja mal gerade klopfen kann, wenn kein gescheiterer Nagel mehr da sein sollte, was natürlich nie vorkommt, weil der Inhalt der Nagel- und Schraubenkästchen wahrscheinlich noch bis zur übernächsten Generation ausreichen wird, ein angelaufenes, versilbertes Teesieb mit Untertellerchen, das ich noch nie benutzt habe, alte Hämmer, bei denen das altersschwache Holz der Stiele durchgebrochen ist, Schuhe, in die ich mich mal verguckt hatte, aber selten anhatte, weil entweder die Gelegenheit fehlte oder sie nicht zur gängigen Mode passten usw.. Und so stapeln sich überall im Haus Dinge, die selten oder gar nicht gebraucht werden, und die, wenn man sie dann doch brauchen will, ihren Dienst versagen, weil sie irgendwann den Weg alles Irdischen gehen müssen. Von einer solchen Erfahrung ist dieser Bericht.
Fronleichnam. Wir wollten zum Pfarrfest. Das Wetter war etwas wechselhaft, ich wusste nicht so genau, was ich eigentlich anziehen sollte. So wechselte  ich wetterbewusst innerhalb einer halben Stunde dreimal meine Kleidung. Endlich war ich so angezogen, dass ich mir gefiel. Und ich freute mich auf die Begegnung mit Nachbarn und lieben Bekannten, die sich dort genau wie wir zum Mittagessen oder zu Kaffee und Kuchen dort einfinden würden. Es war inzwischen schön warm draußen, aber ab und zu regnete es. Bei der Wahl der Schuhe begann die Unentschlossenheit von vorne. Sollte ich wirklich geschlossene Schuhe anziehen? Nur wegen dem bisschen Regen? Ne, sagte ich mir, die kann ich noch im Herbst anziehen. Aber Sandalen? Wenn es richtig gießen würde, hätte ich klatschnasse Füße. Und wenn die dann eiskalt würden, hätte ich sicher gleich wieder einen Schnupfen. Also sah ich im alten Schuhschrank nach, welcher Schatz dort noch verborgen sein würde. Und siehe da, ich fand genau die richtigen Schuhe. Nicht zu offen, nicht zu geschlossen, und in einer Farbe, die genau zu meiner Kleidung und zur Handtasche passte. Super! Ich war begeistert. Wieso hatte ich die guten Schuhe nur so ewig nicht mehr angehabt? Wann hatte ich sie gekauft? Vor neun Jahren, als Werner in Kur in Bad Säckingen war und ich ihn besuchen fuhr. Tatsächlich, wie die Zeit vergeht! Egal, sie sahen gut aus und waren durchaus noch modern mit ihrem Korkabsatz. Ich war ganz begeistert und schwärmte Werner vor, wie bequem die Schuhe wären und dass der Korkabsatz so schön abfedern würde bei jedem Schritt. Wir machten uns also zu Fuß auf zum Pfarrfest. Es waren nur wenige Schritte. Wir waren kaum auf der anderen Straßenseite, als ich glaubte, das Fersenriemchen sei doch etwas zu locker. Ich blieb stehen und verkürzte den Lederriemen. Nach ein paar Schritten blieb ich wieder stehen, weil es mir noch immer zu locker vorkam. Dabei guckte meine dicke Zehe schon ziemlich aus dem Loch an der Schuhspitze raus. Komisch, sagte ich zu Werner, die Schuhe sehen so breit aus. Doch schnell hatten wir den Innenhof erreicht, auf dem sich Tische, Bänke, Stände und Menschen befanden und suchten uns einen Sitzplatz, damit wir uns dem Mittagessen widmen könnten. Wir hatten gleich Glück, konnten bei Nachbarn am Tisch Platz nehmen. Ein nettes Gespräch gab das andere, die Zeit verflog, und die Leute gingen allmählich zum Kuchenessen über. Ich bot an, auch ein paar Stücke zu holen und machte mich auf den Weg. Irgendwie hatte ich an den Füßen ein seltsames Gefühl, traute mich nicht, die Füße richtig hochzuheben und schlurfte wie eine alte Oma mit den Sohlen über den Boden. Mit meinem Kuchenpaket schlurfte ich wieder zu Werner zurück und sah zum ersten Mal meine Schuhe richtig an und war richtig erschüttert. So etwas hatte ich noch nicht gesehen, dachte ich. Doch dann fiel mir ein, dass ich bereits einmal die Erfahrung gemacht hatte, dass sich von alten Wanderschuhen (15 Jahre alt und kaum getragen) die Sohlen verabschiedet hatten, ausgerechnet, als wir auf La Palma zum ersten Mal in der Caldera wandern wollten. Hier wie da hatte sich das Oberleder beider Schuhe bis auf eine winzige Stelle von der Sohle gelöst, hier war zusätzlich der Kork des Absatzes zerbrochen und bröselte. Das, was so bequem nachgegeben hatte, war wohl der Beginn des Zerfalls gewesen, und das, das wie eine Naht ausgesehen hatte, war wohl nur Täuschung gewesen. Ich vermutete, dass das Oberleder lediglich an die Sohle angeklebt worden war. Und der Kleber hatte sich nun wohl im Laufe der paar Jahre aufgelöst. Jedenfalls war es einfach unmöglich, die wenigen Schritte bis nach Hause mit diesen Schuhen zu gehen. Zum Glück hatte die Sonne inzwischen jede Spur vom Regen getrocknet. Die Gehwege waren trocken und ich entschloss mich, den restlichen Weg nach Hause lieber barfuss zu gehen. Der nächste Abfalleimer wurde zur letzten Ruhestätte für meine schönen Schuhe.
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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